Abenteuer Via Francigena

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07. Mai 2008: Guines - Liques

Früh stehe ich auf, packe gleich alles in meinen Rucksack und werde frühstücken und loswandern. Draussen fängt es gerade an, hell zu werden. Der erste kleine Vogel bringt mir unter meinem Fenster mit zarten Tönen ein Ständchen. In diesem Gebäude gibt es unten auch einen Kaufladen.

Es ist nun 6.20 Uhr. Gleich wird die Sonne über den Horizont lugen. Es sieht wolkenlos aus und wird wieder ein schöner Tag werden. Aber da es noch so früh ist, ziehe ich mir vorsichtshalber die Fleecejacke an.

Draussen auf dem Campingplatz finde ich einen Wasserhahn und fülle mir meine Trinkwasserflaschen auf. Die Tauben gurren. Die Vögel singen. Die Sonne geht auf. Das ganze Land liegt noch unter einem feinen Frühnebel. Einige Autos sind schon unterwegs und zerreissen mit ihrem Lärm die Stille. Und kaum habe ich meinen Schlüssel in den Briefkasten der Rezeption gesteckt, denn alle schlafen noch, kommt vom Campingplatz ein grosser Caravan und hält neben mir. Die Tür wird geöffnet. Eine junge Frau lächelt mich an und fragt, ob sie mir einen Lift geben kann. Ich bedanke mich lächelnd für dieses Angebot und sage, dass ich heute nach Lumbres wandere. „Wie schade, wir fahren nach Calais", kommt die Antwort.

„Ihnen wünsche ich eine gute Fahrt. Von dort komme ich nämlich schon."

Sie und ihr Mann lächeln, staunen und winken.

Mein heutiger Pilgerweg ist ein ausgeschilderter Wanderweg, der durch einen Naturpark führt. Er ist elf Kilometer lang und wird für mich knapp drei Stunden dauern. Die erste Strecke meines Tagespensums liegt hinter mir. Unterwegs finde ich wieder einen Hinweis für meinen Wanderweg. Die Sonnenstrahlen entfachen in jedem kleinen Morgentautröpfchen ein Feuerwerk, als würden hier Millionen kleiner Lämpchen leuchten. Ein Schild macht mich auf Wildwechsel aufmerksam. Kleine Nacktschnecken glitschen in ihrem Zeitlupentempo von einer Seite des Weges auf die andere. Eine Lerche trällert über mir und begrüsst aus voller Kehle den Morgen.

Nun wird es spannend: Vor mir quer verläuft die Eisenbahn hinter einem hohen Maschendrahtzaun. Hasen hoppeln in hohen Sprüngen vertraut durch die Gegend. Es ist ein Genuss, ihnen zuzugucken. Nach meiner Landkarte müsste mein Weg über die Schienen und dort drüben weiter gehen. Aber nun ist er versperrt. Ich glaube, Wanderer haben dieses gelbe Band angeknotet. Der Wanderweg führt am Drahtzaun weiter. Es geht später nicht über die Brücke, sondern auf der Teerstrasse entlang. Und ich kann darauf auch schon das nächste Hinweisschild erkennen. Ein Zug durchschneidet die Stille.

Mein Rucksack verursacht mir heute keine Probleme mehr, die Schuhe auch nicht. Nun stelze ich durch das nasse Gras wie ein Storch im Salat: immer schön hoch das Bein. Dummerweise bin ich nicht dem Rat des Extremsportlers Karl-Heinz Jost aus Kiel gefolgt, den er mir ans Herz gelegt hat. Ich habe mir nämlich aus Bequemlichkeit keine Gamaschen gegen Steinchen in den Schuhen angeschafft. In jedem Schuh piekst mich nun eins. Beim Entfernen fällt mir der aparte Stein ein, den ich an der Opal-Küste fand, der aussen schwarz und innen honiggelb aussieht. Ist es vielleicht ein Opal? Gut, dass ich ihn mitgenommen habe.

Wie kommt es, dass hier drei Kiebitze in der Luft herumfliegen? Ach ja, so weit von der Küste scheine ich wohl noch nicht entfernt zu sein. Ja, ja, der Mai ist auch die heisse Zeit der Hasen. Vor mir rammeln zwei. Und drüben fliegen zwei Fasanenhähne davon. Genau vor mir sitzt am Wanderweg ein Mümmelmann mit aufgestellten Löffeln und lässt sich die Sonne auf den Balg scheinen. Als er meiner ansichtig wird, ergreift er leider die Flucht. Auf seiner nach unten gesenkten Blume erscheint der schwarze Strich.

Wieder lärmt eine Eisenbahn in der gerade erwachenden Natur. Eine Goldammer mit ihrer von der Sonne angestrahlten, gelben Brust fliegt eben vor mir davon. Auf einem Sandhaufen sitzt eine zweite Goldammer am Rande eines Karottenfeldes. Der Wanderweg, den ich gehen wollte, scheint es nicht zu sein, denn er führt mich wieder an die Strasse zurück. Dort stelle ich zu meinem grossen Schrecken fest, dass ich am südlichen Stadtrand von Guines stehe. Auf meiner Landkarte sehe ich eine schmalere Strasse parallel zur Hauptstrasse und entscheide mich, darauf weiter gen Süden zu wandern.

Um 8.15 Uhr hoffe ich, nun gleich an der D 215 zu sein, auf der ich nach Licques weitergehen möchte. Auf jeden Fall habe ich einen elf Kilometer grossen Umweg gemacht. So eine Dummheit mache ich nicht noch einmal. In Zukunft geht es nur noch die Strassen entlang. Die Wanderwege können mir gestohlen bleiben!

In der Ferne leuchtet das grosse Schild eines Lidl-Geschäftes, das in mir sofort Hunger auslöst. Auf zu Lidl und was essen und trinken! Es ist jetzt 8.50 Uhr. Das Lidl-Geschäft muss ich mir leider verkneifen. Um dorthin zu kommen, müsste ich wieder einen neuen Umweg gehen. Den kann ich mir zeitlich nicht leisten. Habe schon soooo viel Zeit verloren. Was für ein Glück, dass ich so früh aufgestanden bin.

Nun befinde ich mich auf der D 215 in Richtung Licques. Wenn ich mir das so richtig durchdenke, dann habe ich also von Guines bis Guines einen Wanderweg von elf Kilometer zurückgelegt. Bis Licques sind es noch elf Kilometer. Dort habe ich dann schon mein Tagespensum hinter mir. Du meine Güte. Und ich wollte heute doch weiter bis Lumbres. So langsam aber sicher fällt mir das Gehen schwer. So schleppe ich mich weiter bis Ecottes. Es ist 10.45 Uhr. Hier befindet sich eine Bushaltestelle. Der Bus fährt aber nur einmal am Tag. Und der ist schon vor einer Stunde abgefahren. Hier esse ich erst einmal meinen grossen Apfel auf, erhole meine Beine und dann geht es weiter! Meine Hüfte und Beine brauchen Ruhe. Weiter als bis Licques kann ich nicht mehr. Dann habe ich aber auch schon mein Soll von zwanzig Kilometern um zwei Kilometer überschritten. Glücklicherweise habe ich den Rucksackgürtel wieder gelöst. Mein Hüftgelenk konnte sich nicht frei bewegen. Darum tat mir wohl auch das rechte Bein weh. Nun geht es bergab. Fantastisch. Keine Beschwerden.

Im Schatten der von Napoleon gepflanzten Pappeln wandere ich jetzt auf der rechten Seite der Strasse, statt auf der linken voran. Ein leises Lüftchen weht. Es ist sehr schön. Der eben überquerte Berg hatte eine Höhe von einhundertachtundfünfzig Metern. Am Wegesrain pflücke ich ein grosses Glückskleeblatt und presse es zwischen die Seiten meines kleinen Französisch-Deutsch-Wörterbuches. Vor mir erscheint eine noch höhere Hügelkette als die, die ich eben überquerte. Bin ja gespannt, ob meine Strasse dort hinüber führt oder ob ich im Tal weiterwandern darf. Eine grosse Schnecke mit ihrem Haus versucht, die andere Strassenseite lebendig zu erreichen. Kann es nicht mit ansehen, hebe sie hoch und setze sie auf der von ihr angepeilten Strassenseite ins Gras. Ich hoffe, ihr Leben gerettet zu haben.

Endlich befinde ich mich in Licques, sitze im ersten Restaurant und stille meinen Hunger und Durst. Um zu bezahlen, muss ich aufstehen und zu meinem Rucksack, der auf dem nächsten Stuhl steht, gehen. Oh je, meine Beine und meine Hüften sind von dem grossen Anstieg auf den einhundertachtundfünfzig Meter hohen Berg arg mitgenommen. Und ich hätte gestern nicht den grossen Apfel und die Konservendose in den Rucksack stecken dürfen. Den Inhalt der Konservendose werde ich heute noch durch Essen vernichten. Es befindet sich hier ein Campingplatz. Dort werde ich fragen, ob es eine Schlafkabine für mich gibt. Nach einigem Suchen betrete ich die Rezeption um 13.30 Uhr. Dieser Campingplatz ist ein Anlaufpunkt für alle Pilger der Via Francigena. Der Campingplatzbesitzer begrüsst mich besonders freundlich und zuvorkommend und wird mich morgen früh - wie jeden Pilger - persönlich verabschieden. Er druckt mir von sich aus die ganzen Schlafmöglichkeiten dieses Pilgerweges von Calais bis zum Grossen Sankt Bernhard in der Schweiz aus. Nun weiss ich, wo ich für wie viel Euro schlafen kann. Eine riesengrosse Hilfe! Ich bin ihm zutiefst dankbar. Hier befinde ich mich in den allerbesten Händen. Mir wird ein Chalet mit Küche, Dusche, Fernseher und grosser Veranda zugewiesen. Es kostet ausnahmsweise für mich für eine Nacht nur zwanzig Euro, weil ich Pilgerin bin! Das Haus ist wunderschön.

Hier erhole ich meine Beine, Hüften, Füsse und Schultern. Morgen dürfen sie mich nicht im Stich lassen. Man müsste Französisch lesen können, um nach dem hier ausliegenden Buch7 zu wandern. Das müsste unbedingt auf Deutsch und Englisch übersetzt und die Strecke ausgeschildert werden. So aber müssen sich die Pilger einer geführten Gruppe anschliessen. So etwas Dummes! Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als bis Lausanne auf der Strasse entlang zu wandern. Von dort aus ist der Pilgerweg ausgeschildert.

Im Schrank finde ich zwei dicken Wolldecken. Die Matratze ist hier genauso wie auf dem vorigen Campingplatz zum Schutz mit einem Fleece-Überzug bezogen. Zum Glück befindet sich in meinem Rucksack der dünne Seidenschlafsack. In ihn kuschele ich mich hinein und decke mich mit beiden Wolldecken übereinander zu.

Die ungastliche Stadt
08. Mai 2008: Liques - Therouanne

Nach einer wunderbaren Nacht esse ich die letzten Reste als Frühstück auf und erleichtere damit meinen Rucksack sehr. Die Sonne scheint, trotzdem ist es draussen kühl. Vor mir kommen zwei grosse, starke Männer mit ihren grossen Rucksäcken vorbei. Sie sind nur mit T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet. Ich frage, wie schwer ihre Rucksäcke sind. Fünfundzwanzig Kilogramm wird mir bedeutungsvoll geantwortet. Sie verlassen frisch, fromm und fröhlich den Campingplatz. Ich werde nun auch starten, übergebe das wieder in Ordnung gebrachte Haus dem Besitzer und hoffe, dass meine Hüfte und mein rechtes Bein mitmachen. Ich glaube, ich hatte selber Schuld, denn ich hatte den Hüftgürtel des Rucksacks zu stramm zugebunden. Und ich musste gestern auf dem Wanderweg wegen der grossen Löcher - es war dort sehr schmal, auf der einen Seite stand gleich halb hohes, dichtes Gebüsch und auf der anderen Seite der hohe Maschendrahtzaun - mit gespreizten Beinen, beidseitig mit den Füssen Halt suchend, entlanggehen. Dadurch wurden höchstwahrscheinlich die Sehnen gedehnt. Das ist wohl die Ursache meines Problems. Es ist jetzt 7.05 Uhr.

 

Kaum ein Auto rollt auf der Strasse. Die Hähne begrüssen krähend den Morgen. Die Vögel zwitschern. Die Sonne lässt die Tautropfen, die auf den Spitzen der Grashalme sitzen, wie Diamanten glitzern. Vor mir liegt der erste Hügel, also die erste Bergprüfung des heutigen Tages. Würziger Duft liegt in der Luft. Ist es das Kälberkraut? Sind es die Taubnesseln? Ich weiss es nicht. Aber es duftet. Um ohne Probleme den Berg mit der rechten Hüfte hochzukommen, darf ich nur ganz kleine Schrittchen machen, also einen Fuss gerade nur vor den anderen setzen. Ich gehe nun den Berg gen Süden hinunter. Rechterhand voraus liegt ein Bauerngehöft. Davor steht ein Baum, der gerade erst seine Blätter entfaltet. In der Krone befindet sich ein Elsternhorst. Der erinnert mich an meinen Sohn Achim. Achim war damals, glaube ich, sechs Jahre alt. Und zu meinem Geburtstag hatte er aus dem Knick in der Umgebung von Heide ganz mühselig einen Elsternhorst herausgeschnitten und ihn hinter sich zu uns auf den Hof geschleift. Der Horst mit all den dicken Zweigen war fast genauso hoch wie der Knirps selbst. Da ich ja richtig ausgebildete Jägerin war und er wusste, dass ich mich dafür interessiere, wollte er mir damit eine grosse Freude machen. Das war eine ganz harte Arbeit von ihm. Mann, Mann, der kleine Achim!

So langsam habe ich es heraus mit den Schritten. Wenn es einen Berg hinaufgeht, dann mit kleinen Schritten und hinunter kann ich mit richtig grossen Schritten gehen, aber immer nach dem Motto wie "Schmitdchen Schleicher mit den elastischen Beinen". Um mich herum, wenn da nicht gerade Berge sind, sehe ich grosse Korn- oder Maisfelder.

Nun stehe ich an einer Kreuzung und nehme die Strasse über Quercamps nach Lumbres unter die Füsse. Auf dem Feld neben mir stehen Kühe und glotzen mich neugierig an. „Guten Morgen, ihr schwarzbunten Kühe. Seht zu, dass ihr nicht in die Wurst gedreht werdet. Haut ab!"

Soeben betrete ich genau vor Quercamps die D 255 Richtung Lumbres. Seit zwei Stunden bin ich schon unterwegs. Also können es nicht erst fünf Kilometer gewesen sein, sondern mindestens acht Kilometer. Ab hier sind fröhlich lächelnd eine ganze Menge Rennradfahrer auf Trainingstour unterwegs, radeln diese fiesen, kleinen, steilen Berge hoch und auf der anderen Seite in hoher Geschwindigkeit wieder hinunter.

Endlich habe ich Lumbres erreicht. Neben mir steht ein Supermarkt. In weiser Voraussicht kaufe ich darin eine grosse Packung Müsli-Flocken, einen Liter Milch und einen Gürtel, um meine Wanderhose in der Taille festzuhalten. Denn ich habe schon allerhand abgenommen. Und wenn ich meinen Rucksack auf dem Rücken trage, rutscht sie mir von den Hüften hinunter. Das Problem ist nun gebannt. Um mir eine Schlafmöglichkeit in diesem Ort zu suchen - in meiner Liste steht, dass ich auf einem Campingplatz schlafen kann - , muss ich ganz tief nach unten in das Tal gehen. Nach einigem Suchen finde ich irgendwann den Campingplatz. Hierbei handelt es sich aber um einen recht primitiven Platz, auf dem man nur in einem eigenen Zelt schlafen kann.

„Haben sie kein Zelt in ihrem Rucksack?" werde ich gefragt.

„Nein, wenn ich noch ein Zelt in meinen Rucksack stecke oder darauf binde, dann knacke ich nach einem Kilometer zusammen. Das geht nicht. Ich brauche ein Bett."

„Dann gehen sie bis hinter die Kirche. Dort gibt es irgendwo etwas, wo sie schlafen können."

Bin dahin gegangen. Aber dort gibt es keine Schlafmöglichkeit. Bei meiner Suche treffe ich einen Herrn, der mich nach meinem Begehr fragt. Er schickt mich noch viel weiter und dann um die Ecke. Zum Glück steht dort ein Ehepaar mit seinem kleinen Sohn, das gerade seine Haustür von aussen repariert. Von ihnen erhalte ich die absolute Auskunft, dass es in diesem Ort keine Pension, kein Hotel, rein gar nichts zum Übernachten gibt. Dieser Ort steht zum Übernachten auf meinem Plan, den ich zu Hause in Kiel zusammengestellt habe. Demjenigen, der diesen Ort als Schlafmöglichkeit angegeben hat, könnte ich ....!!!! Bald scharen sich noch mehr Menschen um mich. Alle beratschlagen miteinander. Die einzige Lösung für mich findet sich im nächsten Ort.

„Und wo finde ich eine Bushaltestelle?"

„Hier gibt es keinen Bus."

„Was? Hier gibt es noch nicht einmal einen Bus?"

„Nein, von hier nach Therouanne gibt es keinen Bus."

Also, das ist für mich nun das stärkste Stück. Die einzige Lösung wäre ein Taxi. Das möchte ich wegen der hohen Kosten auch nicht gerade nehmen. So gehe ich zurück in die Stadt und möchte mich im Café mit essen und trinken trösten. Komme dort auch an, lasse mir als seelisches Trostpflaster eine Tasse mit heisser Schokolade bringen, danach noch ein grosses Glas Zitronen-Limonade und lege mir meine Landkarte vor die Nase. In meiner Liste der Schlafmöglichkeiten sehe ich den Ort Acquin Westbecourt, zu dem ich einige Kilometer zurückwandern müsste. Aber bei diesen vielen fiesen Bergen habe ich keine Lust, die schon überquerten noch einmal zu überschreiten. Und wenn ich dann morgen wieder durch Lumbres, in dieses tiefe Loch gehen müsste, nein, dann denke ich mich so giftig, dass ich jetzt lieber in den sauren Apfel beisse und mir ein Taxi bestelle, das mich bis Therouanne bringt, wo ich sonst morgen angekommen wäre.

Das Taxi fährt vor und bringt mich hin. Auf meinem Plan steht eine Adresse mit Hausnummer aber ohne Strassennamen. Habe in einem Restaurant nachgefragt und gehört, dass der Vermieter nicht zu Hause sei, aber käme. Der Wirt ruft dort an und vergewissert sich. Er kennt ihn persönlich. Ich selbst kann nicht telefonieren, weil auf meinem schlauen Plan keine Vorwahl steht. Habe nun erst einmal meine Tochter Gudrun angerufen. Sie lacht sich über meine Pleite in Lumbres fast kaputt. Ich bin darüber stinkbeleidigt. Auf dem Hof meiner Pension setze ich mich auf die Treppe und tröste mich mit meinem Müsli. Es ist mittlerweile schon 14.00 Uhr durch.

Nun sitze ich hier schon weitere zwei ein halb Stunde. Der Herbergsvater ist noch immer nicht erschienen. Um 17.50 Uhr rollt seine Frau im Auto auf den Hof und schliesst mir die Tür zu meiner kleinen Wohnung auf. Als ich für die Übernachtung bezahlen möchte, verlangt sie fünfunddreissig Euro. Das will ich aber absolut nicht geben, denn in meiner Liste steht der Preis von „nur" fünfundzwanzig Euro. Deshalb hole ich die grosse Liste hervor und zeige sie ihr. Und auf einmal brauche ich nur noch fünfundzwanzig Euro zu bezahlen. Hier wurde eine Dumme gesucht. Aber nicht mit mir!!!!

In der Schlafstube finde ich das erste, weiche, warme und kuschelige Bett meiner Pilgerwanderung bis jetzt.

Als Chaussee-Hase weiter
09. Mai 2008: Therouanne - Calonne Ricouart

Es ist 6.15 Uhr. Werde gleich meinen Frühsport machen, damit meine Muskeln und Gelenke hinterher gut gelockert und geschmiert sind. Danach werde ich meine restlichen Müsli-Flocken mit dem Eistee vermischt verputzen. Glücklicherweise habe ich festgestellt, dass die dicke, fette Mücke, die ich gestern Abend in der Badestube ins Jenseits beförderte, die einzige ihrer Gattung war. Am Fliegenfänger hängen in der Wohnküche schon so manche dieser Spezies. Und was noch bezeichnend für diese Unterkunft ist: Die Fenster der Bade- und Schlafstube sind mit Mückengittern versehen und können immer offen stehen. Das bezieht sich aber nicht auf die Wohnstube. Durch mein Fenster sehe ich die ersten Wolken. Aber ich hoffe, dass sich das Tief, das sich andernorts von Deutschland über Frankreich erstreckt, nicht in meine Nähe schiebt.

Mein Gebet ist erhört worden. Die Sonne hat die Wolken vertrieben. In der Badestube müffelt es so, als läge dort ein Berg ungewaschener Wandersocken. Es liegen dort aber keine. Und was stinkt so? Der Lufterfrischer! Ich verstehe gar nicht, warum die Besitzer eine derartig unangenehme Geruchsvariante ausgesucht haben. Damit sich die Leute nicht so lange in der Badestube aufhalten? Auf jeden Fall muss ich die Tür zur anschliessenden Wohnstube immer gleich schliessen. Es ist 7.15 Uhr. Nach dem Zähneputzen gehe ich los.

Draussen empfängt mich kühle Luft. Nun wandere ich auf der D 341 gen Süden. In der Morgensonne glänzen ganz zarte, grüne, ungefähr sieben Zentimeter kleine Triebe des gekeimten Maises. Es ist 7.50 Uhr. Habe gerade Therouanne verlassen und erklimme auf einer zweispurigen Strasse die ersten Hügel. Wenige Autos fahren an mir vorüber. Die Sonne scheint bei achtzehn Grad Celsius. Sie wird die ganz hinten am Horizont zu sehenden, kleinen Wolken noch verbrutzeln. Die erste Lerche singt mir ihr Liebeslied vor. Habe die Fleecejacke schon ausgezogen.

Endlich merke ich, woran ich sehe, wie viele Kilometer ich gegangen bin. Unten neben der Strasse befindet sich in regelmässigen Abständen im Gras eine gelbe, vielleicht sechzig Zentimeter hohe, quadratische Säule, die nach oben wie eine Pyramide geschlossen ist. Darauf steht der Name des Gebietes, darunter auf allen Seiten die Nummer der Strasse und darunter eine Kilometerangabe. Bei PR 54 bin ich losgegangen und nun steht PR 50 darauf. Also habe ich schon vier Kilometer zurückgelegt. Es klingt Glockengeläut an mein Ohr. Und ein Mümmelmann hoppelt vom blühenden Rapsfeld über den kleinen Feldweg in das Gerstenfeld. Dahinter erscheint im Morgendunst verschleiert ein Dorf mit einer Kirche, die einen englischen Turm aufweist. Oben ist er platt, hat aber an allen vier Ecken eine kurze Zinne.

Tatsächlich, dieser gelbe Strassenanzeiger mit dem Namen CALAIS hat unter der Strassennummer PR 49. Also wieder einen zusätzlichen Kilometer geschafft. Aber wie ich sehe, komme ich nicht so schnell voran wie in Kiel, sondern schaffe nur vier Kilometer in der Stunde, wohl wegen der Hügel. Heute wende ich nun das Patent an, was mir Gudrun am Telefon sagte: Die Probleme mit den Fesseln, den Knien und der Hüfte kommen ganz bestimmt von der hier in Frankreich überall gewölbten Strassendecke. Nun wechsle ich von der rechten Strassenseite nach einiger Zeit auf die linke Strassenseite und so weiter und so fort. Auf diese Weise schlage ich Haken auf der Teerstrasse wie die Hasen auf dem Feld. Bin ich nun auch ein „Meister Lampe"? Wohl eher ein Chausseehause, glaube ich.

Schräg vor mir blockt ein Bussard auf einem Pfahl. Nein, es ist kein Bussard, sondern nur eine Krähe, die auf eine Maus zum Frühstück wartet. Warum muss es unbedingt ein Bussard sein und nicht eben auch eine Krähe? Sie hat doch dasselbe Recht. Nach Indianeraussage sind die Rabenvögel von allen Vögeln die weisesten.

Während ich langsam die Serpentinen zwischen Feldern hochgehe - ich hoffe, dass es jetzt die letzte Kurve dieses Berges ist - finde ich eine ungeöffnete Evian-Wasserflasche mit einem Liter. Vielen Dank, lieber Petrus, dass du sie mir schicktest. Ja, kaum habe ich die Flasche gefunden, setze ich sie auch schon an meinen Mund und labe mich an dem noch kühlen Nass. Der eine Zeh des rechten Fusses, den ich in Wissant schon verarztet hatte, piesackt mich schon wieder. Entschlossen bleibe ich stehen, nehme den Rucksack herunter, stelle ihn an den Strassenrand, ziehe den Schuh aus und was sehen meine „trüben Adleraugen"?: eine Blase neben der ehemaligen Scheuerstelle. Der schief gewachsene Zehnagel des daneben befindlichen Zehs ist zu lang geworden. Habe vergessen, ihn abzufeilen. Habe also selber Schuld. Nun schiebe ich das Pflaster darüber und denke: Die Soldaten haben auch Blasen und müssen durchhalten. Also habe ich auch durchzuhalten. Basta! Und nun weiter.

Mir fällt ein Lied hierzu ein, das nach der Melodie „Das Wandern ist des Müllers Lust ...." zu singen ist:

Die Blasen sind des Wanderers Frust,

die Blasen sind des Wanderers Frust,

die Bla - a - sen.

Es muss ein schlechter Wanderer sein,

der sich niemals fing die Blasen ein,

der sich niemals fing die Blasen ein,

die Bla - a - sen,

die Bla - a - a - a - a - a - a - sen,

die Bla - a - a - a - a - a - a - a - sen,

die Blasen, die Blasen, die Bla - a - sen.

 

Ich will versuchen, Divion zu erreichen. Alle mir entgegenkommenden Fahrzeuge machen einen Bogen um mich. Aber vor mir blinkt ein Autofahrer, um auf den Randstreifen zu fahren, wo ich gehe. Das ist mir nicht geheuer. Und da von hinten kein Auto zu sehen ist, wechsele ich die Strassenseite und komme auf diese Weise mit einem Abstand der ganzen Strassenbreite an dem Autofahrer vorbei, der inzwischen seine Fensterscheibe heruntergekurbelt hat. Im Auto sitzt ein alter Bauer, der mich freundlich anlächelt. Ich grüsse ihn freundlich, setze aber meinen Weg fort. Nun ist er auch weggefahren.

Dieser blöde Köter eben! Aber glücklicherweise bin ich ihn wieder losgeworden. Vor mir sehe ich das einladende Plakat eines Restaurants, das Wanderer und Fahrradfahrer zum Essen in Amettes animiert. Dieser Ort liegt etwas abseits der D 341. Das Restaurant soll gegenüber der Kirche stehen. Dahin zieht es mich unwiderstehlich. Bis zu diesem Ort bin ich sechzehn Kilometer in vier Stunden gewandert und lege hier eine schöne Mittagspause ein und bestelle mir: Poularde, Reis, Champignons, Sosse, grünen Salat und einen grossen Spezi. Nun bin ich fertig und werde noch die weiteren zehn Kilometer zu Fuss bis Divion gehen und versuchen, ob ich auf dem dortigen Campingplatz schlafen kann. Habe per Handy mit der Frau des Campingplatzes telefoniert. Aber er ist voll - kein Platz mehr für mich. Ich soll eine andere Telefonnummer anrufen, die sie mir gibt, und ich soll mein Handy anlassen. Sie würde zurückrufen. Nun bummelt das kleine Telefon vorn vor meiner Schulter am Rucksackträger.

Divion ist eine riesengrosse Stadt. Ich nehme fest an, dass ich eine Schlafmöglichkeit finde. Und als ich gerade die Gaststätte verlassen will, werde ich vom Restaurantbesitzer zurückgerufen. Ganz stolz zeigt und händigt er mir einen Stempelpass in kleinerem Format als meinem für die Stempel der Via Francigena-Pilger aus. Auch drückt er mir einen Stempel mit dem typischen Pilger dieser Route in meinen grossen hinein.

Kaum bin ich unterwegs und spreche gerade die neuesten Nachrichten aufs Band meines Diktiergerätes, da läutet mein Handy. Ehe ich es herausgefummelt habe, ist keiner mehr am anderen Ende der Leitung. Ich hoffe, sie versuchen es noch einmal.

Um 13.10 Uhr starte ich jetzt auf gut Glück in die grosse Stadt Divion. Von dort muss ich morgen nach Arras gehen. Das sind auch ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer. Deshalb kann ich diese Kilometer nicht auch noch dranhängen. Also denke ich positiv. Gerade kommen mir lauter Oldtimer entgegen, toll poliert, richtig schöne, uralte Superautos mit stolzen Insassen. Ich fühle mich in Nostalgie versetzt.

Es ist nicht zu fassen. Ich bin gerade eine halbe Stunde unterwegs, da finde ich am Wegesrand auf einem Pfahl den ersten grossen Wegweiser der Via Francigena mit dem Pilger darauf. Er bestärkt mich darin, dass ich auf der richtigen Spur bin. Der nächste Strassenname aus meiner Wegbeschreibung ist auch erschienen, der zu Hause in meinem dicken Buch stand: Chaussee Brunehout.

Mittlerweile sind es dreissig Grad Celsius und es weht so gut wie kein Lüftchen. Das stinkt hier bestialisch! Irgendwo muss in der Nähe ein totes Tier liegen. Calonne Ricouar erreiche ich um 16.30 Uhr. An der hiesigen Tankstelle frage ich, ob sie wissen, wo ich - nicht zu teuer - übernachten kann. Um selber zu suchen, bitte ich um die „Gelben Seiten" des Telefonbuchs, um selber darin nachzuschauen. Aber das besitzen sie überhaupt gar nicht. Die junge Frau guckt im Internet nach. Der junge Mann hat mit mir Mitleid, legt meinen Rucksack in sein Auto, lässt mich vorn einsteigen und bringt mich zu einem kleinen Hotel an einem Badesee in der weiteren Umgebung. Hierin gibt es das einzige freie Zimmer weit und breit. Zu diesem Hotel gehört auch ein kleiner Campingplatz. Aber auch der ist total ausgebucht. Glücklicherweise stehe ich nun hier in einem ganz tollen Zimmer. Und morgen geht es über Divion und Houdain nach Arras. Ich möchte in der Jugendherberge Arras schlafen. Das sollen von hier aus ungefähr dreissig Kilometern sein. Unterwegs soll es Dolmen geben, die ich mir angucken kann und fotografieren möchte. Was sind eigentlich Dolmen? Hört sich sehr abenteuerlich an.