Abenteuer Via Francigena

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Eine Handvoll feingeschnittene Brennesseln und 200 g eingeweichte Weizenkörner in 2-3 l Wasser aufkochen. 4 geschnittene Schalotten zufügen und nochmals kochen. Suppe vom Feuer nehmen, ein kleines Glas Milch, 4 Löffel Créme fraiche und 2 Eigelb zufügen, salzen, pfeffern.

Alle Zimmer ausgebucht!
17. Mai 2008: Laon - Reims

Nach dem Frühstück wandere ich durch kalte Luft. In der Zwischenzeit schickt die Sonne ihre Strahlen durch Wolkenlücken. Es ziehen dunkle Wolken am Horizont auf.

Ausserhalb Laons befinde ich mich auf der D 967 Richtung Corbeny. Heute liegt eine bergige Landschaft vor mir. Dicke Wolken decken sie zu. Die ersten Berge sind nur umrissartig zu sehen. Langsam wagt sich die Sonne oben zwischen kleineren und grösseren Wolkengebilden wieder hindurch. Gestern führte mich meine Strasse durch Ackerland mit Sonnenblumen, Kartoffeln, heute auch zuerst noch durch Sonnenblumenfelder. Aber danach werden wohl Wälder die meiste Zeit meine Begleiter sein. Ich pilgere auf einer neuen Teerstrasse, die glücklicherweise so gut wie platt ist. Deshalb kann ich höchstwahrscheinlich auf der rechten Seite bleiben. Dann sehen die Autofahrer schon aus weiter Entfernung meinen grossen, roten Rucksack.

Den ersten Hügel habe ich erklommen. Meine Aufmerksamkeit wird von zwei grossen Silberpappeln gefesselt, von deren Zweigen lianenartige Gewächse bis auf den Boden hängen. In Bruyeres et Montberault nehme ich die Abzweigung und wandere auf der D 903 in Richtung Bievres weiter. Jetzt befinde ich mich nur noch in hügeliger Waldgegend. Feuchtigkeit liegt noch in der Luft. Hummeln suchen in den Blüten nach Blütenhonig. Selten fährt ein Auto. Was für ein Glück, dass ich nur zu Fuss unterwegs bin. Denn ich wandere gerade in Serpentinen im Wald auf einer sehr guten, einsamen, ruhigen und geteerten Strasse bei Vogelgezwitscher bergan. Auf dem Bergrücken wächst beidseitig Korn. Auf dem Weg bergab in die Tiefe beflügelt mich der Duft des weissen Kälberkrauts. Die Kirschbäume tragen schon kleine, runde, grüne Kugeln. Auf dem Kornfeld schieben sich schon die Weizenähren aus den grünen Blättern. Eine wunderschöne, erikafarbene Orchidee nimmt meine Aufmerksamkeit gefangen.

Wenn es in Bievres eine Gaststätte gibt, werde ich dort zu Mittag essen. Mittlerweile zeigt meine Uhr 10.45 Uhr. Mir fällt dieses Lied „Und im Wald, da sind die Räuber ..." ein und schmettere es lauthals. Diese erikafarbenen Orchideen wachsen hier öfter. Den heutigen Tag bezeichne ich als meinen „Orchideen-Tag" Nun sehe ich blühenden Waldmeister. Bei dieser grünen und duftenden Pflanze fällt mir meine älteste Schwester Rotraut ein. Als ich sie das erste Mal in Hannover besuchte, als sie noch auf der tierärztlichen Hochschule studierte, ging sie mit mir in die Eilenriede, den Stadtwald von Hannover am Maschsees. Dort pflückten wir Waldmeister, den sie in ihrer Wohnung zu Waldmeister-Bowle ansetzte. Später tranken wir ihn mit Genuss. Während ich weiterwandere, zieht violette Akelei meine Aufmerksamkeit auf sich.

Bis Chermizy-Ailles erlebe ich einen traumhaften Abschnitt auf meiner Pilgerwanderung. Dem Gerstenfeld neben mir entströmt ein wunderbarer Duft wie damals die Kornfelder in Kalleby. Ich befinde mich auf der D 19. Wenn mich nicht alles täuscht, sind es noch sechs Kilometer bis Corbeny, wo ich eingebucht bin. Der Ort Bouconville Vauclair macht anfangs nicht den Eindruck, dass ich hier in einem Restaurant zu Mittag essen kann. Aber zweihundert Meter weiter finde ich doch eins an einer Kreuzung. Während ich darin ein leckeres, goldgelbes und duftendes Omelett esse, regnet es draussen. In diesem Restaurant können bis zu sechs Pilger übernachten. Der Wirt rät mir sehr davon ab, von Corbeny auf der Autostrasse nach Reims zu gehen. Darauf herrsche ein sehr hohes Verkehrsaufkommen. Habe daraufhin auf der halben Strecke bis Corbeny alle möglichen Gasthäuser angerufen und dieselbe Antwort erhalten: Alle Betten sind ausgebucht. Ein Gasthaus fehlt noch. Am anderen Ende der Leitung bekomme ich auf die Frage, wie teuer eine Übernachtung ist, die Antwort: Neunundachtzig Euro. Ich bin doch kein Rockefeller! Also sind mir alle Wege auf kleineren Strassen nach Reims vernagelt.

An allen Wochenenden sind hier sämtliche Übernachtungsmöglichkeiten von den Franzosen ausgebucht. Die nächste Möglichkeit, nach Reims zu kommen, ohne auf der gefährlichen N 44 zu wandern, wäre die Eisenbahn. Der Wirt berichtet mir, dass seine Frau sowieso gleich mit dem Auto zum Einkaufen in den Nachbarort fahren müsse. Sie wird mich mitnehmen und dort am Bahnhof absetzen oder dort, wo ich es möchte. Aber die Züge halten hier sonnabends und sonntags gar nicht, sondern fahren durch. Meine Gastwirtsfrau bietet mir an, mich ganz nach Reims zu bringen. Es bleibt mir keine andere Möglichkeit. So telefoniere ich vom fahrenden Auto mit der Jugendherberge in Reims und erhalte dort ein Einzelzimmer. Die Herberge soll nur einen Kilometer vom Bahnhof entfernt liegen. Am Bahnhof werde ich abgesetzt. Meine Wirtsfrau ist ein weiterer Engel auf meinem Pilgerweg und erhält eine Postkarte aus Rom. Nach langem Suchen erreiche ich die Herberge.

Reims ist eine Stadt im Nordosten Frankreichs, etwa 129 km von Paris entfernt. Verwaltungstechnisch ist Reims Unterpräfektur des Departments Marne, in der Region Champagne-Ardenne. Die Stadt ist Sitz eines Erzbischofs und besitzt seit 1969 eine Universität sowie Ausrüstungsgegenstände für die Raumfahrt werden dort hergestellt. Die Geschichte der Stadt reicht bis in die Zeit vor der römischen Herrschaft zurück.16

Besonders sehenswert ist das Palais du Tau, das 1690 von Mansart und Robert de Cotte erbaute Palais des Erzbischofs. Es beherbergt heute das Museum der Bauhütte der Kathedrale von Reims sowie Tapisserien, Skulpturen und Objekte, die an die Krönungszeremonie erinnern. Das Musée des Beaux-Arts von Reims gilt als eines der schönsten in der französischen Provinz. Untergebracht in der alten Abbaye Saint-Denis zeigt es Werke von Cranach, David, Delacroix, Daumier, Courbet, der Schule von Barbizon, Monet, Renoir und Gauguin. Originalgrafiken von Dürer werden im Hotel Le Vergeur ausgestellt, einer Villa, deren ursprüngliche Bausubstanz ins 13. Jh. zurückreicht.17

18. Mai 2008: Ruhetag in Reims

Nach dem Frühstück wandere ich kurz vor 8.00 Uhr in die Stadt. Mein erster Weg führt mich zur riesigen Kathedrale mit Skulpturen, Gemälden und bunten Glasbaufenstern. Anschliessend nehme ich an einer Messe teil. Während ich hinterher durch die Strassen schlendere und mir die Schaufenster angucke, nehme ich mir vor, doch morgen schon auszuchecken und weiterzuwandern. Der grosse Tiefausläufer mit Kälte und Regen von Osten kündigt sich an. Draussen ist es ungemütlich. Wieder zurück in der Herberge, ziehe ich mich schön warm an und gehe noch einmal ins Stadtzentrum, suche mir den Busbahnhof und forsche nach, welcher Bus mich morgen an die Stadtgrenze bringt, damit ich weiterwandern kann. Der Hunger quält mich. Erst abends um 20.00 Uhr gibt es in der Herberge etwas zu essen. So lange kann und möchte ich nicht warten.

Am Busbahnhof lese ich doch tatsächlich auf einem grossen Zettel: Am neunzehnten Mai fahren kaum Busse, höchstens alle Stunde einer. Das ist ja ein dicker Hund! Muss ich morgen also irgendwie zusehen, dass ich einen Bus erwische.

Nach dem Essen lege ich mich schlafen und werde für morgen positiv denken.

Meine beiden Engel
19. Mai 2008: Reims - Chalons-en-Champagne

Um 6.45 Uhr checke ich in der Jugendherberge aus. Draussen ist es kalt, aber trocken. In der Zwischenzeit befinde ich mich warm angezogen im Stadtzentrum bei der Bushaltestelle. Hier fährt wenigstens etwa jede Stunde ein Bus. So, irgendwann wird meiner wohl auch kommen.

Überall stehen die Leute an den Bushaltestellen traubenweise und geduldig, als sei dieser Zustand das Normalste von der ganzen Welt. Sie frieren in ihrer dünnen Sommergarderobe. Es gibt keine Bushaltestelle mit Dach und Bank wie bei uns. Man steht einfach auf dem Bürgersteig und wartet. So lenke ich mich ab und betrachte die Schaufenster, in denen nur wunderschöne, ganz dünne Kleider, Blusen und Hosen liegen. Bei diesem Anblick wird mir noch kälter.

Der Weg von Reims nach Besancon

Da aber absolut kein Bus kommt - sie kommen nur noch, wenn die Busfahrer es wollen - , gehe ich in die Apotheke an der Strassenecke und bitte darum, mir ein Taxi zu bestellen. Aber alle Taxen sind ausgebucht und unterwegs. Ist ja klar. Während ich frustriert in der Apotheke auf einem Stuhl sitze und nicht weiss, wie es weitergehen soll, kommt eine Frau herein. Sie wird auf mich aufmerksam und lässt sich von der Apothekerin über mich aufklären. Daraufhin lässt sie mich durch eine junge Verkäuferin, die Englisch kann, fragen, ob sie mich das Stück bis an den Stadtrand mit ihrem Auto bringen darf. Es sei ihr ein Bedürfnis, mir zu helfen. Ich strahle, glaube ich, wie ein Honigkuchen-Pferd. Sie ist ein weiterer Engel auf meinem Pilgerweg. Sie bittet mich, kurz zu warten. Gleich werde sie wiederkommen. Dann verlässt sie die Apotheke und erscheint tatsächlich nach ungefähr zehn Minuten mit einem glücklich strahlenden Lächeln und bittet mich, ihr zu folgen. Draussen steht ihr Auto. Ihr Mann steigt aus, begrüsst mich freundlich lächelnd, öffnet den Kofferraum und legt meinen Rucksack hinein. Ich darf einsteigen. Dann fahren diese beiden reizenden Menschen mit mir doch tatsächlich dorthin, wo ich aussteigen und weiterwandern möchte. Kurz davor fragen sie mich ganz eindringlich, ob sie mich nicht doch gleich bis Chalons-en-Champagne bringen dürfen. Die Frau erklärt mir auf Französisch in einfachen Worten, dass sie Rentner seien und sich verpflichtet fühlen, Menschen in Not zu helfen. Sie haben bei sich auch Zimmer, in denen Pilger schlafen dürfen, nicht nur Pilger, sondern auch bedürftige und kranke Menschen. Sie guckt mich dabei so bettelnd an, dass ich nicht mehr „nein" sagen kann sondern zustimmte. Aber sie möchten erst einmal nach Trepail fahren, wo ich heute schlafen wollte. Dort möchte sie dafür sorgen, dass ich den ersehnten Stempel für meinen Pilgerpass erhalte.

 

Die nette Frau dieser besagten Pilgerherberge ist überhaupt nicht böse. Sie kann vollkommen verstehen, dass man mich kleinen Zwerg mit dem grossen Rucksack nach Chalons-en-Champagne bringt. Und so fahren wir bei herrlichem Sonnenschein zwischen grossen Weinplantagen - Wein für den Champagner -, also durch die Champagne.

Ich mag meine Autogastgeber nicht darum bitten, für ein Foto anzuhalten. Da ich in Chalons-en-Champagne erst für morgen Abend eingebucht bin, rufe ich aus dem Auto dort per Handy an und frage, ob ich heute schon kommen darf. Ja, darf ich. Aber ein günstiges Zimmer haben sie erst ab morgen. Dann muss ich wohl oder übel den hohen Preis bezahlen. Und während wir durch die grosse Stadt fahren, sehe ich ein Hinweisschild zu einer Jugendherberge. Bei diesem Anblick geht mir durch den Kopf: Wenn ich im Hotel nur ein teures Zimmer erhalten kann, dann werde ich, bevor ich dort hineingehe, erst einmal fragen, ob ich in der Jugendherberge übernachten darf. Ist es dort günstiger, dann schlafe ich da. Auf den Türstufen vor dem Hotel stehend, winke ich meinen Engeln zum Abschied und warte, bis sie hinter der nächsten Kurve verschwunden sind.

Nun suche ich die Jugendherberge auf. Dort erhalte ich ein Bett in einem Grossraum. Im Aufenthaltsraum esse ich meine zwei Äpfel und mein Baguette aus der Herberge von Reims, um meinen ersten Hunger zu stillen. Zwei Fusspilger aus Belgien befinden sich schon hier. Sie tragen grosse Rucksäcke. Die junge Frau trägt nur die leichten und ihr Mann die schweren Sachen. Sie kocht und bereitet das Essen vor und wäscht die Wäsche, die schon draussen auf einem Strick in der Sonne zum Trocknen aufgehängt wird. Dieses Ehepaar wandert nach Le Puy de Port.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass Pilger auf dem Pilgerpfad den Zeichen folgen sollen, die ihnen geschickt werden. Und das waren heute erstens das hilfreiche Ehepaar mit ihrem Auto und zweitens das Hinweisschild zur Jugendherberge.

Im Stadtzentrum treffe ich einen weiteren Pilger, Benedikt aus England. Er ist genauso wie ich von Canterbury in England auf der Via Francigena nach Rom unterwegs. Er ist sehr freundlich und trägt einen riesigen Rucksack, in dem er sogar ein Zelt und alles fürs Camping transportiert.

Wieder zurück von einem kleinen Gang ins nahe liegende Stadtzentrum, ist in der Zwischenzeit ein Fusspilger aus Belgien eingetroffen. Auf meiner Karte suche ich mir den Weg, auf dem ich morgen die Stadt verlasse. Gerade, als ich aufstehe, um in der Stadt meine Postkarten in den Briefkasten zu werfen, radeln zwei Wanderfahrer auf den Hof, auch zwei Belgier. Diese drei belgischen Pilger sind alle auf dem Weg nach Santiago de Compostela, einem sehr beliebten Ziel. Sie besitzen sehr gutes Kartenmaterial, nach dem sie sich richten. Das gibt es in Holland: LE GUIDE.

Ich bin müde und gehe gleich schlafen. Für diesen grossen Schlafraum für Männlein, Weiblein und Kindlein gemischt, der mit zwölf Betten ausgestattet ist, gibt es nur eine einzige Toilette, zwei offene Duschen und drei Waschbecken. Das kann heute Nacht noch interessant werden. Diese Betten haben genauso wie die Herbergen am Camino nach Santiago de Compostela nur Matratzen. Glücklicherweise liegen zum Zudecken weiche, dicke Wolldecken am Fussende. Ich besitze nur meinen ganz dünnen Seidenschlafsack. Dahinein werde ich schlüpfen und mich mit drei zusammengeschlagenen Decken übereinander zudecken, ich Frostbeule.

Das Musée Municipal ist ein hübsches Provinzmuseum mit einer eklektischen Sammlung von grossem Wert. Nebst einer der grössten französischen Ausstellungen zur L-Tène-Zeit, die grosse Ganggrabanlagen zeigt, werden einige gallo-römische Stelen ausgestellt, aber auch indische Statuen, flämische, französische und spanische Malerei, alle in Frankreich heimischen Vögel oder das Intéreur eines typischen Hauses der Champagne aus dem 19. Jh.18

Châlons en Champagne, Stadt der Kunst und Geschichte, besitzt ein beachtliches religiöses und weltliches Kulturerbe: Bewundern Sie die Schmuckstücke kirchlicher Architektur, flanieren Sie durch die Gassen der Altstadt und entdecken Sie ihre Geschichte anhand der alten Gebäude, von denen einige Fachwerkhäuser noch aus dem Mittelalter stammen, der ehemaligen Klöster und Abteien sowie der Bürgerpaläste, die heute Rathaus, Präfektur oder Handelskammer beherbergen.19

Soupe verte Chálonnaise

Je eine Handvoll Sauerampfer, Brennnesseln, Löwenzahn, Spinat und Stangensellerie hacken und mit einem Lorbeerblatt, Salz, Pfeffer und 8 Knoblauchzehen in 2 l kaltes Wasser geben und aufkochen. In jeden Suppenteller ein Stück altbackenes Brot legen, ein Ei darüber aufschlagen und mit der Suppe übergiessen. Soll die Suppe gehaltvoller werden, kann Weizen oder Hafer mitgekocht werden.

Das Pilgerpärchen
20. Mai 2008: Chalons-en-Champagne - Coole

In der Nacht schlief ich wie ein Murmeltier. Die Sonne ist gerade aufgegangen und sucht sich mit ihren Strahlen den Weg durch das Blätterdach der Bäume. Draussen ist es lausig kalt. Es ist 6.50 Uhr. Erst um 7.30 Uhr gibt es Frühstück. Das junge Ehepaar hat sein mitgebrachtes, eigenes Frühstück gegessen und mit grossen Schritten das Grundstück verlassen. Heute geht es für mich nach Coole. Ich hoffe, dass ich dort schlafen kann. Konnte mich nur anmelden, indem ich aufs dortige Band sprach.

Das war heute früh witzig: Während ich am Waschbecken stand und mich wusch - hatte nur wenig an - , wollten Männer auch herein und sich frisch machen. Sie hatten auch nur einen Slip an. Sie wuschen sich am Waschbecken neben mir. Wir schmunzelten uns zu. Das ist nun mal so in einer einfachen Pilgerherberge.

Das Frühstück gibt es noch viel später, als angekündigt, weil der Herbergsvater eine Familie mit zwei kleinen Kindern hat und seiner Frau bei den häuslichen Notwendigkeiten hilft. Danach erst fährt er in die Stadt und kommt mit mehreren langen Stangen appetitlich duftender Baguette wieder. Das Wasser läuft mir bei dem Duft und Anblick im Mund zusammen und ich muss schlucken, kann gar nicht abwarten hineinzubeissen. Spät um 8.30 Uhr verlasse ich die Herberge.

Nun wandere ich in der Nähe des La Marne lateral Canals die Stadt gen Süden entlang und komme in eine grosse, flache Auenlandschaft mit Feldern und Bäumen. Habe in der Zwischenzeit mit der Frau in Coole telefoniert. Sie hat meine Nachricht verstanden, die ich aufs Band sprach. Sie arbeitet in Coole im Rathaus, der Mairi. Dort soll ich sie aufsuchen, sobald ich Coole erreicht habe. Sie ist bis 19.00 Uhr dort. Falls ich früher ankomme, bringt sie mich mit ihrem Auto in ihr Haus und fährt wieder zurück zu ihrer Arbeit.

Also auf, du junger Wandersmann! Die Sonne scheint. Die grosse Kälte ist hier nicht zu spüren. Wenn es wärmer wird, kann ich mich ja entsprechend entblättern. Die beiden belgischen Pilgerwanderer sagten mir heute früh - die Belgier sprechen Deutsch und Englisch - , dass sie im Fernsehen den Wetterbericht für die nächsten Tage sahen. Das schöne Wetter hält nur noch heute und morgen an. Danach regnet es. Ich hoffe, dass es trotzdem trocken bleibt. Mit meiner Fleecehose bin ich zu warm angezogen. Also anhalten, alles Warme ausziehen und die dünneren Leggins an.

Um 9.10 Uhr befinde ich mich noch auf einem kleinen Querweg und warte auf den abzweigenden, schmalen Wanderweg. Gerade überholt mich mal wieder ein Personenkraftwagen. Aber dieser dreht vor mir in ungefähr zweihundert Metern wieder um, kommt mir langsam entgegen, fährt auf den Grünstreifen und hält an. Glücklicherweise biegt mein Wanderweg schon vorher ab. Ich hoffe, dass mir der Mann nicht folgt. Ein Spruch aus meinem Poesie-Album aus der Kallebyer Schulzeit fällt mir dazu ein: „Schaue vorwärts, nie zurück. Frischer Mut ist Lebensglück." Das ist leicht gesagt. Das mir unheimliche Auto, das da hinten angehalten hat, ist mir zum Glück nicht gefolgt.

Meine Suche gilt dem Übergang über den rechterhand fliessenden Kanal. Eine etwas getrocknete Furt ist zu sehen. Hier sind tatsächlich Wanderer durchgestiefelt und sind dabei mit ihren grossen Wanderschuhen ganz schön tief eingesunken. So etwas mache ich nicht. Es wird wohl noch eine Brücke kommen. Hoffentlich befinde ich mich nicht am verkehrten Wasserlauf! Aber irgendwie komme ich bei Sogny-aux-Moulins schon noch rüber auf die andere Seite.

Früher hatte mir am Zelten am meisten gefallen, dass ich mich die ganze Zeit in frischer Luft aufhielt und dass ich morgens bei Vogelgezwitscher in meinem Schlafsack aufwachte. Aber das Vogelgezwitscher habe ich auch hier, wenn ich durch die Landschaft wandere. Weil ich die Brücke nicht finde, die auf meiner Karte zu sehen ist, mache ich einen Umweg und erreiche Sogny-aux-Moulins. Auf der D 80 werde ich die Landschaft schräg bis Cernon überqueren. Es ist 10.40 Uhr. Zum Glück ist diese Strasse neu überteert, ganz platt und nicht gewölbt. Darauf bekomme ich mit meinen Fuss- und Beingelenken keine Probleme. Bald verwandelt sich die platte Gegend in eine Hügellandschaft mit Feldern. In einem Restaurant von Cernon lege ich meine Mittagspause ein. Mein heutiger Weg von Chalons-en-Champagne bis Coole ist ungefähr fünfundzwanzig Kilometer lang. Das sind umgerechnet gute sechs Stunden.

Das Allerneueste: Ich habe jetzt die D 80 hinter mir, bin in Richtung Coole abgebogen und befinde mich auf der D 3. Und wie ich so vor mich hinwandere, höre ich Stimmen hinter mir, drehe mich um und denke, ich sehe nicht richtig. Da kommt ein ganz flotter älterer Mann zu Fuss mit einem hinter sich hergezogene Anhänger, der auf einem kleinen Gummirad läuft, mit grossen Schritten daher. Einen Mann mit einem ähnlichen Anhänger sah ich im letzten Jahr auf meinem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Natürlich fotografiere ich ihn. Er mich ebenso. Ihn begleitet eine junge Frau. Auf diesem Anhänger, der beidseitig an seiner Hüfte hängt, befindet sich auch ein Zelt mit vollständiger Campingausrüstung für sich und die junge Frau. Er hat ein GPS-Gerät bei sich, das ihm anzeigt, wie weit er gewandert ist. Bis hierher sind es von Canterbury schon vierhundertvierundvierzig Kilometer. Er spricht nur Italienisch und die Frau nur Litauisch.

Mein kleines bisschen Italienisch wird jetzt aufgefrischt. Dabei schlagen meine letzten zwei ein halb lebenden, grauen Gehirnzellen Purzelbäume. Die beiden wollen wie ich nach Rom. Aber der Mann hat ja ein Tempo drauf! Dem kann ich nicht folgen. Sie gehen mir zu schnell. Bin davon schon ganz aus der Puste und bleibe zurück. Schliesslich möchte ich ja noch bis Rom wandern. Und ich trage ja den schweren Rucksack im Gegensatz zu der jungen Frau, auf deren Rücken nur so etwas wie ein Rucksack in Kleinformat zu sehen ist. Ihr anderes Gepäck zieht der Mann hinter sich her, der offensichtlich nicht weiss, wo er mit seinen überschüssigen Kräften hin soll. Auf seinem Anhänger sehe ich ein Solar-Gerät.

Auf dieser Wanderung lerne wieder, die Blumen zu sehen. Bei ihrem Anblick geht mir das Herz auf. Die ersten Schirmpinien stehen als Vorboten von Rom an der Strasse und spenden mir erfrischenden Schatten. Ich schätze, drei Kilometer vor Coole zu sein. Die Sonne scheint. Es ist schön warm. Meine linke Wade und meine Füsse schmerzen. Und eigentlich bin ich auch müde. Erst um 16.00 Uhr erreiche ich mein heutiges Ziel. Meine junge Wirtin bringt mich in ihrem Auto zu ihrem Haus und erklärt dem Pärchen, wie es mit dem Anhänger zu Fuss dorthin finden kann. Sie dürfen auf dem Hof ihr Zelt aufstellen.

In der Zwischenzeit befinde ich mich in dem verlassenen Zimmer ihres ausgezogenen, grossen Sohnes.

Heute habe ich eigenartigerweise auf dem Fussrücken rote, dicke Stellen bekommen. Es sieht nicht gut aus. Eine ähnliche Stelle sehe ich auch auf meinem Brustbein, wo sich über Tag die Querverbindung meiner Rucksackträger befindet. Werde die Stellen mit Penatencreme einreiben. Die heutige Wanderung war wohl ein bisschen viel. Morgen soll ich um 7.00 Uhr zum Frühstück hinunterkommen. Nun möchte ich mich nur noch ausruhen und schlafen! Mit den bis hierher gewanderten vierhundertundsechzig Kilometern habe ich ein Viertel meiner gesamten Strecke bis Rom schon hinter mir. Es geht aufwärts!