Abenteuer Via Francigena

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Das schreckliche Essen
13. Mai 2008: Arras - Bapaume

Auf meinem Tablett steht eine dicke Tasse voll Kakao. Daneben liegen zwei Baguette. Zwei verschiedene Sorten Marmelade stehen mitten auf dem Tisch der Jugendherberge. Es ist 7.15 Uhr. Draussen sind leider die ersten Wolken aufgezogen. Ich hoffe, dass sie von der Sonne weggebrannt werden. Regen kann ich nicht gebrauchen. Nach dem Frühstück suche ich den Busbahnhof auf. Eine nette Dame, die perfekt Deutsch spricht, merkt, dass ich Verständigungsprobleme habe. Um nicht mehrere Kilometer vom Marktplatz bis zum Stadtrand zwischen den Autos und Menschen entlang wandern zu müssen, möchte mit dem Bus bis Beaurains fährt. Ab da möchte ich wieder wandern.

Der Bus bringt mich bis zur Endstation, die an einem Kreisverkehr liegt. Dort suche ich mir meine kleine Strasse, die D 36, die Richtung Mercatel gen Süden verläuft. Sie Strasse führt an einem Kriegsgräber-Friedhof für englische Gefallene vorbei. Sehe ihn mir an.

Auf der D 36 erreiche ich Erwillers und bestelle mir in einer Brasserie das Menü zu acht Euro und fünfzig Cent. Von hier kann ich mit meinem Handy keine Übernachtung buchen, bekomme keinen Empfang. Die Wirtin sagt mir, dass der andere Gast aber eben mit seinem Handy telefonierte. Also funktioniert mein Handy nicht, vorhin die Telefonzelle aber auch nicht. Hier sitze ich auf dem Mond. Und der Frass, den mir die Wirtin ziemlich spät vorsetzt, ist schrecklich. Ich reklamiere gleich, dass es nicht das Menü sei, das ich bestellt habe. Die Wirtin guckt mich mit einem abweisenden und kalten Gesicht an und sagt, dass sie nichts anderes für mich habe. Auf meinem Teller liegen: Pommes und Hähnchenkeule samt Baguette. Die Keule besteht innen nur aus schwarzem Blut. Auch riecht sie unangenehm. Pfui Teufel, noch mal! Das esse ich nicht! Nur die beiden grossen Gläser mit der Mischung aus Zitronen-Sirup mit Leitungswasser und Eiswürfeln schmecken lecker. Aus Verzweiflung brocke ich mein Baguette in die Zitronen-Limonade und esse dieses.

Nun wandere ich weiter nach Bapaume. Während Bauern mit grossen Maschinen Kartoffeln setzen, segeln neben der Strasse Schmetterlinge verschiedener Arten von Blüte zu Blüte. In Achiet-le-Grand sehe ich die nächste Telefonzelle und versuche, mein heutiges Nachtquartier zu bestellen. Tatsächlich funktioniert sie. Am Ende meiner Tagesetappe befinde ich mich in dem Hotel „Le Gourmet" in Bapaume.

Hatte heute früh meine Schuhe besonders locker zugebunden, auch oben und überall, damit Luft hineinkommt und meine Füsse nicht schwitzen können. Es ist mein Erfolgsrezept: Die Strümpfe sind heute nach der Wanderung total trocken!

Und die Stelle an meinem rechten Zeh schmerzt auch nicht. Sie heilt wohl ab. Ich muss früh genug meine Zehnägel kurz feilen. Nach dem Duschen ziehe ich meine Flip-Flops an die Füsse und gehe hinunter zu einem PC-Geschäft. Dort sollen drei Computer stehen, an denen man Emails schreiben kann. Langsam weiss ich, wo auf dieser eigenartigen Tastatur die Buchstaben sitzen. Ich komme mir hier in Frankreich vor wie ein Schreibmaschinenanfänger. Das Schreiben dauert dementsprechend viel länger. Aber ich kann alle meine Emails lesen und beantworten, auch wenn es heute eine ganze Stunde dauert. Zurück in meinem Hotel weiss ich auch, weshalb mein Handy nicht mehr wollte. Es hat gar keinen Saft mehr! Na, dann ist das auch gar kein Wunder. An der Steckdose hängen die Kabel des Akkus meiner Kamera und meines Handys.

Habe mit meinem Mann Klaus in Kiel telefoniert. Er berichtet mir, dass in Schleswig-Holstein die Eisheiligen mit zehn Grad Celsius Kälte herrschen. Er fährt demnächst mit Gepäckbegleitung auf Fahrradtour. Was gibt es sonst Neues? Ich bin glücklich und zufrieden. Nur die Unterkünfte sind zu teuer.

Vorbei an Soldaten-Friedhöfen
14. Mai 2008: Bapaume - Peronne

Mit meiner Gymnastik knete ich gerade in meinem Hotel meinen Körper durch. Die Schultern haben sich schon an den schweren Rucksack gewöhnt - und die Füsse? Jedenfalls schmerzen sie nicht. Und heute werde ich das Patent, dass die Schnürbänder nicht so richtig strammgezogen werden, sondern sehr locker sitzen, fortsetzen. Wenn ich alles in meinem Rucksack verstaut habe, gehe ich hinunter zum Frühstück und setze anschliessend meinen Pilgerweg fort. Es sieht so aus, als würden wir wieder einen wunderschönen, heissen Tag bekommen. Heiss ist toll. Das stört mich nicht.

Bin schon unterwegs. Gerade läuft mir eine junge Frau über den Weg, lächelt mich so nett an und fragt, wohin ich möchte.

„Nach Rom."

„Vive le Papa!" Das heisst: Es lebe der Papst.

Die Strasse aus Bapaume ist laut meiner Landkarte die N 17. Hier heisst sie N 917. Vorsichtshalber erkundige ich mich bei einem Busfahrer, der gerade mit seinem Fahrzeug starten will, ob ich hier richtig bin und zeige ihm meine Landkarte. Er bestätigt es mir und klärt mich darüber auf, dass ich bis Peronne noch fünfzehn Kilometer zu wandern habe. Dieses ist eine sehr befahrene Strasse, obgleich sich in einiger Entfernung eine Autobahn befindet und hoffe, dass später weniger Verkehr auf der N 917 rollt. Eine andere, stillere gibt es nicht.

Während ich das Amrumer Friesenlied "Dü min Tüs ...." singe, schrecke ich unter einer Brücke zusammen. Denn über mir rauscht die Eisenbahn mit lautem Getöse hinweg. Nun gehe ich unter der zweiten Brücke hindurch. Ich wünschte, die Autos würden auf der Autobahn fahren. Na ja, auf mich haben sie bis jetzt immer Rücksicht genommen. Heute sind in meinem Liederprogramm lauter Heimatlieder dran, die ich vor mich hinschmettere. Habe so den Hang danach. Und während ich singe, sehe ich vor mir im Geist meinen Vater am Klavier sitzen. Seine Finger gleiten spielend über die Tasten. Er singt lauthals mit. Er hat mir soooo viel Gutes beigebracht. Ohne ihn würde es dieses Brauchtum unserer wunderschönen Heimatlieder in meinem Kopf gar nicht geben. Ein Kloss steckt mir plötzlich im Hals. Er fehlt mir so. Tränen füllen meine Augen.

Träumend wandere ich weiter und komme an weiteren Soldatenfriedhöfen vorbei. Auf einem Hinweisschild nach Peron lese ich, dass ich noch fünfzehn Kilometer zu wandern habe. Eine Stunde bin ich schon unterwegs. Das sind zusätzliche vier Kilometer. Also wandere ich heute zwanzig Kilometer. Ab Le Transloy fahren nur noch wenige Autos auf der Strasse. Zwischen sauber angelegten Kartoffelfeldern setze ich als "Chaussee-Hase" meinen Weg weiter gen Süden fort.

So komme ich nach insgesamt acht Kilometern das Department La Somme. Kurz vor Sailly-Saillisel überholt mich ein Lastkraftwagen und hält an. Der Kraftfahrer fragt mich, wie er am besten nach Rouen kommen kann. Das kann ich ihm aber auch nicht verraten, weil ich aus Deutschland bin und nach Rom wandere. Als er das hört, macht er ganz grosse Augen und kann den Mund nicht wieder zumachen. Irgendwie begreift er es aber, lächelt mich scheu an, wünscht mir eine gute Tour, gibt wieder Gas und düst weiter. Ich glaube, er war nur neugierig, was ich hier auf der Strasse mit dem grossen Rucksack auf dem Rücken mache. Ein Trecker mit Anhänger voller Zuckerrüben rattert an mir vorbei. Hat er sie aus einer Miete geholt? Noch können ja keine neuen gewachsen sein.

Komme gerade zu einer Tankstelle und Autowerkstatt, auf dessen Vorplatz quer ein Lastkraftwagen steht. Unter ihm aalt sich in seinem Schatten lang ausgestreckt eine Katze. Ich komme dichter heran. Der Lastkraftwagen-Fahrer steigt in sein Führerhaus. Die Katze weiss Bescheid, springt auf und flieht in langen, weichen Sätzen in die Werkstatt, dreht sich in der offenen Tür um und guckt zu, wie der Lastkraftwagen vom Hof fährt. Die ist schlau.

„Ihr kleinen Gänseblümchen, es geht nicht anders. Jetzt trete ich euch auf den Kopf. Aber ich weiss, dass ihr genauso widerstandsfähig seid wie ich, und richtet euch wieder auf."

Gleich hinter dem Ortsausgangsschild Rancourt liegt ein ganz grosser Soldatenfriedhof. Frankreich hat dazu die daneben stehende Kirche gestiftet. Ich betrete sie und bin überrascht, wie schön sie von innen geschmückt ist. Aber als ich mich zur Seite drehe, um mir dort auch alles anzugucken, bekomme ich einen heiligen Schreck: Dort sehe ich eine Jesus-Statue. Er sitzt wie zusammengekauert und mit Stacheldraht rund um den Körper gefesselt. Sein Gesicht drückt unendliche Trauer aus. Und als Weihwasserbecken prangt eine grosse Mördermuschel gleich neben der Tür an der Wand. Ich bin erschüttert. Mein Herz rast! Mit dieser Skulptur hat der Künstler die Ohnmacht der Nächstenliebe vor Mord aus Habgier treffend dargestellt.

Bis hierher bin ich schon an mehreren anderen Soldatenfriedhöfen vorbeigekommen Wieso liegen sie eigentlich so weit von der Küste entfernt, wo der Krieg tobte?

Jetzt betrete ich die D 1017 in Richtung Peronne. Vor mir steht auf einer Ausweiche ein kleiner Lieferwagen. Und da ich allein unterwegs bin und mir das Auto nicht so geheuer ist, wechsle ich die Strassenseite und gehe daran vorbei, ohne hinzugucken. Sicher ist sicher.

In einem Vorgarten recken die ersten gesetzten Frühkartoffeln ihre neuen Blätter aus der Erde. Ein Hinweisschild gibt mir darüber Auskunft, dass es noch sieben Kilometer bis Peronne sind. Also in meinem jetzigen Zustand mit dem schweren Rucksack wandere ich vier Kilometer in einer Stunde. Dann könnte ich um 13.00 Uhr dort sein.

Mittags überquere ich den Somme-Kanal vor Peronne. Gerade schwimmt ein Binnenschiff auf eine Schleuse zu. An diesem Kanal möchte ich ab morgen wandern und freue mich schon darauf. Nach einer Essenspause im Vorort Saint Quentin erreiche ich mein Hotel. Aus den „Gelben-Seiten" fische ich mir aus Ham, meinem für morgen Abend ausgeguckten Ort zum Schlafen, ein Hotel heraus. Ein Fernfahrerehepaar speist auch hier an dem Tisch, an dem ich sitze. Es versichert mir, dass es in La Fère ein Hotel gibt. Und danach kommt erst die Stadt Laon. Es müsste eigentlich alles gut verlaufen.

 

Es ist jetzt 16.00 Uhr. Bevor ich mich schlafen lege, studiere ich noch einmal intensiv meine Karten. In der Nacht wache ich vor Schmerzen auf. In dem verpflasterten Zeh hämmert es. Also Licht wieder an und Pflaster ab. In der ehemaligen Blase hat sich wieder Wundflüssigkeit gebildet, die ich hinausdrücke und den Zeh mit einem neuen Pflaster verarzte.

Das Historial des Ersten Weltkriegs im Schloss Peronne will als Museum der vergleichenden Mentalitätsgeschichte Deutschlands, Frankreichs und Grossbritanniens den Krieg und vor allem dessen Ursachen und Auswirkungen veranschaulichen. Ein Komitee von Historikern, das das geschichtsbezogene Programm des Historicals ausgearbeitet hat, hat sich zu einem internationalen, unabhängigen Forschungszentrum entwickelt.11

Am Somme-Kanal
15. Mai 2008: Peronne - Ham

Der Himmel sieht bei meinem Start entwicklungsfähig aus. Aber ich hoffe auf Sonne. Gegen die kühle Luft ziehe ich mir meine Fleecejacke an und wickle mir den dünnen Schal um den Hals. Das kann nicht schaden. Es lässt sich angenehm wandern. In der Nacht hat es geregnet. Demzufolge ist die Luft staubfrei. Die ersten Autofahrer sind schon zur Arbeit unterwegs. Um 7.35 Uhr befinde ich mich auf dem Weg gen Süden zum Somme-Kanal.

Neben mir befindet sich ein Gewässer, in dem die Frösche ein drolliges Konzert veranstalten: Sie singen, quaken, quieksen, knurksen. Das sind witzige Geräusche. Schüler werden an einer Haltestelle eingesammelt und per Bus zur Schule gebracht. Ich bin jedenfalls froh, dass ich die Schulzeit hinter mir habe und mich schon seit geraumer Zeit in der „Schule des Lebens" befinde. Auf der N 17 verlasse ich Peronne. Sie ist umgetauft worden in D 1017. Der freundliche Mann aus einer Tankstelle zeigt mir persönlich den Abstieg hinunter zum Somme-Kanal. Auf einem Naturweg setze ich um 8.20 Uhr in idyllischer Umgebung meinen Pilgerweg fort. Mein Traum geht in Erfüllung. Die Sonne scheint. Es wird warm. Habe schon die Fleecejacke ausgezogen. Die Vögel zwitschern. Wenn ich die Wasservögel auf dem Kanal fotografieren möchte, tauchen sie einfach ab. Ein Hahn kräht. Gänse verbreiten auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals auf einem Hof Lärm. Wer weiss, vielleicht nähert sich ihnen eine Katze? Eben dachte ich so daran, wenn mich doch nur jemand hier fotografieren könnte. Da kommt mir auch schon ein älteres Ehepaar entgegen und erfüllt mir lächelnd meinen Wunsch.

Eine Schleuse kommt in Sicht. Von dieser Richtung ist die Durchfahrt verboten. Vor der Schleusenkammer sprudelt das Wasser sehr. Es sieht so aus, als würde gerade ein Schiff durchgeschleust. Dann werden sich wohl die Schleusentore demnächst öffnen. Die Schleuse wird von einem kleinen Terrier bewacht. Dieser kleine Aufpasser will mich beissen. Ich versuche alle meine Tricks, aber er will mich absolut nicht weitergehen lassen. Als letzte Notlösung hole ich meinen Pfefferspray hervor. Er guckt mich misstrauisch an und ahnt, dass ich etwas gegen ihn habe und verzieht sich. Er bellt zwar noch, ist aber zurückgeblieben. Es kommt noch ein Binnenschiff auf dem Kanal, nein, noch ein zweites. Nun sind es sogar drei. Hier handelt es sich um Binnenschiffe, die mit ihrem starken Motorboot ein anderes schieben oder ziehen. Habe gerade eben mit meiner Tochter Gudrun telefoniert und hatte eben auf diese Weise „meine kleine Tochter im Ohr". Diesen Komfort haben die Pilger früher ganz bestimmt nicht gehabt.

Vor der grossen Strassenbrücke, die ich unterquere, hat sich ein Angler mit vier schon ausgeworfenen und befestigten Angeln und einer fünften auswerfbereiten in der Hand niedergelassen. Bei uns darf ein Angler nur mit drei Angeln fischen. Er berichtet mir, dass ich ganz bis La Fère am Kanal entlanggehen kann. Ob auch bis Laon, weiss er nicht. So weit ist er noch nicht gekommen. Mein Thermometer verrät mir, dass es schon um 9.35 Uhr eben über zwanzig Grad Celsius warm ist. Ein leises Lüftchen weht mir erfrischend entgegen. Also fantastisches Wanderwetter. Ein Tauber gurrt auf der anderen Seite des Kanals. Singvögel zwitschern fröhlich und laut. Weiss leider nicht, zu wem welche Stimme gehört. Aber den Ruf des Kuckucks kenne ich natürlich. Eigentlich sollte ich meine Geldbörse schütteln, um den Inhalt darin zu vermehren, wie es in der Sage heisst.

Nun bin ich drei Stunden am Kanal Richtung Ham unterwegs. Es ist 11.00 Uhr. Habe die zweite grosse Autobrücke überquert und stehe kurz vor Epenancourt. Über die Hälfte meiner heutigen Strecke habe ich schon zurückgelegt. Ich wusste ja schon vorher, dass es ein langer Tag wird. Vor mir ist ein Ort zu sehen. Ich habe Hunger. Da fällt mir ein, dass heute früh beim Frühstück das freundliche Mädchen wohl Mitleid mit mir hatte; denn sie wickelte mir neun grosse Kekse ein. Danke. Zum Essen setze ich mich am Kanal auf ein erhöhtes Grasbüschel, ziehe mir zuerst die Schuhe und Socken aus, esse langsam aber sicher die Kekse auf und setze meinen Weg fort.

Eine weitere Schleuse taucht vor mir auf. Zwei Autos stehen daneben. Also wird wohl geschleust, sonst könnten sie über die Brücke fahren. Unter dem Schleusentor sprudelt das Wasser wieder hervor. Drei Lastenbinnenschiffe kommen heran geschwommen. Sie warten auf Durchfahrt mittels Schleuse. Zum Zugucken nehme ich mir nicht die Zeit und setze meinen Weg in Richtung Ham fort. Voraussichtlich treffe ich dort in zwei Stunden ein. An diesem Tag erhole ich mich und brauche nicht wie ein Chaussee-Hase auf einer gewölbten Fahrbahn neben Autos dahinzuwandern, sondern kann hier auf dem Naturkanalbegleitweg ohne Autos und deren Abgase und Lärm einfach schön allein vor mich hinwandern.

Die Vöglein singen. Mücken tanzen neben mir zwischen weissem Kälberkraut, gelbem Hahnenfuss, gelbem Klee, weissen Pusteblumen, weissen Margeriten und grün-braun blühenden Brennnesseln. Neben mir wächst eine hohe Hecke. Auf der anderen Seite des Kanals steht ein Wald. Darin fliesst irgendwo die Somme. Mittlerweile sind es angenehme dreiundzwanzig Grad Celsius geworden. Das monotone Tuckern zweier Lastenbinnenschiffe, die mich gerade überholt haben, unterbricht die Stille. Es fängt an zu nieseln. Hoffentlich wird es nicht noch schlimmer, sonst muss ich mir meine Regensachen anziehen. Neben mir steht das Ortseingangsschild von Bethencourt. Ich rechne noch mit einer Stunde Wanderung. Das Tröpfeln ist ein kleiner Landregen geworden. Petrus begiesst vom Himmel das Land, damit unser Korn, die Kartoffeln, Radieschen und so weiter wachsen können. Durch meine blaue Regenjacke geschützt, setze ich meine Pilgerwanderung unbeeindruckt fort. Die Bauchtasche steckt in einer Plastiktüte vor meinem Körper, damit mein Fotoapparat, das Handy, mein Sprechgerät und meine persönlichen Papiere keinen Schaden nehmen. Die Regentropfen sehen ganz putzig aus, wenn sie auf die Wasseroberfläche des Somme-Kanals fallen. Dann entsteht dort jeweils ein kleines Sternchen.

Du bist verrückt!

Nun kommt hoffentlich die Kanal-Abzweigung, an der ich am Canal de la Somme weitergehen möchte. Die andere Abzweigung heisst Canal du Nord. So, jetzt stehe ich hier an der Abzweigung. Das sieht aus, als wäre ich im Urwald am Amazonas gelandet. Krähen krächzen lautstark. Ein Kuckuck ruft. Neben mir fliesst der breite Canal-du-Nord. Der Canal-de Somme ist abgesperrt. Neben meinem Gehweg befindet sich ein Graben, der von grünem Entenflott bedeckt ist. Ein Frosch quakt lautstark. Drüben fliegen elegant zwei Graureiher in diesem idealen Feuchtbiotop. Schwertlilien blühen. Gebogene Eukalyptus-Bäume neigen sich zwischen anderen hohen, vereinzelt stehenden Bäumen zur Seite.

In der Zwischenzeit wandere ich den rechten Kanalarm entlang. Ein Dorf kommt in Sichtweite. Auf einem Hinweisschild sehe ich, dass ich noch elf Kilometer, also drei Stunden zu wandern habe. Das wird ein sehr langer Tag. In diesem Feuchtbiotop befindet sich tatsächlich ein Campingplatz. Diese Gegend ist doch garantiert eine Mückenhochburg. Hier Urlaub machen? Bloss nicht! Bin natürlich - was sollte ich auch anderes tun? - weitergegangen. Meine Füsse streiken!!!! Sämtliche Fussgelenke schmerzen, als träte ich auf glühende Kohlen. Bis Zum Ort Nesle sollen es noch zwei Kilometer sein. Ich schleppe mich diese Strecke unter Höllenqualen entlang, bis ich am Ortseingang eine grosse Firma entdecke. Mein einziger Gedankengang ist: Dorthin! Vielleicht können mir Leute weiterhelfen. Ich habe Glück. Von hier wären es noch einmal fünfzehn Kilometer bis Ham, weil der direkte Weg am Kanal gesperrt ist. In dem Büro lasse ich mir ein Taxi bestellen. Beim besten Willen kann ich nicht mehr stehen und bitte um einen Sitzplatz. Lächelnd werde ich hineingebeten und darf mich auf einen Stuhl setzen. Ich habe den Eindruck, dass die Durchblutung meiner Füsse unterbrochen ist. Während ich nun so auf mein Taxi warte, fragt mich ein junger Mann:

„Wohin willst du?"

„Nach Rom."

Er guckt mich daraufhin an, als sei ich nicht ganz klar im Kopf. Dann piekt er mit dem Zeigefinger an seine Stirn und sagt im Brustton der tiefsten Überzeugung:

„Du bist verrückt."

Ich muss schmunzeln. Wie recht er hat!

Eine Taxifahrerin des Ambulantdienstes (es gibt hier keine anderen Taxen) bringt mich für achtundzwanzig Euro nach Ham und setzt mich vor dem Hotel ab, in dem ich mir ein Zimmer gebucht habe. Draussen regnet es. Wäre ich nicht bis Nesle gekommen und mit dem Taxi hierher gebracht worden, hätte ich mich draussen im Regen vor Erschöpfung ins nasse Gras legen müssen.

Nach einer Ruhepause auf meinem Bett gehe ich essen. Hinterher bin ich wieder ein Mensch und lege mich gleich schlafen.

Ein paradiesisches Fleckchen Erde
16. Mai 2008: Ham - Laon

Glücklicherweise finde ich nach dem Frühstück im „Gelbe-Seiten"-Telefonbuch drei Hotels in La Fère. Der Himmel ist bedeckt. Meine Tochter Gudrun sagte mir gestern am Telefon, dass es hier trotzdem um zwanzig Grad Celsius warm wird. Noch ist es kühl. Dennoch gehen draussen die Leute schon mit kurzärmligen T-Shirts und kurzen Hosen.

Mein Wanderweg befindet sich auf der linken Seite des Kanals. Hohe, zarte Vogelstimmen begleiten mich. Vor mir geht eine junge Frau mit ihrem kleinen Hund spazieren. Die Sonne durchdringt den Morgendunst. Schwarzbunte Rinder grasen auf der Weide. Eine zweite nette Dame, die ich später treffe, frage ich, wie weit ich am Kanal vorwärts komme. Sie nennt mir gleich den Ort St. Simon. Dort muss ich über eine Brücke gehen, um auf die andere Seite zu gelangen.

Es gefällt mir hier. Dunst liegt über der ganzen Gegend des Kanals. Ich befinde mich hier auf einem paradiesischem Fleckchen Erde. Na, sooo paradiesisch ist es nun auch wieder nicht. Eben hat mich doch tatsächlich eine Mücke angezapft! Dieses Mistvieh! Die Vögel haben alle ihre eigene Melodie. Sie zwitschern, tirilieren, jubilieren, singen, rufen, schnalzen, piepsen. Krähen krächzen, Tauben gurren. Ein anderer hört sich an, als musiziere er auf einer ganz zarten, kleinen Flöte. Auf diesem Weg erhalte ich den Eindruck, als führen auf diesem Teil des Kanals tatsächlich keine Schiffe mehr. Es handelt sich hier um stehendes Gewässer. Wasserläufer flitzen breitbeinig darauf herum. Fische schwimmen darin. Seerosen blühen, breiten ihre runden, flachen grünen Blätter wie Landeplätze für die Wasserläufer, Vögel oder Schmetterlinge feil. Ich wandere unter einem über mir weit ausgebreiteten Blätterdach der Ulmen. Diesen Weg kann ich mir gut als Liebespärchenweg vorstellen: verschwiegen und ruhig. Dieses Idyll, das ich jetzt durchwandere, könnte bis Rom so beibleiben. Es bietet mir eine körperliche und seelische Erholungspause, bevor es in die französischen Berge und später über die hohen Alpen geht.

Auf einer Bank stelle ich meinen Rucksack ab, um mir meine Fleecejacke auszuziehen. Es ist warm geworden. Doch dann lasse ich sie doch an, denn die Mücken können nämlich nicht hindurchstechen. Spinnenweben spannen sich quer über den Pfad. Ein toter Fisch schwimmt mit dem Bauch nach oben im Wasser. Ist es eine Brasse? Ein grünfüssiges Teichhuhn flitzt vor mir weg, fliegt über den Kanal und lässt sich im Schutz der anderen Uferseite nieder. Und wenn von unten ein Fisch nach einer auf der Wasseroberfläche schwimmenden Fliege schnappt, entstehen Kreise im Wasser, die sich immer weiter ausbreiten, bis sie ganz abflachen. Gerade schwimmt mir eine Wasserratte entgegen. Unzählige Mücken geben mir mit ihren langen Stechrüsseln ihr Geleit. Könnte leicht darauf verzichten. Linkerhand erstreckt sich Urwald. Gerade fliegt ein grosser Vogel - nach dem lauten Geräusch zu urteilen - zwischen den Ästen der Bäume fort. Aus einem in das Wasser hängenden Gebüsch startet ein anderer Wasservogel.

 

Ich bin ganz allein auf weiter Flur. Die Vögel begleiten mich mit ihrem Gesang. Nun durchquere ich das Reich der schwarzen Libellen. Das Gras beiderseits hat mindestens eine Höhe von einem Meter dreissig. Mein schmaler Trampelpfad führt mitten hindurch. Weiss blühendes Kälberkraut leuchtet hell in der Sonne. Auf der einen Seite der Kanal, auf der anderen ein Graben und weiter daneben ein See mit gelben Mummeln.12 Eine Ringeltaube hebt von einem Kastanienbaum ab und fliegt mit klatschenden Schwingen hinüber auf die andere Uferseite. Vor mir kommt eine Brücke in Sichtweite. Hier scheinen Gänse zu nächtigen. Ich stapfe über ganz viele grosse Schwimmfuss-Trittsiegel. Auf einem Baum an der anderen Uferseite flötet ganz melodisch ein grösserer Vogel. Dieses Naturreservat ist etwas für Vogel- und Naturfreunde. Ein riesiges Feuchtbiotop stellt die Somme mit ihren vielen kleinen Nebenarmen, dem Kanal und dem moorigen Gebiet dar.

Auf der Brücke gehe ich hinüber auf die andere Seite und freue mich, dass dieser Weg sogar noch besser ist. Die Sonne schickt durch die Wolken ihre Strahlen herab. Im ruhigen Wasser des Kanals spiegeln sich die Bäume und Wolken. Ich selbst geniesse Halbschatten. Nun ärgern mich schon wieder Steinchen im Schuh. So eine Gemeinheit! Um sie aus dem Schuh zu schütteln, halte ich an. Aber die dicken und penetrant anhänglichen Mücken umringen mich gleich. Notgedrungen gehe ich mit den Steinchen im Schuh weiter. Irgendetwas befindet sich da vor mir. Ein grosser Graureiher hebt ab und segelt ganz langsam mit seinen breiten Schwingen über den Kanal. Sind diese Fische, die ich im Wasser sehe, Rotfedern? Ihr rötlicher Schwanz und die rötlichen, kleinen Flossen sind gut auszumachen. Interessant.

Nun sehe ich eine zweite Kanalüberquerung vor mir, eine Staustufe, eine Schleuse wohl noch aus alten Zeiten, und wechsele hinüber auf die andere Seite, wo Häuser auftauchen und eine Frau mit ihrem Hund spazieren geht. Diese Frau versichert mir, dass ich hier richtig unterwegs sei. Und wenn ich noch etwas weiter gehe, erreiche ich mit Hilfe einer weiteren Brücke die andere Seite. Von da an kann ich auf einem schmalen Kanal-Seitenweg bis Jussy weiterwandern.

Die Sonne brennt vom Himmel. Jetzt ziehe ich mir doch meine Fleecejacke aus und hole mir die Steinchen aus dem Schuh. Es ist 9.50 Uhr. Eigentlich müsste ich acht Kilometer gegangen sein. Soviel? Das glaube ich nicht. Ich lasse die Jacke doch lieber an und die Steinchen im Schuh, weil mich Mückenscharen schon wieder belästigen. Drüben befinde ich mich wieder in einem Mückenparadies. Nun habe ich doch tatsächlich in einen Hundehaufen getreten! So ein Schweinkram! Eigentlich sollte das ja Glück bringen. Die Stelle in der Nähe der Abzweigung, an der ich gerade den Kanal überquert habe, ist St. Simon. Sehr vielversprechend sieht der Weg am Kanal auf dieser Seite nicht aus. Aber ich versuche es. So, den Mücken habe ich nun den Laufpass gegeben. Als ich nämlich nach der Brücke gleich hinunter zum Ufer gehe, sehe ich, dass der Weg nicht gemäht ist. Da hätte ich durch lauter feuchtes, nasses und hohes Gras gehen müssen. Das mag ich nicht. Ich schwitze dort auch weiterhin in der Fleecejacke. Das möchte ich auch nicht mehr. Hab genug davon. Ab jetzt wandere ich als Chausseehase wieder auf der Strasse, bald auf der einen Seite eine Strecke, bald auf der anderen. Vor mir springt leichtfüssig in eleganten Sätzen ein Eichhörnchen über die Fahrbahn. Die Steine entferne ich nun auch aus meinem Schuh. Welche Erleichterung!

Es ist Mitte Mai. Der Raps ist schon verblüht. Der Mais steht ungefähr fünfzehn Zentimeter hoch. Der Weizen ist schon so hoch, dass sich oben die Rispen zwischen den Blattspitzen herausringeln. Die Natur ist hier schon sehr weit. Gestern regnete es über Tag. Danach nun an diesem Tag der warme Sonnenschein. Etwas Besseres gibt es ja gar nicht. Mairegen bringt Segen. Ein weiser Bauernspruch. Nein, das Korn, das sich herausringelt, das müsste Roggen sein. Die Gerste stand ja schon vor einer Woche richtig schön mit ihren Rispen hoch aufgereckt, bevor sie sich zur Seite und nach unten biegt. Im Moment wandere ich zwischen einem Sonnenblumenfeld - es sind noch kleine Pflänzchen - und einem Feld mit den schon hoch gewachsenen und blühenden Pferdebohnen entlang.

Jetzt habe ich Nägel mit Köpfen gemacht. Bin in einem kleinen Ort in die gerade heransausende Eisenbahn gestiegen und fahre - als eine Art Ruhetag - bis nach La Fère. In Tergnier muss ich in den auf der gegenüberliegenden Seite stehenden Zug umsteigen, der gleich darauf mit mir losrollt. Mit dieser Eisenbahnfahrt habe ich allein zehn Kilometer von einer Stadt in die andere eingespart. Das bedeutet: keine Autos, keine gewölbten Strassen, kein Lärm und keine Abgase.

Vom Bahnhof aus steuere ich gleich ein Restaurant an, suche mir nach dem Essen eine Unterkunft und finde das einzige Hotel, das es hier gibt, ein Chateau13 Der niedrigste Preis für eine Nacht kostet einhundertvierzig Euro und der höchste vierhundertvierzig Euro. Dass ich dort nicht nächtigen werde, ist doch klar. Die beiden anderen Hotels sind geschlossen. Daraufhin studiere ich meine Karte. Da ich im Strassengraben nicht schlafen mag, muss ich aus dieser Stadt raus und weiter. Laon wäre mein morgiges Ziel gewesen. Habe dort eben im Hotel angerufen und kann gleich kommen. Also auf zum Bahnhof und die nächste Bahn nach Laon genommen. Und morgen geht es ab Laon weiter Richtung Reims. Es fängt an zu nieseln.

Nun sitze ich auf dem Bahnhof. Mein Zug geht um 15.50 Uhr und werde Laon um 16.15 Uhr erreichen. Gerade höre ich von einer Frau, die aus Laon stammt, dass es dort auch ein Hotel Ibis gibt. Darin sind die Betten nicht so teuer. Von diesem Hotel habe ich keine Telefonnummer und möchte dort zuerst vorstellig werden. Angekommen in Laon, fahre ich mit dem Bus dorthin. Während ich vorhin im Zug fuhr, goss es in Strömen. Seit Laon scheint die Sonne. Oben auf einem weiteren noch höheren Bergrücken - ich stehe schon auf einem Stadtberg - sehe ich eine Burg, Festung oder Kirche. Zum Glück liegt mein Hotel nicht da oben. Hätte keine Meinung, diesen Berg zu Fuss zu erklimmen.

Im Hotel Ibis kann ich morgens schon ab 6.30 Uhr frühstücken.

Die französische Stadt Laon ist die Hauptstadt des Departments Aisne. Die Stadt verfügt über viele mittelalterliche Bauwerke, darunter die berühmte Kathedrale von Laon. Mit der historischen, befestigten Altstadt auf einem Tafelberg besitzt Laon die grösste zusammenhängende unter Denkmalschutz stehende Fläche Frankreichs.14

Das Musée d'Art et d'Archéologie de Laon wurde 1851 von der Société académique de Laon gegründet, damit die bemerkenswerten, in den gallo-römischen und merowingischen Friedhöfen der Gegend ausgegrabenen Gegenstände sowie auch Gemälde und Fayencen ausgestellt werden konnten15.

Brennnesselsuppe Laonnaise