Abenteuer Via Francigena

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10. Mai 2008: Calonne Ricouar - Arras

Es ist 6.45 Uhr und bin jetzt fertig angezogen. Mein einer Zeh erhält ein neues Pflaster. Nun werde ich mir meinen Rucksack auf die Schultern hieven und nach unten gehen. Dort soll ein Frühstück auf mich warten. Noch schnell lasse ich meinen Blick durchs Fenster zum Himmel huschen. Es sieht draussen gut aus. Eine leichte Wolkendecke verdeckt das Himmelsblau. Ich glaube, dass ich trocken weiterwandern kann. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Sonne noch scheinen wird. So, nun starte ich. Es ist draussen schön, richtig herrlich. Die Wasseroberfläche des kleinen Badesees kribbelt von der Luft. Die Sonne scheint. Angenehm warme Luft atme ich ein. Ein Hahn kräht in der Nachbarschaft der Sonne entgegen. Auf dem kleinen See liegen Tretboote am Steg. Und eine kleine Entenfamilie mit drei Güsselchen schwimmt daneben. Angler sitzen verteilt um den See herum und hoffen auf beissende Fische. Singvögel singen ihre Lieder. Im Sonnenlicht trampelt eine Amsel ganz flott auf dem Rasen auf der Stelle. Und schwups sticht sie mit ihrem Schnabel in die Erde und zieht erfolgreich einen langen, sich ringelnden Regenwurm heraus. Ihr Frühstück. Guten Appetit!

Nun bin ich tatsächlich nach der guten Beschreibung meiner Wirtin bei der Tankstelle angekommen, wo ich gestern nach einer Übernachtung fragte. Und von hier geht es nun weiter. Oh Mann, oh Mann, die haben hier ja vielleicht steile Berge! Ich schätze sie auf zwanzig Prozent Steigung wie in England. Nun habe ich den langen Berg erklommen. Auf dem Schild steht hier: Nach Arras noch dreissig Kilometer. Ja, denn mal los!

Dass es in Houdain kein Hotel gäbe, wie mir der Mann gestern sagte, stimmt nicht. Hier steht doch eins. Es sind von hier aus noch fünfundzwanzig Kilometer bis Arras. Da ich vier Kilometer in einer Stunde wandere, sind es noch sechs Stunden zu der grossen Stadt. Es ist jetzt 10.30 Uhr. Also bin ich bis zum Abend da. Das Chateau Ranchicourt habe ich nun hinter mir gelassen. Ein zweites Frühstück? Nein, das wäre darin viel zu teuer! So wandere ich weiter und erreiche den nächsten Ort: Barafle.

Da ich schon drei Stunden unterwegs bin, brauche ich unbedingt eine Ruhepause für meine Beine. Hinter der Kurve liegt ein witziges Café. Im Hof auf der Terrasse sehe ich Trecker-Sitze um den Tisch herum, die auf einer Holzbank fest montiert sind. Ich setze ich mich jedoch auf eine normale Bank und lege meine Füsse hoch. Ob ich das darf oder nicht, ist mir ganz egal. Mein bestelltes Frühstück werde ich schön in die Länge ziehen, um Zeit für meine Erholung zu gewinnen. In meiner Karte sehe ich, dass in der Nähe ein Dolmen steht. Den möchte ich nachher suchen. Der junge Chef zeigt mir ganz stolz sein Café von innen. In dem grösseren Raum finden Konzerte statt. Fotos bekannter Künstler hängen an den Wänden. Im ersten Raum hängen dicht an dicht Lederstiefel oben an der Decke. Von der Decke selbst ist nichts mehr zu sehen. Witzig. An der Decke des nächsten Raumes, in dem die Konzerte stattfinden, hängt ein Kanu.

Nun befinde ich mich wieder auf meiner weiterführenden Strasse und biege ab, um mir den Dolmen zu suchen und anzugucken. Was das ist, weiss ich noch nicht. Mittlerweile ist es schon 11.05 Uhr. Eben passiere ich ein Haus, aus dem gerade drei junge Männer treten, mich gross angucken, freundlich grüssen und beginnen, mich nach meinem Woher und Wohin auszufragen - auf Französisch! Mit meinem geringen französischen Wortschatz bringe ich ihnen bei, dass ich auf dem Pilgerweg nach Rom unterwegs bin. Da macht der eine mit den Armen eine rudernde Bewegung. Ich soll man lieber dahin fliegen? Das geht bestimmt schneller. Der andere macht Bewegungen, als hätte ich Sieben-Meilen-Stiefel an und rudert anders mit den Armen, als sollte ich lieber schwimmen. Das geht noch besser. Wir lachen alle herzlich! Dann laden sie mich zu sich ins Haus zum Essen ein. Aber ich bedanke mich, denn ich bin leider vollkommen satt. Ass ja vor kurzer Zeit erst ein ganz umfangreiches Frühstück. Bei der Verabschiedung wünschen sie mir eine gute Wanderung.

Nun befinde ich mich hier in dem Ort bei den Dolmen. An der Strasse steht eine Herberge für Pilger „L'Auberge Anjon" in Olhain-Fresnicourt. Das ist ja grossartig. Danke. Aber nein, das ist verkehrt. Drinnen an der Rezeption wird mir versichert, dass hier keiner schlafen könne. Das sei abgeschafft worden. Aber man könne hier ganz vorzüglich essen.

In der Zwischenzeit habe ich umsonst nach dem Dolmen gesucht. In diesem Ort treffe ich einen jungen Mann, der vor seinem Haus an seinem Auto montiert. Er erklärt mir, wo ich das Gewünschte finde. Es sei aber kompliziert. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf und stiefele weiter. Ungefähr einen Kilometer bin ich schon hinter dem Ort, da fährt dieser Mann mit seinem Auto vor, bittet mich lächelnd einzusteigen. Er möchte mich zu dem Dolmen oben auf dem Berg im Wald fahren. Er sieht total vertrauenswürdig aus. Also steige ich erwartungsvoll ein. Nach fast zwei Kilometern hält er an, zeigt zwischen die dort stehenden hohen Bäume und sagt, dass dort sei der Dolmen.

Und was sehe ich? Ein richtig grosses und offenes Hünengrab mit einer grossen, dicken Steinplatte auf den darunter rundherum stehenden dicken Felsbrocken - wie auf meiner Lieblingsinsel Amrum. Ich bedanke mich, lasse mir von ihm seine Adresse geben und sage ihm, dass ich ihm als Dankeschön dafür eine Postkarte aus Rom senden würde. Als ginge die Sonne auf, so strahlt sein ehrliches Gesicht. Eine Karte aus Rom hat er sicher in seinem ganzen Leben noch nie erhalten. Ich lasse mich von ihm noch vor dem Dolmen fotografieren. Dann verabschieden wir uns. Während er wendet und zurück fährt, besichtige ich das grosse Steinzeitgrab. Als ich es aus der Nähe fotografieren möchte, streikt mein Fotoapparat. Die Chipkarte ist voll. Das auch noch! Also Rucksack runter, ausräumen, suchen, wo in welcher Tüte meine Elektro-Sachen stecken, Chipkarte im Fotoapparat ausgewechselt, vorsichtshalber auch gleich den Akku und Fotos gemacht, den Rucksack auf den Rücken geschnallt und weiter geht es nach Arras. Dort rufe ich noch einmal bei der Jugendherberge an und melde mich um 12.50 Uhr auf dem dort ablaufenden Telefonband an.

Anderthalb Stunde später gönne ich meinen Beinen auf einem dicken Stein eine kleine Pause. Leider kann ich die Beine nicht hochlegen. Hier gibt es keine Bank. Falls ich eine finde, tue ich es noch. Aber mein rechtes Knie fängt wieder an zu zwicken. Werde nachher wieder auf der anderen Seite der Chaussee weitergehen. In Frankreich fallen auch alle Bürgersteige schräg zur Strasse hin ab. Das ist für mich Wanderin eine grosse Katastrophe.

Um 14.30 Uhr sind es noch dreizehn Kilometer bis Arras. Finde einen kleinen Parkplatz, im Schatten eine Bank und ziehe mir die Schuhe und Socken aus, um meinen Füssen Sauerstoff zu geben und die Socken richtig schön durchzulüften. Mit wieder angezogenen Schuhen gehe ich weiter. Mein Blick fällt auf eine Kirchen-Ruine. Habe mir eben ein Steinchen aus meinem Schuh gefischt. Es sind noch sieben Kilometer bis nach Arras. Befinde mich mal wieder auf einem Berg und sehe vor mir im Dunst meine gewünschte Stadt liegen. Ein toller Anblick! Das überlebe ich bis dahin auch noch. Dieses ist für mich heute derselbe grosse Augenblick wie 2004 in Alaska, als ich endlich vor mir Watson Lake liegen sah, meine Erlösung.8

Also, das ist nun doch tatsächlich gemein. Eigentlich sind es nur noch fünf Kilometer und darüber steht die Zahl sieben! Das ist ja schlimm. Es ist schon 17.10 Uhr. Vor mir geht es erst ganz tief hinunter und danach wieder ganz hoch. Unten im Tal soll ich die grosse Kreuzung eines Kreisverkehrs überqueren. Es ist doch noch nicht Arras. Davor liegen noch zwei andere Städte. Sie gehen alle ineinander über. Ich schätze, dass es immer noch ungefähr fünf Kilometer sind, bevor ich Arras erreiche. Dort muss ich auch erst einmal die Jugendherberge finden. Auf meine Anrufe hin meldet sich dort nur ein Band. Jetzt sitze ich hier am Strassenrand im Gras und kann nicht mehr. Bin sehr müde. Habe meine Schuhe und die Socken ausgezogen, damit wieder Luft an die Füsse und Socken kommt. So, jetzt wird es langsam Zeit. Werde sie wieder anziehen und weitergehen.

Als ich beim Kreisverkehr die Kreuzung überqueren möchte, hält ein Autofahrer ganz freundlich an und lässt mich erst einmal vor seinem Auto auf die andere Strassenseite gehen. Der Zufall kommt mir bald zu Hilfe. Rechterhand finde ich eine Bushaltestelle und gucke mir die Abfahrtszeiten an. In zwei Minuten soll ein Bus kommen, der ins Stadtzentrum fährt!!! Hurra! Hilfe in grösster Not. Er kommt sofort. Ich hinein und werde bis zum Platz der Post mitgenommen. Da soll ich aussteigen und - der Busfahrer zeigt mir, welchen der Wege ich in welche Richtung gehen soll, um zum Marktplatz zu gelangen. Dort befände sich die Herberge. Die vier Kilometer nur auf Stadtstrassen mit dem lärmenden Autoverkehr und den Abgasen habe ich mir auf diese Weise gespart.

Wer noch nie in Arras war, kann sich kaum vorstellen, wie ich beim Anblick der Häuser rund um den rechteckigen, grossen Platz gestaunt habe. Im wahrsten Sinne des Wortes bekam ich nicht mehr den Mund zu. So etwas habe ich noch nie gesehen! Grossartig! Die wohlhabenden Kaufleute haben die Fassaden ihrer weissen Häuser - eins neben dem anderen - in demselben Renaissance-Stil erbauen lassen. Unter ihren Arkaden wandeln gut gekleidete Herren und Damen dahin und kaufen in den eleganten Geschäften ein oder sitzen vor einem Café oder Restaurant.

Ich rufe wieder bei der Herberge an. Der Mann am anderen Ende weist mich ab und lässt mich wissen, dass dort alle Betten belegt seien. Wo soll ich nun schlafen? Am Marktplatz sind die Hotels ganz bestimmt schwindelerregend teuer. Da brauche ich gar nicht erst zu fragen. So gehe ich zwischen den Häusern an einer Stelle durch und auf die Parallelstrasse. Vor einem Restaurant kann ich nicht umhin, setze mich draussen an einen Tisch und lasse mir einen riesigen Salatteller und Wasser bringen. Auf dem Stuhl erholen sich meine Hüften und Füsse wieder etwas. Nach dem Essen erhalte ich von der Bedienung den Tipp, in einem kleineres Hotel hinter der Kurve nach einem Zimmer zu fragen.

 

Bei dem sehr gut aussehenden, älteren Herrn an der kleinen Rezeption werde ich vorstellig und frage auf Englisch nach einem freien Bett für mich. Er guckt mich an, sieht meinen Rucksack und fragt, woher ich komme und wohin ich unterwegs sein. Als ich ihm erzähle, dass ich Deutsche und schon seit Canterbury in England unterwegs nach Rom sei, lächelt er mich liebenswürdig an und sagt mir auf Deutsch, dass bei ihm leider alle Betten belegt seien. Aber ich soll kurz warten. Er werde bei seinen Freunden herumtelefonieren. Es dauert nicht lange, da schreibt er mir die Adresse eines anderen kleinen Hotels auf und sagt mir, dass er mich dort schon angemeldet habe. Auch von ihm lasse ich mir seine Visitenkarte für eine Dankeschönkarte aus Rom geben und suche nach meinem neues Domizil. Es steht direkt am grossen Platz drei Häuser von der Jugendherberge entfernt, in der ich abgeblitzt bin. Um 20.30 Uhr betrete ich im zweiten Stockwerk mein kleines Zimmer mit Dusche und Toilette und kann mich endlich niederlassen. Das Fenster zeigt zum Hof.

Und jetzt weiss ich, was hier los ist. In Frankreich gibt es zu dieser Zeit an fünf Tagen hintereinander Feiertage. Dann nehmen fast alle Franzosen Urlaub und reisen dahin, wo es schön ist. Und hier ist es nicht nur schön, sondern wunderschön!

In diesem Zwei-Sterne-Hotel habe ich Glück. Dreiundsechzig Euro soll ich für eine Übernachtung bezahlen! Das ist zwar ein fieser, hoher Preis, aber in Anbetracht dieser grossartigen Stadt kann ich mich nicht beklagen, da bis Dienstagfrüh überall sämtliche Zimmer belegt sind. Da ich nicht zu diesem Preis sooft übernachten kann, habe ich in den Orten, durch die ich auf meinem Pilgerweg südlich von Arras komme, angerufen und gefragt, ob ich dort eine Nacht schlafen könne. Aber nirgends ist in dieser Zeit ein Zimmer frei. Nur in Laon, einhundertzwanzig bis einhundertdreissig Kilometer gen Süden, könnte ich ein Zimmer erhalten. Aber an einem einzigen Tag kann ich unmöglich zu Fuss sooo viele Kilometer zurücklegen und auch nicht an der Chaussee im Strassengraben schlafen. Und so fahre ich denn morgen mit der Eisenbahn von Arras nach Laon. Habe dort auch schon im Bahnhofshotel ein Zimmer gebucht. Es geht nicht anders. Was nicht ist, das ist nicht.

Hatte ich schon erzählt, dass ich am heutigen Tag - in der Stadt muss ich ja auch wandern, kann nicht fliegen - sage und schreibe ungefähr vierzig Kilometer zu Fuss gegangen bin? Und das mit dem Rucksack. Dafür habe ich eigentlich zwei Ruhetage verdient und fahre nun mit der Eisenbahn weg. Das ist mein Ruhetag. Und die Blase an meinem rechten Zeh hat ihre Existenz immer noch nicht aufgegeben und ist stattdessen wieder dicker geworden. Das macht keinen Spass. Ich mag sie gar nicht aufstechen. Sie sieht aus, als hänge oben am Zeh rechts ein kleiner Wasserballon. Das ist ja furchtbar. Wie ich dieses Problem lösen kann überlege ich mir noch. Mein Souvenir? Allen zukünftigen Via-Francigena-Wanderern möchte ich ans Herz legen, bevor sie durch Frankreich wandern, sich vorher zu erkundigen, ob es in der geplanten Reisezeit zusammenhängende Feiertage gibt. Denn vorher buchen kann man ja nicht, wenn man allein wandert und nicht weiss, wie weit man täglich kommt.

Und unterwegs habe ich dann festgestellt, dass bei gutem Wetter Sandalen besser wären. Dann bekommen die Füsse Sauerstoff und fangen nicht wie in den hohen Wanderschuhen an zu schwitzen. Demjenigen, der mit Wanderschuhen unterwegs ist, empfehle ich, möglichst jede bis jede zweite Stunde eine Pause einzulegen, Schuhe aus, Socken aus und alles trocknen lassen, danach wieder anziehen und weiter.

Das Kunstmuseum von Arras ist in einer alten Benediktinerabtei aus dem 18. Jh. untergebracht. Nebst einem guten Einblick in das römische und mittelalterliche Leben von Arras bietet es eine erlesene Sammlung flämischer Malerei.9

In Arras lebte Pierre Jean Jouve (1887-1976), französischer Schriftsteller und Anhänger Sigmund Freuds. Wahrzeichen der Stadt sind zwei grosse Plätze im Zentrum, die Grande Place und die Place des Héros. Sie sind von einem Ensemble restaurierter Gebäude umgeben. Die bedeutsamsten Gebäude der Stadt sind die spätgotische Kathedrale und das gotische Rathaus mit einem Belfried, der seit 2005 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes "Belfriede in Frankreich" ist. Die von Bauban errichtete Zitadelle ist seit 2008 ebenfalls Teil des UNESCO-Weltkulturerbes "Festungsanlagen von Bauban.10.

Arras, eine Traumstadt
11. Mai 2008: Erster Ruhetag in Arras

In der Nacht habe ich mir doch noch mit der Nadel die Blase aufgestochen und ein Pflaster darüber geklebt. Nun geht es mir etwas besser. Draussen spannt sich ein wolkenloser Himmel über Arras. Garantie für einen schönen Tag.

Da Arras eine so wunderschöne Stadt ist und ich nicht einfach so einhundertzwanzig Kilometer Wanderung verschenken möchte, habe ich beschlossen, noch ein viel billigeres Zimmer für die beiden nächsten Nächte in dieser Stadt zu erhalten. Vielleicht hat die Jugendherberge ab heute ein Bett frei. Während ich so am beeindruckenden Marktplatz unter den Arkaden entlang schlendere, fällt mir auf, wie sauber alles ist. Mit dem Wasserstrahl werden gerade die Steinplatten gereinigt. Männer heben vergessene Papierreste auf. Arras ist eine ganz saubere Stadt! Die Sonne scheint. Es ist noch kühl. Gehe mit der Fleecejacke.

Hurra! Ich bin in der Jugendherberge für die nächsten beiden Nächte eingebucht. Für jede Nacht samt Frühstück zahle ich siebzehn Euro. Bei diesem schönen Wetter kann ich mir nun Arras angucken. Erholung für meine Füsse. Habe auf meinem Stadtplan den Friedhof der vielen Gefallenen (ausser den Deutschen) des Ersten und Zweiten Weltkrieges gefunden, die auch alle namentlich an den Wänden, sortiert nach ihrem Heimatland aufgelistet sind, und dann steht auch noch für jeden Gefallenen ein weisses Kreuz auf dem grossen, grünen, runden Innenplatz.

Um 12.30 Uhr stehe ich in der Kathedrale - wir haben ja Pfingsten - und nehme am Gottesdienst mit Abendmahl teil. Es ist ein grosses Erlebnis. Ich habe Glück. Vor mir sitzt jemand, - sie sprechen in der Kirche ja alle miteinander - der fliessend Deutsch sprechen kann. Vor zwanzig Jahren ist er von Le Puy in zwei Monaten zu Fuss bis Santiago de Compostela gewandert. Er rät mir, von meinen Socken vorn die Spitze abzuschneiden. Daran läge es, dass ich die Blase bekam. Denn die Zehen werden von der Spitze des Sockens zusammengedrückt. Danach werde ich keine Probleme mehr bekommen. Das werde ich machen. Hoffentlich bekomme ich dann keine Blasen von den Fransen. Auch frage ich ihn, was das Wichtigste für einen Pilger sei, um gesund anzukommen. Sehr grosse Schuhe, ist seine Antwort, und er lächelt mich vielsagend an.

Heute Mittag nehme ich an einer Rundtour unter dem Marktplatz in den Katakomben mit Erläuterungen auf Französisch und Englisch teil. Nun sitze ich schon hier am grossen Platz der Heroen. Gerade beginnt die Rathausglocke über mir zu läuten. Dort oben auf dem Turm sehe ich Leute herumwandern. Das möchte ich auch und lasse mich mit dem Fahrstuhl bis fast zur Spitze tragen. Die restlichen Treppenabsätze darf ich zu Fuss hochsteigen. Von dieser Höhe geniesse ich draussen einen grossartigen Anblick der Stadt und des Umlandes.

Hinterher steige ich mit den anderen angemeldeten Touristen unter den Rathausplatz. Dort haben sich während der letzten zwei Weltkriege die Soldaten versteckt. Niemand hat sie dort bemerkt oder vermutet. In diesen Katakomben wachsen und blühen Pflanzen aufgrund der dort angebrachten Lampen. Aus einem alten Grammophon tönt Musik.

Es ist schon 19.00 Uhr. Habe mich schon geduscht, liege in meinem Bett eines Sechs-Bett-Zimmers im ersten Stockwerk der Jugendherberge. Es ist Einquartierung gekommen: eine zweite Frau - eine Französin. Wir haben uns schon angefreundet. Ich bin ganz müde und total platt. Morgen soll ich bis 9.00 Uhr gefrühstückt haben.

Kalbsfuss á la mode d'Arras

60 g Mehl in 3 l Wasser auflösen, 1/4 l Bier, je 60 g grob geschnittene Karotten und Schalotten, ein Lorbeerblatt, einen Zweig Thymian und reichlich Salz zugeben. 6 Kalbsfüsse hineinlegen und 4 Std. auf kleinem Feuer kochen. In der Zwischenzeit die Sauce zubereiten: 30 g Butter und 40 g Mehl erhitzen, 1/2 l Wasser und 100 g gehackte Zwiebeln zugeben. Salzen und pfeffern. Sauce 15 Min. kochen lassen. Saft einer Zitrone und ein Glas Bier zufügen und mit einem Eigelb binden. Kalbsfüsse aus dem Sud nehmen und mit Sauce nappieren. Zu Weizenbrei servieren (heute nimmt man eher Kartoffeln).

12. Mai 2008: Zweiter Ruhetag in Arras

Die Sonne scheint. Habe sehr gut geschlafen. Es ist warm und wird sicher wieder heiss.

Auf meinem Weg, ein Internet-Café zu finden, komme ich an der alten Kirche in der Nähe des grossen Marktplatzes vorbei und möchte sie betreten. Aber die Tür ist noch verschlossen. Gerade betritt ein junger, grosser Mann mit einem gewundenen Kranz weisser Blumen in der Hand das Portal, wo ich stehe und möchte auch hinein. Als ich ihm sage, dass sie geschlossen sei, meint er, er wolle diesen Kranz im Gedenken an die Gefallenen seiner Familie heute hier niederlegen. Er sei extra deshalb aus Wales in England angereist. Leider weiss er nicht, wo sich die Grabstelle befindet. Deshalb möchte er sie stellvertretend in dieser Kirche ablegen. Glücklicherweise kann ich ihm auf meinem kleinen Stadtplan zeigen, wie er das Mahnmal und den Friedhof der Gefallenen finden kann. Glücklich und gelöst wandert er los.

Es ist 10.35 Uhr. Ich bin unterwegs zu einem Internet-Café. Aber genau heute hat es geschlossen. Und das soll das einzige von ganz Arras sein. Im Rathaus finde ich einen Bankautomat. Meine Geldkarte habe ich mit, aber die PIN-Nummer dusseligerweise in Kiel vergessen. Hier steht für Touristen auch ein PC. Dafür brauche ich aber meine MASTERCARD. Also habe ich dasselbe Problem auch bei diesem Gerät. Es ist zum Mäuse melken! Im Rathaus erzählt mir eine Angestellte, dass schon seit einer Woche eine Brasilianerin als Pilgerin von Arras in Richtung Rom gehe. Sie soll noch ein Stück kleiner sein als ich und trägt nur einen ganz kleinen Rucksack. Hat sie Gepäckbegleitung? Dann sind auch noch ein Engländer und ein Italiener unterwegs - einzeln. Aber die Männer sollen gross sein. Ich bin Nummer vier der Pilger, die sich in diesem Jahr einen Stempel geben lassen.

Um 12.00 Uhr nehme ich in der anderen grossen Kirche an einem Gottesdienst teil und sitze hinterher draussen am Marktplatz in der Sonne an einem Tisch eines Cafés. Im Geist bin ich schon wieder dabei, ab morgen zu wandern. Immer an einem Ort zu sitzen, das ist nichts für mich. Es hält mich nicht auf dem Stuhl. Darum flaniere ich in der Stadt herum, gehe zur Apotheke und hole mir vorsichtshalber spezielles Compeed-Pflaster. Die Blasen, die Blasen!

Um die Zeit bis zum Abend zu überbrücken, wandele ich unter den Arkaden entlang und gucke in jedes Schaufenster. Dabei bleiben meine Augen an Cremeschnitten hängen. Die Spucke läuft mir im Mund zusammen. Ich muss schlucken. Sie verführen mich dazu, eine ganz grosse zu kaufen und auf der Stelle zu vernaschen. Ein Traum! Dazu trinke ich zwei Tassen Tee und setze meine Wanderung fort. Aber wohin? In der Sonne ist es ja so heiss. Doch lieber Hitze als Regen. Und dann fällt mir die grosse, alte Kirche ein, in der ich heute den Gottesdienst miterlebte. Dahin wende ich meine Schritte und setze mich daneben auf eine schattige und luftige Bank.