Abenteuer Via Francigena

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Meine geheimnisvolle Wirtin
25. Mai 2008: Ruhetag in Autre-Aube

Meine Knie sind noch schmerzfrei. Habe aber mit meiner Wirtin abgemacht, dass ich bei ihr noch eine weitere Nacht schlafe, um mich ganz und gar zu erholen. Draussen scheint die Sonne. Wolken schwimmen am Himmel. Aber es ist trocken. Morgen geht es weiter. Und ich kann in Richebourg schlafen. Habe mich dort gerade durch meine Wirtin anmelden lassen. Nach dem Frühstück lege ich mich noch einmal für drei Stunden schlafen. Zum Mittagessen wandere ich zum Hotel, in dem ich gestern auch ass. Meine Strecke bis Richebourg ist dreissig Kilometer lang. Mal sehen, wie meine Füsse das durchhalten. Während ich auf einer Bank in der Nähe des Flüsschens Aube sitzen, zwitschern, singen, knarren und jubilieren Vögel. Ich weiss gar nicht, wie lange es her ist, dass ich jemals so friedlich auf einer Bank gesessen und den Vögeln gelauscht habe. Eine sagenhafte Ruhe bemächtigt sich meiner.

Meine Wirtin besitzt einen rundum abgeschlossenen Bauernhof. Darin sitze ich später ganz lange unter einem Baum auf einer Bank und beobachtete um mich herum das friedliche Treiben ihres Federviehs, bestehend aus verschiedenen Hühnerrassen, Laufenten und Gänsen. Zwei zahme Hunde gehören auch zum Hof. Die warme Luft, die Ruhe, die Geräusche des Federviehs nehme ich in mich auf. Alles erinnert mich an unseren Hühnerhof in Kalleby bei Flensburg und in Nebel auf Amrum. Hier fehlen nur noch die Tauben, die bei uns gurrten. Das war Idylle pur. Während es draussen schön warm ist und ich in dieses alte Bauernhaus mit den grossen Steinfliesen und Steinwänden eintrete, empfängt mich darin lausig kalte Luft.

26. Mai 2008: Autre-Aube - Langres

Heute Nacht hat es geregnet. Die Nacht verbringe ich in meinem Zimmer unbewusst gemeinsam mit einem Haustier, einer Schnake. Ich scheine wohl nicht zu schmecken; sonst hätte sie mich gestochen. Habe mich gestern sehr gut erholt. Die Zeit bis zum Frühstück wird mir recht lang. Beim Frühstück erzählt mir meine Wirtin, dass ihr Vater damals neunzehnhundertneununddreissig mit seiner ganzen Familie aus Elba an der Danziger Bucht vor Hitler nach Mecklenburg und später ganz bis Frankreich geflohen ist. Dort fand er Arbeit und demzufolge auch eine Wohnung für seine Familie. Meine Wirtin war zu der Zeit erst ein Jahr alt. Später arbeitete sie drei Jahre in ihren Jungmädchenjahren in Bingen am Rhein. Sie erzählt, dass sie, falls sie dort einen Deutschen geheiratet hätte, zuerst die ganze Schwiegerfamilie und später auch ihren Mann vergiftet hätte. Danach erzählt sie mir ganz stolz, dass ihre Enkeltochter zu ihr gesagt hatte: "Grossmutter, wenn ich gross bin, lerne ich in einer sehr guten Reitschule das Reiten. Dort suche ich mir dann einen ganz alten und reichen Mann. Wenn er mich geheiratet hat, vergifte ich ihn und erbe das ganze Vermögen."

Deshalb bin ich froh, heute früh abzureisen. Hoffentlich hat sie mir nicht auch Gift in mein Essen getan! Aus diesem Grund kann ich auch nicht in Richebourg wohnen, wo sie mich anmeldete und mit der dortigen Wirtin am Telefon viel lachte. Denn die Frau am anderen Ende der Leitung ist ihre Freundin. Langsam leide ich wohl unter Halluzinationen. Mit diesem unangenehmen Gefühl verlasse ich eiligst mein Quartier der letzten zwei Nächte bei strömendem Regen. Bei dem Sauwetter wandern? Muss nicht sein. Deshalb schlage ich den Weg zur Bushaltestelle neben dem Hotel ein. Dort wartet schon ein junger Mann, der Englisch sprechen kann, auf den Bus nach Bar-sur-Aube. Er rät mir, bis dorthin mitzukommen und mit der Eisenbahn bis Langres zu fahren. Der Bus soll in zehn Minuten eintreffen.

Der Bus bringt mich zum Bahnhof. Bald halte ich in meinen Händen ein Ticket nach Langres. Der Zug fährt erst um 13.30 Uhr. Ein Internet-Café gibt es hier nicht. Meinen Pfefferspray, das ich bis jetzt in meiner Bauchtasche mit mir herumtrug, kann ich getrost in meinen Rucksack stecken. Hier in Frankreich darf kein Hund frei herumlaufen. In der Eisenbahn sitzt mir ein ganz netter, älterer Herr gegenüber, der mich sehr an meinen verstorbenen Vetter Ulrich erinnert. Dieser Herr erzählt mir stolz, dass er schon zweimal nach Santiago de Compostela gewandert ist, einmal den Camino Francès und einmal oben an der Küste entlang. Und in diesem Jahr startet er seine Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela auf dem Camino in Portugal. Seit der ersten dieser Pilgerwanderungen leide er an Knieschmerzen. Aber er beisst die Zähne aufeinander, lässt sich nicht unterkriegen und setzt seine Wanderungen fort. Er ist kein Weichei!

Während der Eisenbahnfahrt giesst es draussen "junge Hunde und junge Katzen" und ich bin froh, nicht gerade zu dieser Zeit auf der Strasse entlang wandern zu müssen. Die Bahn bringt mich in recht hügeliges Gelände. Als ich in Langres aus dem Zug steige, wird mir geraten, mit einem Bus zu fahren. Denn Langres liegt weit entfernt auf einem hohen Berg. Es handelt sich hierbei um eine beachtenswerte Stadt. Sie ist rundherum von einer zweitausend Jahre alten, heilen und hohen Festungsmauer mit Türmen und Toren umgeben. Ein ganz erhabenes Gefühl, hier sein zu dürfen, bemächtigt sich meiner. Habe in der hiesigen Jugendherberge ein ganz nettes Zwei-Bett-Zimmer für zwei Nächte erhalten. Frühstück gibt es nicht. Daher kaufe ich bald ein. Mein Mittagessen besteht aus Müsli mit Milch und einer dicken Traube dunkelroter Weintrauben. Schräg gegenüber steht ein Internet-Shop, in dem ich ganz neugierig meine Briefe lese und beantworte. In dieser kleinen Gaststätte sitzen drei deutsche, grosse, starke Fahrradfahrer, die auf ihrer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela in Spanien unterwegs sind. Für sie ist es ein Kinderspiel.

Während ich - wieder zurück auf meinem Zimmer - esse, kommen mir noch einmal die ganzen Aussprüche meiner letzten Wirtin ins Gedächtnis zurück. Da erst begreife ich das Ausmass: Ihr Vater ist vor Hitler geflohen, weil sie jüdischer Herkunft waren und konnten auf diese Weise dem sicheren Tod durch Vergasen entfliehen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie aus Hass auf die Deutschen ans Vergiften dachte. Sie konnte mir schon seit meiner Ankunft nicht in die Augen sehen. Ich hatte mich bei der Buchung für ein Bett ja als deutsche Pilgerin vorgestellt. Und trotzdem hat sie mich aufgenommen. Mir fällt ganz unbewusst das Gedicht "Die Füsse im Feuer" von Conrad Ferdinand Meyer ein. Der Vergleich hinkt zwar sehr, trifft aber ansonsten den Nagel auf den Kopf. Die armen Leute! Ich bin froh, nicht in ihrer Haut gesteckt zu haben.

Draussen regnet es wieder. Von meinem Zimmer kann ich durchs Fenster tief hinunter zur normalen Ebene sehen. In der Nähe liegt ein See. Eben vor 21.00 Uhr wache ich noch einmal von eigenartigen Geräuschen auf. Was ist das? Ein laufender Wasserhahn? Nein, der ist es nicht. Der Regen peitscht gegen meine Fensterscheibe. Draussen tobt der reinste Weltuntergang mit Donner und Blitz und Wolkenbruch. Nachts kann es meinetwegen ruhig regnen. Ich bin froh, in einem Zimmer zu schlafen und nicht in einem Zelt. Habe ich es gut. Hauptsache, morgen früh ist es wieder trocken. Und die rot-schwarz-karierten Decken, mit denen ich mich zugedeckt habe, müssen aus Pferdehaaren hergestellt worden sein. Sie pieken durch meinen Seidenschlafsack. Eigenartig, dass mir die Herbergsleitung keine Leinenbettwäsche ausgehändigt hat. Morgen früh muss ich mal nachfragen. Habe mir gerade überlegt, was ich gegen das Pieksen mache. Denn dabei kann ich nicht wieder einschlafen. Da fällt mein Blick auf das zweite Bett mit einem Kissen. Letzteres lege ich mir auf meinen Bauch und ziehe die Decke darüber.

Im Departement Haute-Marne liegt das Städtchen Langres, dessen Bauwerke und Herrenhäuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert sowie seine Kirchen einen Besuch lohnenswert machen. Langres besitzt noch vier Kilometer seiner Stadtmauern. Sie sind ein schönes Beispiel dermilitärischen Architektur des 14. Jahrhunderts.23

Gallorömische Kunstwerke, schöne Mosaiken und Exponate aus dem Leben des Dichters Denis Diderot zeigt das Musée d'Art d'Histoire de Langres.241

27. Mai 2008: Ruhetag in Langres

Habe eben in meinem Zimmer das Rollo hochgezogen. Draussen liegt eine einzige Nebelsuppe wie in einer Waschküche über der Landschaft unterhalb des Berges mit der darauf thronenden Stadt Langres. Es scheint lausig kalt zu sein. Der Mann, der dort unten auf ein Auto wartet, ist angezogen, als hätten wir Winter. Regentropfen zieren um 7.00 Uhr mein Fenster. Nach dem Duschen esse ich mein gestern gekauftes Frühstück auf dem Zimmer. Die Kälte hält mich von einer Stadtbesichtigung ab. Mein Zimmer liegt im ersten Stock. Der Blick geht weit hinaus über das Land in Richtung Osten. Wind schleudert Regen gegen die Fensterscheibe. Gerade sehe ich unten auf der Strasse jemanden auf seinem Fahrrad fahren. Er taucht nur ganz kurz aus der dichten Wolke auf und verschwindet ebenso schnell. Igitt, auch die anderen armen Pilger, die heute zu Fuss weiter müssen. Welch ein Glück, dass ich nicht darauf angewiesen bin, bei diesem Wetter zu wandern. Solange dieses Mistwetter draussen anhält, bleibe ich hier in meinem kuscheligen Zimmer.

Es ist kurz vor 10.00 Uhr. Obgleich sich der Morgennebel gehoben hat, tropft es. Bis zum Nachmittag falle ich in einen dreistündigen Erholungsschlaf. Nun besichtige ich den Altstadtkern und kaufe ein.

Mit der Quartierbeschaffung bekomme ich Probleme. Auf der Strasse, die ich mir zu Hause ausgesucht hatte, finde ich kein Schlafquartier. So durchforste ich meine Übernachtungsliste. Die Orte, in denen ich schlafen könnte, befinden sich nicht auf meiner Karte. Meine selbst ausgetüftelte Streckenkarte habe ich zu schmal an beiden Seiten abgeschnitten. Aber ich habe Glück: In einem Buchladen finde ich die passende Karte, die an meine grenzt. So markiere ich mir darauf die neue Strecke mit den Quartieren, schneide sie aus und füge die entsprechende Kartennummer an. Ich habe nämlich zu Hause alle Kartenausschnitte nummeriert. Per Handy buche ich bis Sonntag alle fünf Quartiere durch.

 

Francois
28. Mai 2008: Langres - Les Archots

Bin bis auf die Regenjacke, die ich mir noch anziehe, um 6.40 Uhr in der Jugendherberge gestiefelt und gespornt. Es soll heute eigentlich nicht regnen. Mit dem Rucksack auf dem Rücken und der kleinen Tasche vor dem Bauch wandere ich los. Heute geht es nach Les Archots. Befinde mich unterhalb der Jugendherberge und suche meine N 17. Dabei treffe ich eine ganz reizende Dame, die ich nach dieser Strasse frage. Sie beruhigt mich und erklärt mir, dass ich gerade darauf wandere. Sie spricht sogar fliessend Deutsch und vertraut mir an, dass sie nie schlafen kann, nur mit starkem Schlafmittel. Darauf rate ich ihr, den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu wandern. Danach braucht sie keine Medizin mehr, kann schlafen und kommt ganz gesund nach Hause. Sie strahlt ganz glücklich und meint, dass sie dann mit Gepäckbegleitung auf dem Camino wandern möchte. Das Geld dazu habe sie. Ich rate ihr noch, gut vorher zu trainieren, um ihre Füsse, Beine und ihr Herz zu stärken. Mit einem Lächeln verabschieden wir uns und gehen unserer Wege.

Es ist warm genug, um in meiner langärmligen Bluse zu wandern. Und beidseitig meines Halses liegen unter den Rucksackträgern die Wandersocken. Ein Auto kommt von hinten, hupt und bleibt vor mir stehen. Darin sitzt die nette Dame, die ich vorhin traf. Sie möchte mich unbedingt bis nach Challindrey mitnehmen, weil sie von mir noch mehr wissen möchte. Dieses Angebot kann ich nicht ablehnen und steige zu ihrem Entzücken ein. Sie erkundigt sich nach der Kleidung für den Pilgerweg und wie sie hier dafür trainieren kann. Auch möchte sie wissen, wie es mit dem Essen und den Schlafunterkünften beschaffen ist. Ich schlage ihr vor, mit einer Busgesellschaft mitzufahren, die während ihrer täglichen Wanderung das Gepäck zu dem nächsten Hotel transportiert. Dort sei ein Bett für sie reserviert. Diese neue und interessante Zukunftsplanung für das nächste Jahr macht sie ganz aufgeregt. Sie strahlt und lacht. Es ist noch verhältnismässig früh, als ich mich dankend in Chalindrey von der netten Dame verabschiede. Als nächstes suche ich mir ein Restaurant, um zu Mittag zu essen.

Es ist 12.30 Uhr. Ich befinde mich hier in einer leicht welligen Wald- und Wiesenlandschaft.

Bei herrlichem Sonnenschein kommt mir eine leichte Brise entgegen. Die grossen Graswedel neigen sich im Wind. Es ist schön. In einer Entfernung überquert gerade ein Marderhund die Strasse und springt ins Kornfeld. Bin jetzt nach Les Archots abgebogen, und wandere durch Buchenwald. Aus einem einsamen Haus tritt zufällig eine mich freundlich anblickende Frau, die ich grüsse. Wir kommen ins Gespräch. Mit meinen Französisch-Fetzen frage ich sie nach der Lage meiner heutigen Unterkunft. Sie kennt sie genau und gibt mir bereitwillig Auskunft. Neben mir fliesst ein schmaler Fluss. Nach ihrer Beschreibung soll ich gleich abbiegen, die nächste kleine Brücke überqueren und das zweite Haus aufsuchen.

Hier ist es himmlisch! Wald, Ruhe und warmer Sonnenschein. Ich weiss gar nicht, nach welchen Blumen und Blättern es hier so paradiesisch duftet. Um 13.00 Uhr erreiche ich schon mein Quartier. Als ich heute früh bei meinem Wirt buchte, informierte er mich darüber, dass ich bis 18.00 Uhr warten müsse, weil er bis dahin arbeitet. Also lasse ich mich im Schatten seiner grossen Zeder in der Nähe des kleinen Wasserlaufs nieder, in dem Singfrösche ihre Stimmen erproben und in Wettkampf treten, ruhe mich aus und warte.

Nachmittags um 15.00 Uhr quält mich der Hunger. Aber hier im Wald gibt es nichts zu kaufen. Die fröhlich quakenden Frösche haben sicher genügend Fliegen und Mücken in ihrem Bauch. Neben dem Wasserlauf steht ein rosa blühender Jasmin. Mir kommt der Einfall, dann eben die Blümchen davon zu essen. Nun bin ich dabei. So besonders schmecken sie nicht gerade. Säuerlich sind sie auch. Vielleicht ist das ja ganz gesund? In der Blüte, die ich gerade in der Hand halte, sehe ich einen ganz dicken Ohrkneifer. Na, da reicht es mir doch, werfe sie weg und pflücke mir nur noch total geschlossene Knospen ab. Die schmecken auch aus irgend einem Grund ein wenig besser. Nach einiger Zeit quält mich Bauchkneifen. War da doch in einer Blüte noch ein übersehener Ohrkneifer, den ich aus Versehen mit aufgegessen habe und der sich jetzt in meinem Magen an mir rächt?

Und dann fällt mir ein, dass ich vom Frühstück noch Müsli-Flocken übrig habe. Also hin zum Rucksack und die Tüte hervorgeholt. Und da diese Müsli-Flocken-Tüten wasserdicht ist, giesse ich aus meiner einen Wasserflasche Wasser hinein und löffle alles aus. Nun bin ich satt. Der glänzende Wasserlauf animiert mich zum Baden. Aber in diese dreckige Brühe gehe ich lieber nicht. Nun sitze ich weiterhin unter der grossen Zeder. Die Sonne ist schon weiter gewandert. Die Frösche quaken im mehrstimmigen Chor. Die Vögel zwitschern drüben. Amseln suchen nach Futter für ihre Jungen im Nest. Und ich habe Langeweile. Werde die Augen schliessen und sitzen. Hinlegen kann ich mich nicht. Möchte ja keine Zecken irgendwo haben. Habe auch keine Decke mit. Aber das überlebe ich auch noch. Es ist besser so, als todmüde mit schwerem Rucksack gebeugt auf der Landstrasse dahin zu schleichen.

Um 17.50 Uhr werde ich langsam ein wenig unruhig und kann auch nicht mehr sitzen. Gehe hin und her. Dabei treffe ich eine ältere Frau vor dem Nachbargrundstück und frage sie, ob ich hier bei O. Francois richtig bin. Leider nicht. Sie zeigt mir das richtige Haus, das sich vor und nicht hinter der Brücke befindet. Ein junges Ehepaar aus Frankreich wartet auch schon auf den Gastgeber. Es ist kurz nach 18.00 Uhr. Dann wird er wohl bald auftauchen, während ich vor seinem Haus im Schatten auf einem Stein sitze. Dieses Haus steht auf einem ganz ruhigen Fleckchen Erde. Eben fährt ein Auto auf den Parkplatz. Ein Franzose steigt aus und steuert das Haus an. Ich gehe ihm entgegen und frage ihn, ob er O. Francois sei. Er verneint es und verschwindet im Haus. Er scheint sich hier auszukennen, kommt bald wieder heraus und fährt weg. Vielleicht holt er Francois ja. Meine Füsse brennen. Sie möchten aus dem Gefängnis, den Schuhen, heraus. Hab die Schuhe kurzerhand ausgezogen und mir an die nackten, ganz blassen Füsse meine Flip-Flops gezogen. Siehe da. Die Füsse bekommen wieder Farbe! Ihnen fehlte die Luft. Der Durst quält mich so sehr, dass ich einfach durch die offene Tür vor mir gehe. Dort finde ich die Küche und lösche meinen Durst am Wasserhahn. Dieses Wasser ist nicht gechlort.

Der Wirt trifft bald ein und bringt mich nach oben in die I. Etage in mein Zimmer. Francois bereitet mir nachher noch Essen zu. Er bewirtschaftet das grosse Haus ganz allein. Hier können Gruppen schlafen und essen.

Als ich zur verabredeten Zeit unten im grossen Esssaal mit dem sehr langen Esstisch auf einem gediegenen Stuhl sitze, bringt er mir mein Essen und fragt:

"Wie alt bist du?"

"Siebzig" sage ich und zeige ihm den Pilgerpass.

"Tatsächlich", meint er und guckt mich an, als könne er es trotzdem nicht glauben. "Hast du in deinem Leben überhaupt mal gearbeitet?"

"Doch", sage ich. "Gerade weil ich soviel gearbeitet habe, geht es mir so gut."

Aber ihm nicht, wie er mir mit traurigen Dackelaugen erklärt. Er raucht und trinkt. Männer! "Das Essen brauchst du nicht zu bezahlen, nur die Übernachtung." Dabei formt er mit dem Zeigefinger und dem Daumen der linken Hand ein Loch und piekt mit seinem anderen Zeigefinger mehrmals in das Loch.

Ich bin überrascht, glücklich und dankbar, dass ich mein Abendessen nicht zu bezahlen brauche und mein Geld spare. Francois ist ein ausgezeichneter Koch. Er tafelt mir mehrere Gänge nacheinander auf. Superb! Zwischen den gebratenen Champignons befindet sich noch etwas anderes. Vielleicht Algen? Den Rotwein, den er mir hinstellt, soll ich trinken. Ich lehne ihn ab, weil ich keinen Alkohol trinke. Aber er besteht darauf. Brav setze ich ihn an und probiere. Der schmeckt!!!! Trinke das ganze Glas in einem Zuge aus. Francois ist begeistert. Er füllt es gleich wieder auf. Ein hingestelltes Glas Wasser trinke ich auch noch leer. Nun habe ich den Eindruck, dass mir aufgrund der grossen Menge dessen, was ich alles gegessen und getrunken habe, alles bald zu den Ohren hinauslaufen wird. Francois sagte vorher noch zu mir, dass er alles aufisst, was ich nicht schaffe. Für ihn ist so gut wie nichts übrig geblieben. Als er mir seinen Stempel in meinen Pilgerpass drückt, moniert er:

"Warum bist du heute nur fünfzehn Kilometer gewandert?"

"Weil ich morgen dreissig Kilometer vor mir habe", erkläre ich ihm. "fünfundvierzig Kilometer kann ich unmöglich an einem Tag schaffen."

Er schmunzelt, setzt noch sein Autogramm unter seinen Stempel und bittet mich:

"Komme morgen bitte nicht allzu früh zum Frühstück herunter."

Nun befinde ich mich hier oben auf meinem Zimmer und bin bis unter die Haarspitzen glücklich voll gefuttert. Später grummelt es wieder in meinem Magen. Grossen Problemen vorbeugend, nehme ich lieber gleich dreissig Tropfen Para-X und trinke ein Glas Wasser hinterher.

29. Mai 2008: Les Archots - Champlitte

Ich melde mich um 7.20 Uhr aus meinem Zimmer im ersten Stock. Die Probleme im Bauch sind verschwunden. Habe alles im Griff. In der Nacht tobte ein lautes und lang anhaltendes Gewitter. Heute früh sieht es trocken aus. Aber höchst verdächtigerweise tropft von dem Dach Wasser. Der Himmel ist grau bezogen. Ich hoffe, die Wolkendecke hebt sich noch. Aber es nützt alles nichts. Ich muss weiter. Vielleicht stammte mein Bauchgrimm nicht von den Blüten, sondern von Bakterien in meinen Wasserflaschen? Habe nun gerade in jede Flasche fünf Tropfen PARA-X geträufelt. Heute geht es ungefähr dreissig Kilometer nach Champlitte. Dieser traumhafte Rotwein von Francois des Jahrgangs zweitausend und sechs war einsame Spitze! Früher, als ich noch Wein usw. zu Feiern trank, bekam ich immer hinterher Kopfschmerzen. Aber von Francois Wein nicht. Deshalb schrieb ich mir noch das ganze Etikett ab, um ihn mir in Kiel auch zu besorgen.

Nach einem ausführlichen Frühstück starte ich meine erste Regentour. Es ist nicht kalt. Vorher hat mich Francois noch fotografiert. Aufregung: Bevor ich meinen Rucksack hochhebe, brauche ich erst meine beiden Paar Wandersocken, die unter die Träger kommen. Aber ein Paar fehlt. Ich brauche doch beide! Also die Treppe wieder hoch. Liegt es in der Stube? Nein. Rucksack hochheben. Darunter ist es auch nicht. Hinuntergefallen? Nein. Unter der Regenhose? Nein. Wo ist es denn dann? Rucksack wieder auf den Rücken. Ach, ich habe ja vorhin meine Kniebundhose in den Rucksack gelegt. Vielleicht aus Versehen damit hinein? Rucksack wieder herunter, aufgeschnürt, Hose hochgehoben - tatsächlich. Da ist es. Nun erst kann ich losgehen.

Die weissen Jungrinder auf der Weide haben sehr gute Herrschaften, die ihnen zwei grosse Salz-Lecksteine auf die Weide gelegt haben. Die Rinder stehen in Trauben darum herum und lecken, lecken und lecken. Das ist ihr Bonbon. Die Schafe und Rinder haben es viel besser als ich. Sie sind abgehärtet. Ich bin ein Weichei und brauche Regenzeug. Sie nicht. Da will sich eben doch tatsächlich eine freche Mücke unter meiner Brille ein trockenes Plätzchen suchen. Na, die habe ich aber verscheucht!

Linkerhand sehe ich zwei wunderschöne Pferde, einen braunweissen Schecken und einen silbergrauen stehen. Von ihrem weichen, samtenen Fell perlen die Regentropfen langsam hinunter bis unter ihren Bauch und purzeln weiter ins nasse Gras. Die Tiere brauchen heute kein Wasser zu trinken. Sie nehmen es gleich mit dem nassen Gras beim Fressen auf. Vor mir liegt ein von vielen gelben Schwertlilien umgebener Teich. Darin sitzen Frösche und musizieren fröhlich mit ihren knarrenden Stimmen in verschieden Tonlagen vor sich hin und begrüssen den Tag. Beidseitig meiner Strasse liegen Wiesen. Schwer vom Regen biegen sich die Gewächse. Vor mir sehe ich schon helleren Himmel, wandere aber noch hier unten durch so etwas wie eine Wolke. Es ist angenehm und windstill. In der Nähe gurrt ein Tauber. Die blaue, wilde Akelei lässt ihre Köpfe hinunterhängen. Alle anderen Blümchen haben ihre Blütenköpfe geschlossen.

 

Ich gehe auf einer einfachen Teerstrasse ohne Mittel- oder Seitenstreifen durch eine ruhige Waldgegend. Kein Autoverkehr. Hurra! Es hat aufgehört zu regnen. Die Wolken haben sich gehoben. Ziehe mir meine Regenjacke aus. Kaum bin ich ungefähr fünfzig Meter weiter, fällt neuer Regen. Die Regenjacke ziehe ich noch einmal an, habe aber zum späteren eventuellen Umziehen keine Lust mehr und gehe mit meiner Regenjacke auch im Sonnenschein weiter. Es tropft trotz Sonnenscheins weiter. Aber ich habe die Hoffnung auf trockenes Wetter noch nicht aufgegeben. Die ganze Natur verneigt sich regenschwer vor der Leben spendenden Feuchtigkeit.

Oh, es geht jetzt in Serpentinen mit mir nach unten. In einiger Entfernung sehe ich vor mir eine Bergwand. Im nächsten Ort, Grenant, finde ich leider kein Restaurant. Vielleicht in Champlitte? Gut, dass ich heute früh mein Baguette mit sehr viel Butter und Marmelade belegt hatte. So, nun geht es mit mir bergauf und biege auf die D 17 ab. Es sind noch zwölf Kilometer. Also erreiche ich in drei Stunden mein heutiges Etappenziel. Da es erst elf Uhr ist, bekomme ich logischerweise vor fünfzehn bis 16.00 Uhr nichts zu essen. Packe ich es an! Es geht bergauf. Die Teerstrasse dampft im Sonnenschein. Auf der Strasse liegt eine tote, kapitale, überfahrene Kreuzotter. Was in England überall an der Strasse im Mai die Blue Bells sind, das sind hier die blauen Akelei. Ich habe die Ehre, den Bergrücken richtig zu überqueren. Süsser Blütenduft liegt in der Luft. Dieser Pilgerweg entwickelt sich zur reinsten Luftkur. Der Gesang der Waldvögelein begleitet mich.

Ein Weg führt nach Saulles in die Tiefe, während ich meinen Weg geradeaus fortsetze. Neben mir blühen dicht an dicht die rosafarbenen und duftenden Wildrosen vor Tannen, Lärchen und Kiefern. Die Luft steht still. Die Vögel singen. Schmetterlinge gaukeln durch die Luft. Ich wundere mich, wie sie zwischen den hohen Stängeln der Grasblüten so elegant im Slalom hindurchfliegen können.

Nun geht es mit mir wieder in die Tiefe. Vor mir erscheint schon wieder so ein Bergrücken. Mal sehen, ob ich ihn auch erklimmen darf? Eine frische Brise weht mir angenehm entgegen. Kornfelder flankieren mich. Ein Mäusebussard zieht gleitend seine Kreise am Firmament. Über den Kornfeldern jubilieren die Lerchen. Eben sind zwei Fahrradfahrer mit bepackten Rädern an mir vorbeigerollt und befinden sich wohl auf dem Weg nach Santiago de Compostela.

Endlich habe ich die Kreuzung erreicht, an der es nach Champlitte und nach Pierrecourt, wo man nicht schlafen kann, geht. Auf der D 460 geht es zu meinem heutigen Etappenziel. Bis dahin sind es noch sieben Kilometer, knapp zwei Stunden. Dann kann ich endlich auch etwas essen. Es sind fünfundzwanzig Grad Celsius bei hoher Luftfeuchtigkeit, also die ideale Voraussetzung für die Landwirtschaft.

Um 17.10 Uhr befinde ich mich in meinem Hotel Donjon.

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