Abenteuer Via Francigena

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Auf dem Bauernhof

21. Mai 2008: Coole - Meix-Thiercelin



Seit 4.30 Uhr bin ich schon auf und mache meine spezielle Gymnastik. Dabei merke ich, dass sie meinen Beinen und Gelenken gut tut. Merke keine Probleme mehr. Und die roten Stellen sind so gut wie weg, denn es waren keine Blasen. Meine Wirtin zeigt mir mich nett anlächelnd am Frühstückstisch ihr Gästebuch. Darin sehe ich, dass der Engländer, der vor einigen Tagen schon hier übernachtete, Karikaturist ist. Unter seinen Eintrag malte er ein drolliges Bild von sich selbst zwischen Hügeln. Und dann ist da noch ein Franzose vor mir unterwegs. Der Engländer schafft am Tag ungefähr fünfzig Kilometer. Meine Herren! Ich schaffe gerade eben die Hälfte. Auch ein holländischer Pilger hat hier auf seinem Weg nach Rom übernachtet



Heute steht nur ein kurzer Tag an. Nach dem gemeinsamen Frühstück mit meiner Wirtin, ihrem Ehemann, dem Italiener und seiner Freundin befinde ich mich draussen auf der Strasse und verlasse Coole. Eine junge Frau steigt gerade in ihr Auto und wünscht mir lächelnd eine gute Pilgerreise. Vor mir verschwinden der Italiener und seine Freundin gerade hinter der ersten Hügelkuppe. Für mich ist es besser, allein zu gehen. Dann kann ich meine Gedanken schweifen lassen. Die Sonne scheint. Gegen die kühle Luft schütze ich mich mit meiner Fleecejacke.



An den meisten Tagen meiner Pilgerwanderung war ich bei Westwind unterwegs. Darum bin ich der festen Überzeugung, dass der Wind das schlechte Wetter gen Osten nach Deutschland und die Schweiz bläst und nicht nach Frankreich hereinlässt.



Nach fünfzehn Kilometern erreiche ich um 12.00 Uhr Le Meix-Tiercelin und befinde mich in meinem Zimmer. Ich brauche unbedingt einen Ruhetag. Die morgige Etappe beinhaltet vierunddreissig Kilometer. Werde mich nach dem Essen gleich langlegen. Meine Füsse brauchen unbedingt Erholung. Befinde mich hier auf einem Bauernhof oben in der ersten Etage. Meine Wirtin hatte mir sogar die Heizung angestellt, damit ich mich hier so richtig wohlfühle. Draussen scheint die Sonne. Ich sehe positiv in die Zukunft. Habe vorhin schon alle meine Übernachtungen bis Sonntag per Handy gebucht. In einer viertel Stunde erhalte ich bei meiner Wirtin etwas zu essen.



Und nun kommt die grosse Überraschung: Diese Übernachtung mit Halbpension ist teuer: einhundert und drei Euro!. Aber ich hätte dieses Bed and Breakfast nie auslassen können, sonst hätte ich heute ganze 50 km gehen müssen. Und das kann ich nicht!!!!



Mein Mittagessen besteht aus mehreren Gängen wie in einem 5-Sterne-Hotel. Meine Wirtin kocht mit Liebe extra nur für sich und mich. Es schmeckt fantastisch! Hinterher bin ich so genudelt, dass ich nur noch aufrecht sitzen kann. Diese Frau ist garantiert eine ausgebildete Köchin. Nun befinde ich mich wieder oben auf meinem Zimmer und lasse meine Blicke durch das Fenster über den Hof gleiten. Die Schwalben fliegen tief und fangen Fliegen, Mücken und anderes Ungeziefer für ihre Jungen, die unterhalb des Daches in den vielen Nestern leben. Es ist drollig anzusehen, wie die Nestlinge ihre Schnäbelchen weit öffnen und die Eltern in diese knallroten Öffnungen ihre Nahrung hineinstecken. Wenn Schwalben tief fliegen, dann bedeutet es schlechtes Wetter mit Regen. Das Tiefdruckgebiet drückt die Luft samt fliegendem Ungeziefer tief hinunter.






Die Einladung

22. Mai 2008: Meix-Thiercelin - Brienne-le-Chateau



Während ich in der Frühe die (Hühner-)Treppe von meinem Zimmer hinunter in den Hof steige, sehe ich eine kleine Jungtaube vor Angst zitternd vor mir auf einer Stufe kauern. „Ach", sage ich freundlich zu ihr, "bleib man sitzen. Ich tue dir nichts."



Nach einem sehr umfangreichen und liebevoll aufgetischten Frühstück befinde ich mich wieder gut ausgeruht bei achtzehn Grad Celsius auf der Strasse. Am Himmel ziehen Schäfchenwolken dahin. Die Sonne wird sie wegbrennen. Heute liegt ein sehr harter und anstrengender Tag vor mir. Zum Glück es ist trocken, warm und dunstig.



Gerade rette ich einen armen Regenwurm vorm Vertrocknen in der Sonne und vorm Überfahren auf der Autostrasse. Mit einem eleganten Schwung werfe ich ihn, der sich um meine Finger ringeln will, ins hohe Gras. Der Duft der Gerstenfelder, an denen ich entlang schreite, erfüllt die Luft. Jetzt ist es 9.20 Uhr. Mich hat gerade eine ganz reizende, junge Frau mit ihrem Auto hier durch Dampierre gebracht, um mir, als Pilgerin, auf meinem langen Weg eine Freude zu bereiten. Wie gewohnt wandere ich allein auf der D 24 nach Donnement weiter. Es ist etwas wärmer geworden. Rundherum singen Vögel. Hinter einem Zaun stehen weisse Kühe und folgen mir mit ihren Augen. Sie haben es gut. Denn ein richtiger „Verehrer", ein weisser Bulle, steht bei ihnen. Hier leben allerhand Rebhühner. Gerade stiebt ein Volk ab.



Neben mir sehe ich ein schon abgeerntetes Feld. Zu dieser Jahreszeit kann der Landwirt nur frisches Gras für seine Rinder in den Stall geholt haben. Ein grosses Feld mit Erbsenpflanzen breitet sich in voller Blüte aus. Um 10.35 Uhr hat mich die Sonne hier unten auf der Strasse gefunden und wärmt mich. Es duftet nach Blumen, Korn und Wald. Die erste kleine Pappelschonung liegt neben mir. Sie erinnert mich an die Poniederungen in Italien. In Braux ernten Männer und Frauen Rhabarber.



Gerade lese ich zu meiner Erleichterung auf einem Hinweisschild, dass es bis Brienn-le-Chateau nur noch elf Kilometer sind. Nach zwei Kilometern erreiche ich mittags bei bedecktem Himmel und fünfundzwanzig Grad Celsius Wärme Rosnay-l'Hopital. In der nächsten Gaststätte malt mir die Bedienung auf ein Blatt Papier, wie ich nach Brienne-le-Chateau komme, wo ich eingebucht bin. Vier Wanderstunden liegen noch vor mir. Mittlerweile ist es noch wärmer geworden: achtundzwanzig Grad Celsius. Behalte aber meine Fleecejacke trotzdem an, weil sie meine Schultern vor den Rucksackträgern polstert. Aber was ich jetzt merke, - hatte vorher keine Probleme - ist mein Zeh am rechten Fuss gleich neben „dem grossen Onkel". Der zwickt mich ganz vorn. Das ist ja fies. Trotzdem gehe ich auf der D 396 weiter. Mir fällt gerade auf, dass ich bis jetzt noch kein einziges, überfahrenes Tier gesehen habe.



Also, Steinchen im Schuh zu haben, ist nicht gerade das „Gelbe vom Ei". Ab jetzt wandere ich möglichst nur auf der Chaussee, um diesem Steinchenproblem aus dem Wege zu gehen. In der Ferne sehe ich schon das Chateau meines Zielortes auf einem Hügel.



Das war eben witzig: Zwei Kilometer noch bis Brienne. Stehe an einer Kreuzung. Das Auto, das von rechts kommt, hält an. Der Autofahrer fragt mich, wohin ich möchte und woher ich komme. Nachdem ich ihm das erzählt habe, macht er grosse Augen und fragt, wo ich schlafe. In einem Hotel, ist meine Antwort. Er meint, dass ich zwei Kilometer zurück und dann nach rechts gehen soll. Dann kann ich bei ihm schlafen. Da habe ich so getan, als hätte ich ihn nicht verstanden. Er konnte sogar etwas Deutsch.



In Brienne-le-Chateau steht nicht nur oben auf einem Berg thronend ein Schloss, sondern unten scheint noch eine kleine, alte Burg und zwischen den Häusern eine Kirche mit einem englischen Turm zu sein. Nach einigen Erledigungen in der Stadt betrete ich das Hotel, in dem ich schlafen möchte. Mit einem Blick erfasse ich, dass es sich hier um ein sehr einfaches Hotel handelt. Der Fussbodenbelag ist uralt und schadhaft. Er sieht aus, als sei er schon fünfzig Jahre alt. Macht ja nichts. Ich laufe darauf ja nicht barfuss herum und muss ja auch nicht darauf liegen und schlafen. Abendessen gibt es hier erst um 19.00 Uhr. Nachdem ich an der Theke Kakao getrunken habe, bin ich satt genug und gehe hoch auf mein Zimmer, um zu schlafen. Eine Dusche gibt es hier nicht, aber ein grosses Waschbecken. Geht auch. Und im Nachttisch finde ich "Das Neue Testament". Darin lese ich. Gottes Wort ist wertvoller als ein sauberes Hotel.



Aus meiner Karte ersehe ich, dass meine morgige Etappe wieder ungefähr dreissig Kilometer lang sein wird. Das ist hier in Frankreich langsam das Normale. Daran hat sich mein Körper samt des aufmuckenden Zehs zu gewöhnen. Warum hat mich der Zeh gestört? Unter dem Pflaster sehe ich eine schöne neue Haut. Erst morgen früh kommt noch einmal ein neues Schutzpflaster darüber. Bis dahin darf der Zeh frische Luft schnappen.



Brienne-le-Chateau ist eine französische Gemeinde, die im Departement Aube der Region Champagne-Ardenne liegt. Brienne liegt am Ufer des Flusses Aube. Vor der Stadt erhebt sich ein Hügel, auf dem das Schloss von Lomenie errichtet wurde. Die Grafen Brienne haben die Geschichte der Gegend für lange Zeit beherrscht. Sie, die Comtes de Brienne, waren eine der bedeutendsten Adelsfamilien des mittelalterlichen Frankreichs und brachten Staatsmänner, Diplomaten und Kreuzfahrer hervor. Einer von Ihnen, Jean II. wurde König von Jerusalem und Kaiser von Konstantinopel. Bekannt wurde Brienne-le-Chateau aber als Ausbildungsort von Napoleon Bonaparte, der hier fünf Jahre (Mai 1770 - Oktober 1784) lang - als Internatszögling - an der damaligen königlichen Militärschule studierte.

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Das Musée Napoléon zeigt das Leben Bonapartes an der Ècole Militaire de Brienne und die Organisation dieser Schule in den Jahren um 1780.

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Herzlicher Empfang

23. Mai 2008: Brienne-le-Chateau - Bar-sur-Aube



Dieses Hotel kann ich keinem empfehlen. Ich bin nicht so sehr empfindlich. Aber es ist schmutzig. Nach dem Frühstück stehe ich an der Rezeption und möchte bezahlen. Der Wirt verlangt von mir statt der in meiner Liste stehenden zweiundzwanzig Euro doch tatsächlich zweiunddreissig Euro. Das ist richtig Hohn und Spott. Pfui Teufel, nein.

 



Nun bin ich seit 8.00 Uhr wieder unterwegs. Mein einer Zeh, der mir gestern Abend schon Schwierigkeiten bereitete, ärgert mich wieder. Mal sehen, wie es heute wird. Ich möchte ja weiterwandern. Wer von Coole nach Brienne-le-Chateau kommt, der sollte bis zum nächsten kleinen Ort, Brienne-le-Vieille gehen. Dort gibt es ein Gite-de-France, also eine günstige Übernachtungsmöglichkeit. Vor Dienville befindet sich ein Campingplatz, auf dem man auch schlafen kann.



Es ist jetzt 10.00 Uhr und es sind noch achtzehn Kilometer bis Bar-sur-Aube. Ich halte es vor Schmerzen nicht mehr aus. Der Druck der Rucksackträger, den ich bis jetzt mit der Fleecejacke dämpfte, hat sich von Tag zu Tag verstärkt. Deshalb unterbreche ich mal kurz meine Wanderung und nehme den Rucksack vom Rücken. Wie kann ich dieses Problem lösen? Was kann ich von meinem Gepäck darunter legen? Mir fällt mein Fleeceschal ein. Er ist nicht gerade dick. Aber wenn ich ihn dreifach falte, dann quer über meine Schultern lege, könnte es vielleicht gehen. So setze ich meine Vorstellung in die Tat um und spüre eine ganz grosse Erleichterung. In vier Stunden müsste ich Bar-sur-Aube erreichen. Das wäre der frühe Nachmittag gegen 14.00 Uhr. Falls ich eine Gaststätte finde, esse ich gleich. Zwischen Wäldern und Kornfeldern wandere ich auf einer Allee durch eine ganz platte Landschaft.



Eben hat mich doch tatsächlich ein grosser Lastkraftwagen ohne Abstand zu mir überholt. Beinahe hätte er mich gestreift und mitgerissen. Dieses Kamel! Auf meiner Karte stelle ich fest, dass ich auf der Hauptstrasse, anstatt auf der von mir ausgesuchten D 46 wandere. Diese verläuft irgendwo parallel zwischen den Feldern. Nun hoffe ich, dass ich in Trannes etwas zu essen erhalte.



Nein, es gibt dort leider kein Restaurant, erst in Arsonval. Mein Rucksack macht sich unangenehm auf meinen Schultern bemerkbar. Nach einem guten Mittagessen habe ich mich nun ein wenig erholt und nehme meine Strasse bis Bar-sur-Aube wieder unter die Füsse. Heute kann ich meine Tochter Gudrun überhaupt nicht in Spanien erreichen. Sie befindet sich kurz vor ihrer Niederkunft. Hoffentlich ist mit ihr nichts passiert. Oder ist vielleicht das Baby schon geboren? Auf einer schmalen Verbindungsstrasse gehe ich zur eigentlichen Pilgerstrasse. Nun befinde ich mich auf dieser, der D 46. Im Tal zwischen diesen beiden Strassen fliesst der Fluss Aube.



Endlich erreiche ich um 16.30 Uhr Bar-sur-Aube. Mir kommen viele kleine Schüler entgegen.



Ein Junge davon lächelt mich ganz niedlich an und fragt mich mit seinen glänzenden, blauen Augen: „Bist du Deutsche?"



„Ja."



„Ich bin auch Deutscher. Meine Eltern, meine Geschwister und Verwandten leben auch hier. Dieses hier ist meine Cousine Emeline", meint er ganz stolz.



Emeline ist ein hübsches, blondes Mädchen im Alter von ungefähr zwölf Jahren und lächelt mich strahlend an.



„Und das hier ist mein kleinerer Bruder", stellt er mir den kleineren mich anlächelnden Jungen vor.



Während die anderen Mitschüler weiter nach Hause gehen, scharen sich diese drei ganz dicht um mich und möchten nur Deutsch sprechen. Sie sind glücklich und stolz, mich aufgegabelt zu haben. Alle drei nehme ich spontan in die Arme und drücke sie. So nett bin ich noch nirgendwo empfangen worden.



„Wisst ihr, wo ich mein Hotel finden kann?" frage ich und nenne ihnen den Namen.



„Ja", meinen sie, „das kennen wir bestimmt."



Sie nehmen mich in ihre Mitte und wandern mit mir ins Zentrum der Stadt. In einem Eisgeschäft spendiere ich allen ein Eis für ihre Hilfsbereitschaft. Vor meinem Hotel verabschieden sie sich von mir.



„Unsere Mutter wartet auf uns. Sonst denkt sie, dass uns etwas auf unserem Schulweg passiert ist."



„Gebt mir eure Adresse. Dann schicke ich euch als Dankeschön aus Rom eine Postkarte."



Emeline schreibt mir erwartungsvoll ihre Adresse auf. Damit ihre Mutter weiss, mit wem sie unterwegs waren, gebe ich ihnen meine Visitenkarte mit. Mit dem Ranzen auf dem Rücken drehen sie sich um, winken ganz glücklich und beeilen sich, nach Hause zu kommen.



In diesem Hotel brauche ich für Übernachtung und Frühstück nur zwanzig Euro zu bezahlen. Es gehört zum Verband der Pilgerherbergen. „Arme Pilger brauchen nicht mehr zu bezahlen", erklärt mir lächelnd der junge Wirt. Als Abendessen lasse ich mir zwei grosse Tassen Kakao und eine grosse Tasse mit kalter Milch geben. Nun befinde ich mich oben in meinem Zimmer und kann meine Tochter Gudrun wieder nicht erreichen. Nach meinen orthopädischen Übungen für die Bein- und Schultergelenke lege ich mich ins Bett. Die Schultergelenke streiken langsam. Morgen ist der Wandertag etwas kürzer, ungefähr fünfzehn Kilometer. Vielleicht erhole ich mich dann. Sie führen mich nach Autre-Aube.



Petrographische, paläontologische und prähistorische Sammlungen zeigt das Musée municipal.

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24. Mai 2008: Bar-sur-Aube - Autre Aube



Fertig zum Frühstück stehe ich um 7.00 Uhr in meinem Pilgerhotel. Aber das Restaurant ist noch geschlossen. Ich hoffe, dass es bald öffnet und ich frühstücken kann. Draussen ist es noch etwas kühl. In den Morgenstunden wandert es sich am besten. Die Strassen sind ruhig. Es ist Sonnabend. Die Leute schlafen noch alle. Nur ich unruhiger Geist wandere hier durch die einsamen Strassen. Sämtliche Fenster sind mit Hilfe von Fensterläden gegen Einbruch gesichert. Eine halbe Stunde gehe ich hier schon spazieren, ohne den Fluss Aube gefunden zu haben. Eben ist im Osten die Sonne aufgegangen. Um 8.00 Uhr darf ich das Restaurant betreten.



Mit meinem Stadtplan in der Hand suche ich hinterher eine Strasse, um auf meine heutige Pilgerstrecke zu gelangen. Mittlerweile zeigt die Kirchturmuhr schon 8.45 Uhr an. Aber ich habe meinen Weg noch immer nicht gefunden. Um keine Probleme mit den Rucksackträgern auf meinen Schultern zu bekommen, habe ich mir gestern eine Notlösung ausgedacht: Meine beiden warmen, dicken Paare Wandersocken klemme ich mir jeweils unter den Träger. Das sieht sicher recht lustig aus, stört mich aber nicht. Mir kommt es nur auf das Ergebnis an. Da ich heute früh kein Baguette und nur zwei luftige Croissants zum Frühstück erhielt, habe ich sie aufgeschnitten und jede Seite mit je einem kleinen Stück Butter und dem Inhalt eines Töpfchens Gelee bestrichen. Nur auf diese Weise bin ich satt geworden.



Bei Sonnenschein und Windstille erreiche ich die Brücke, über die ich gestern diese Stadt betrat. Dahinter soll ich abbiegen. Der Postbote trägt hier die Post auf einer Mofa fahrend aus. Damit fährt er ganz auf den Bürgersteig, quer vor die Tür, steigt gar nicht erst ab und steckt in den jeweiligen Briefkastenschlitz. Der süsse Jasminduft füllt die ganze Luft. Es ist zu merken, dass ich in der Champagne bin. Und zwar wachsen auf den steilen, vom Wald gerodeten Hängen, die zur Sonne gen Osten hin liegen, Weinreben. Meine warme Garderobe habe ich schon ausgezogen. Die Vögel zwitschern. Ich wandere hier auf einem erhöhten Waldweg in Richtung Fontaine. Es ist traumhaft schön. Das Ungeziefer, das mich da in der rechten Kniekehle zwickt, mache ich den Garaus. Parallel zu meinem Weg fliesst die Aube. Würzige Waldluft umgibt mich. Neben mir blühen weisser Holunder und rosafarbene Wildrosen, ansonsten duften die Bäume, die Erde, das Gras. Es ist ein Gedicht. Kleine Flügeltierchen mit den filigranen und langen Beinchen und dem langen Stechrüssel sind hier leider auch unterwegs. Hat mich vielleicht eine von dieser Gattung in meine Kniekehle gepiekst und wollte mich ansaugen? Mistvieh!



Jogger kommen mir, fröhlich vor sich hintrabend, entgegen. Eben habe ich mich vor Fontaine von einem jungen Mann fotografieren lassen. Habe mir das Foto angeguckt. So genau sieht man auf den ersten Blick gar nicht die Socken unter meinen Rucksackträgern. Der aufgestellte Blusenkragen verdeckt den ersten Teil von ihnen an meinem Hals. In ihrem hübschen Blumengarten wandelt eine Frau in ihrem Morgenmantel. Obgleich ich ja nicht viel auf Französisch sagen kann, mache ich ihr für ihre hübschen Blumen ein Kompliment. Und daraufhin beginnt sie lächelnd, sich mit mir zu unterhalten. Aber ich kann sie leider nicht verstehen. Deshalb setze ich meine Wanderung fort. Die Franzosen sind sehr, sehr nett zu mir. Ihre Lieblingsblume ist hier - so wie in den Staaten Mississippi und Louisiana in den USA - die Lilie in all ihren Farbschattierungen.



Die schöne von Wald eingefasste Landstrasse ist zu Ende. Nun befinde ich mich auf der D 396. Nach Clairvaux sollen es noch vier Kilometer sein. Warmer Wind bläst mir entgegen. Das sich in Wellen im Wind neigende Korn sieht aus, als würde es gestreichelt werden. Eben bin ich mal wieder - wie schon öfter auf der ganzen Wanderung - an einem kleinen am Strassenrand stehenden offenen Häuschen vorbeigekommen, das nur aus einem Raum, einem Schornstein mit Abzug und einer darunter befindlichen Feuerstelle besteht. Ich glaube, dass es sich hierbei um eine Notunterkunft bei Unwetter handelt. Ein überfahrener Baummarder und Dachs liegen neben der Strasse und stinken in der warmen Sonne. Das grosse Erbsenfeld neben mir steht nicht nur in voller Blüte, sondern es befinden sich schon ganz viele Schoten in einer Länge von acht bis neun Zentimeter daran. Leider weiss ich nicht, ob sie gespritzt sind. Sonst würde ich gern davon essen. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellan-Kiste. Bin nun nach Bayel abgebogen und möchte mir die schmale Nebenstras