Abenteuer Via Francigena

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Pilgersuppe Canterbury

60g Butter erhitzen und 150 g Zwiebeln darin anbraten. Nach 3 Min. 3 Esslöffel Mehl zugeben und 7 Min. köcheln lassen. Salzen, pfeffern, 1 l Wasser zugeben und 10 Min. kochen lassen. In einem Suppenteller ein Eigelb mit der Gabel schaumig schlagen. Suppe vom Feuer nehmen und ½ l helles Bier zugeben. Getoastetes Brot in den Suppenteller geben. Suppe darüber giessen und mit reichlich gehackter Pfefferminze garnieren.[3]

04. Mai 2008: Dover - Calais, Frankreich

Es ist 6.15 Uhr. Mein Blick fällt auf den grossen Bergrücken. Der Himmel hängt voller Wolken. Heute geht es mit dem Schiff nach Frankreich.

Kurz nach 9.00 Uhr habe ich ein tolles, englisches Frühstück genossen. Dieses Bed and Breakfast, in dem ich schlief, ist ein ehrwürdiges, altes Haus. Die Stuben sind mit wertvollem Porzellan dekoriert. Überall an den Wänden hängen Fotos der Gastgeber und ihrer Kinder mit Doktorhut auf dem Kopf. In England gibt es nur Mädchen- oder Jungenklassen.

Auf dem Weg zum Hafen möchte ich die grosse Burg von Dover fotografieren. Aber mein Wunsch, sie zu besichtigen, schrumpft auf der Stelle, als ich sie vor mir auf einem Berg erblicke. Selten überholt mich ein Auto. Die Leute schlafen wohl noch, denn heute ist Sonntag.

In der ersten Kirche bitte ich den Pastor um einen Stempel für meinen Pilgerpass. Aber einen Stempel gibt es hier nicht. Er nimmt das neu erschienene Heftchen dieser Jean-Paul-Kathedrale zur Hand und setzt sein Autogramm mit Datum neben das kleine Kirchenfoto. Das darf ich später ausschneiden und in meinen Pass kleben. Auch erteilt er mir seinen Segen für eine sichere und erfolgreiche Pilgerwanderung. Auf meinem Weg zur Fähre komme ich an einer weiteren Kirche vorbei, in die viele Menschen strömen. Diesen schliesse ich mich an. Im Anschluss an den Gottesdienst wird das Abendmahl zelebriert.

Der Hafen ist nicht so leicht zu erreichen. Ein ehemaliger Mariner zeigt mir den Weg. Mit der Schnellfähre fahre ich nicht, weil sie mir viel zu teuer ist. Um 11.50 Uhr werden wir Fahrgäste per Bus zur anderen Fähre gebracht. Nun verlasse ich England und komme nach Frankreich.

Früher konnten nur zwei Fähren von Dover nach Calais fahren. Jetzt fahren täglich acht Fähren. Auf einer davon sitze ich auf dem Oberdeck. Neben mir sitzt ein lustiger, junger Engländer, der mit einer Touristengruppe per Eisenbahn um Europa fahren will, wie er mir stolz erklärt. Da er kaum Geld besitzt, wird er jeden Tag nur von Hamburgern leben müssen, meint er mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck. Vom Schiff aus bewundere ich das beeindruckende und hohe weisse Kliff der englischen Küste. Langsam wird es immer kleiner. Über uns kreisen die hungrigen Möwen. Eine kühle Brise weht mir um die Nasenspitze. Deshalb ziehe ich mir meine Pilgermütze tiefer in die Stirn.

F R A N K R E I C H

Nach dem Verlassen des Schiffes in Calais stelle ich um 14.30 Uhr meine Uhr um eine Stunde weiter. Hier gilt wieder unsere Zeit. Ein Bus fährt uns in das entfernte Stadtzentrum. Die Sonne brennt herab.

Um zur hiesigen Jugendherberge zu gelangen, soll ich an den Strand gehen, mich dort auf dem Deich links halten und erneut fragen. Calais hat einen sehr schönen, breiten, gelben Sandstrand. Unendlich viele Holzkabinen stehen dicht an dicht in einer Reihe darauf. Kinder spielen. Viele Menschen bevölkern den Strand. Linkerhand zieht sich ein breiter Grünstreifen bis zur ersten hohen Häuserzeile. Von Zeit zu Zeit durchschneidet ihn ein Fussweg. Bald finde ich die geräumige Herberge und erhalte den Schlüssel für mein Zimmer. Im Telefonbuch „Gelbe Seiten" suche ich unter Wissant nach einer Pension, meinem nächsten Ziel, finde aber nur zwei Hotels. Die junge Frau an der Rezeption warnt mich vor den hohen Übernachtungskosten. Ich soll dort lieber nicht buchen. Mein Bett steht im ersten Stockwerk und ist schon sauber bezogen. Durch das Fenster gleitet mein Blick zum Strand. Zwei grosse Schiffe schwimmen auf dem Ärmelkanal dahin. Darüber wölbt sich ein blauer Himmel. Um 18.30 Uhr lege ich mich schon schlafen.

Am Ärmelkanal nach Wissant
05. Mai 2008: Calais - Wissant

Die Jugendherberge liegt in der ersten Querstrasse an der Opal-Küste, der Normandie. Um 8.45 Uhr bin ich bei wunderschönem Sonnenschein und bei zwanzig Grad Celsius auf dem flachen Deich nach Wissant unterwegs. Die Via Francigena ist auch hier nicht ausgeschildert. In England gab es nur an der Kathedrale in Canterbury den Marmorstein mit diesem Pilgerzeichen. In dieser Wärme hier brauche ich nur die dünne, langärmelige Bluse und über den Leggins die dünne Kniebundhose. Jetzt habe ich einen Wanderweg gefunden, der mich von den Häusern zu hohen, festen Dünen bringt. Unter mir rollen die Wellen des Ärmelkanals an die Küste. Grosse Fähren und Containerschiffe ziehen am Horizont ihre Bahnen. Von einem Aussichtspunkt in der Nähe eines Forts sehe ich die schrecklichen Überreste des II. Weltkriegs: die von den Deutschen in die Dünen gebauten Betonbunker, in denen unwahrscheinlich viele Deutsche und Alliierte ihr Leben lassen mussten. Traurig.

Zwischen der Dünenkette und den Häusern finde ich einen breiten Wanderweg und wende darauf meine Schritte in Richtung Wissant. Bald schreite ich auf einem Naturpfad weiter. Neben mir steht ein grobmaschiger Drahtzaun. Welch schöner Anblick ist die mit Strandhafer, Dünengras und kleinem Buschwerk bewachsene grosse Dünenkette. Mir ist, als sei ich auf meiner Lieblingsinsel Amrum unterwegs und bin begeistert.4 Um mich herum klingen zarte Vogelstimmen.

Der Weg von Calais nach Reims

Ein Marienkäferchen sitzt auf einem weissen Stein, ein Glücksbote. Dann kann mir ja eigentlich nichts passieren. Jogger überholen mich oder kommen mir entgegen. Taubnesseln, Klee und Hahnenfuss blühen um mich herum unter dem Gebüsch. Gänseblümchen recken ihre kleinen, weissen Köpfe mit dem gelben Inneren der Sonne entgegen.

Mein Sandwanderweg endet auf einem Weg aus Betonplatten und wird bald wieder zu einem schmalen Weg mit Schotter zwischen Dünen, der beidseitig von Gebüsch flankiert ist. Es handelt sich um einen ausgeschilderten Wanderweg, der mit einem in die Erde getriebenen Rundholz, das oben einen weissen und darunter einen roten Ring aufweist, markiert ist. Kleine Trittsiegel von Vogelfüsschen sind hier zu sehen. Ach, wie sind sie niedlich. Blauweisse Hornveilchen blühen unter verbranntem Ginster. Diestelfalter gaukeln hin und her. Die erste Wandergruppe, bestehend aus mindestens fünfzig Personen, kommt mir entgegen.

Vor mir erhebt sich über der Dünenkuppe ein sich drehendes Radargerät. Das interessiert mich, und ich gehe hin. Es handelt sich dabei gleichzeitig um ein Quermarkenfeuer. Neben dem Radargerät finde ich einen Durchgang zur Küste. Nun wandere ich in halber Küstenhöhe - einem Fussgänger-Highway - auf einem schmalen Teerweg weiter. Neben mir stehen in einer Reihe Ferienhäuschen im Dünenhafer. Rechts fällt das Gelände steil nach unten ab und besteht zur Küstenbefestigung aus Beton. Daneben breitet sich der weisse Opalstrand aus. Auf dem azurblauen Meer zähle ich gerade bei angenehmer Meeresluft, Sonnenschein und Wärme sechs grosse Fährschiffe und ein kleines Segelboot.

Leider muss ich von dem schönen Highway Abschied nehmen, steige über die Dünenkette, befinde mich neben einer schmalen Teerstrasse und setze meine Wanderung fort. Neben mir schimmert das Wasser des Ärmelkanals in der Sonne. Bald erscheint vor mir ein Kruzifix an der Strasse. Ein Bus wartet in der Nähe auf seine Gäste. Die Busfahrerin lichtet mich mit meiner Kamera vor dem Kruzifix ab und zeigt mir einen Wanderweg, dem ich folgen soll, um der Autostrasse zu entgehen.

Was für ein Glück, dass ich nicht auf diesem ansteigenden Schotterweg mit dem Fahrrad unterwegs bin. Lieber wandere ich mit dem schweren Rucksack. Von meiner erhöhten Position bietet sich mir ein wunderschöner Anblick des Ärmelkanals mit den vielen, grossen Schiffen, den grünen, saftigen Wiesen, einem gelben Rapsfeld und Dornenbüschen. Ein Genuss!

Lange habe ich den Ärmelkanal wohl nicht mehr in Sichtweite. An der Küste sehe ich eine Erhöhung. Ist das vielleicht ein Kalkfelsen? Auch sehe ich dort ehemalige Bunker und ein hohes Mahnmal. Aber mich führt dieser Weg weiter ins Landesinnere. Kein Pfad ist zur quer verlaufenden Autostrasse und der dahinter befindlichen Küste zu sehen. So wandere ich einfach querfeldein. Neben mir steht schon mindestens fünfzehn Zentimeter hohes Korn und auf der anderen Seite ungefähr drei Zentimeter kleine, frisch gekeimte Karotten in nebeneinander stehenden Reihen. Auf dem Meer leuchtet in der Sonne ein Segelschiff mit seinem strahlend weissen Dreiecksegel. Eine Möwe gleitet über der Küste dahin und verschwindet hinter einem hohen Kliff. Auf meinem Trampelpfad zwischen den beiden Feldern hinunter zur Strasse sehe ich noch weitere Spuren grosser Schuhe. Andere haben sich hier also auch schon verirrt.

An der Küste hebst sich das hohe, weisse Kliff dekorativ vom Blau des Meeres und dem Grün des mit Gras bewachsenen Landes ab. Das imposante Mahnmal auf dem grünen Hügel zieht mich magisch an. Mein schmaler Weg ist ein ausgetretener, weisser Trampelpfad. Weiss, weil das leuchtend grüne Gras den ganzen Kalkhügel bedeckt und nur dort wieder zutage tritt, wo Wege vorhanden sind. Nun kommt mir mein „Bergtraining" auf der hundert Stufentreppe der Kieler Stadtverwaltung zugute. Das Mahnmal ist im Gedenken an den II. Weltkrieg errichtet worden. Sehr gut erhaltene, ehemalige deutsche Betonbunker mit der Öffnung zum Meer sind hier verteilt vorhanden und können besichtigt werden. Wenn ich mir so vorstelle, dass die Gegner der deutschen Soldaten Flammenwerfer in diese Bunker hineingehalten und die Soldaten in kurzer Zeit getötet und geröstet haben, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Schaurig.

 

Ich gehe über das weiche Gras bis zur Küste, an der unter mir der Kalkfelsen steil zum Meer abfällt. Dieses Kliff fungiert, genau wie unsere deutsche Nordseeinsel Helgoland, als Vogelfelsen. Möwen brüten in Nestern, die sie auf winzigen Felsvorsprüngen gebaut haben. Hier befinden sich weitere, vollkommen heile Bunker, richtige Schützenstellungen.

Leicht sind die Wanderwege von hier oben auszumachen, denn sie ziehen sich wie weisse Adern den Berg hinab. Dicht an der Küste führt ein Wanderweg weiter nach Wissant, meinem heutigen Etappenziel. Auf der westlichen Seite steige ich den Hügel auf einem der ausgetretenen Wandersteig hinunter. Was für ein Glück, dass ich diese teuren Schuhe mit dem groben Profil trage, sonst wäre ich nicht heil hinuntergekommen.

Ungefähr zweihundert Meter vor mir wandert in einiger Entfernung auf dem Küstenweg eine grosse Wandergruppe.

Während der Kuckuck in der Ferne ruft, steige ich in einer Einkerbung des Kalkfelsens zum Meer hinunter. Herrlich frische Meeresluft streichelt mein Gesicht. Hmm, wie auf Amrum!5 Die Wellen rollen leicht an die hohe Kalkfelsküste. Mich erinnert alles an die Kliffs von Moher in Irland, nur sind diese hier viel, viel niedriger. Bald drehe ich um und verfolge den Wanderweg gen Westen weiter. Neben mir geht es an dem ausgefransten Kreidefelsen steil in die Tiefe. In der Ferne vor mir sehe ich die Wandergruppe direkt am Meeressaum. Warum? Bald darauf sehe ich es: Der Wanderweg endet bei einem Bauerngehöft mit grasenden weissen Rindern auf dem Feld. So steige ich auch auf grossen, dicken Steinstufen hinab auf den schmalen und feuchten Sandstrand und wandere an der Küste weiter. Zwei Männer stochern zwischen Steinen herum, heben mal einen auf, begucken ihn und werfen ihn wieder weg. Ob sie nach Opal Ausschau halten? Diese Küste nennt sich ja die Opal-Küste. Auch ich suche nach einem bunten Stein. Gern gehe ich nicht mit meinen guten Wanderschuhen hier in dem feuchten Sand! Ob ich bald wieder hinauf auf den Küstenstreifen komme? Ein mich überholendes Pärchen halte ich an und frage danach. Sie verneinen es.

Kommt die Flut? Und wenn, wie weit wird sie diesen Strandstreifen überfluten? Zur Not muss ich im groben Schotter herumlaufen. Aber vor mir läuft Wasser vom ungefähr drei Meter hohen Oberland herunter und ergiesst sich in eine Rinne quer vor mir ins Meer. Wo komme ich trockenen Fusses darüber? Leider muss ich mit den Schuhen durch knöcheltiefe Wasser stapfen. Und wenn ich später nasse Socken habe, weiss ich, dass meine Schuhe nicht wasserdicht sind. Nun sehe ich, dass es ebbt. Das heisst, dass sich das Wasser zurückzieht. Spannend ist es hier.

Auf dem Weg liegt plötzlich ein abgestürzter Bunker vor mir. Weiter komme ich nicht. Dahinter versperrt mir ein quer verlaufender und tieferer Wassergraben den Weg. Mit einem weiten Bogen über den groben Schotter an der Seite und einem weiten Satz über den Graben rette ich mich trotz des Rucksacks hinüber. Trotz aller Unwegsamkeiten begeistert mich die grandiose Landschaft. So wandere ich weiter.

Ich habe eben ein ganz grosses Glück gehabt: Ein Pärchen, das mich überholte und auch nach Wissant unterwegs ist frage ich einfach nach ihrem Schlafquartier. Freundlich erklären sie mir, dass es dort ein Bed and Breakfast gibt und schreiben mir sogar die genaue Adresse auf. Oh, bin ich glücklich! In den Hotels soll es doppelt soviel kosten. Und weiter wandere ich am Strand entlang.

Mittlerweile ist es 14.05 Uhr. Daraus erkenne ich, dass ich trotz des Betrachtens und Fotografierens ganz gut vorwärts gekommen bin. Vor meinen Füssen liegt ein toter, angetriebener Haifisch auf dem Sandstrand. Hinter einer Biegung taucht Wissant auf. Bald bin ich da!

Nach einer halben Stunde stehe ich vor dem mir genannten Bed and Breakfast. Die Eigentümerin spricht neben dem landesüblichen Französisch sogar Englisch und Deutsch. Gegen meinen Hunger soll ich zur Gaststätte am Tennis Court gehen. Sie ist immer geöffnet. Denn im Ort sind nachmittags alle Restaurants geschlossen. Auf meinem Weg dorthin lasse ich mir im Rathaus einen Ortsplan und eine Landkarte für die ganze Umgebung ausdrucken, auf der alle Strassen der Umgebung aufgezeichnet sind. Meine für morgen zu begehende 244 finde ich darauf.

Jetzt sitze ich völlig erschöpft von der heutigen Wanderung im „Tee-Break", einem Restaurant am Tennis Court und habe mir einen grossen Salatteller und eine grosse Spezi bestellt. Danach werde ich sicherlich wieder ein Mensch. Der Wirt besitzt einen PC, an dem ich meine Emails abrufen darf. Aber das funktioniert nicht. Er überlegt hin und her. Dann kommt ihm der erleuchtende Gedanke: Ich muss zuerst google.de eingeben. Unter google.fr kann ich meinen Providers aus Deutschland nicht erhalten. Danach läuft alles wie gehabt. In der Zwischenzeit haben sich viele Briefe in meinem elektrischen Briefkasten angesammelt. Es dauert eine ganze Zeit, ehe ich alle gelesen und beantwortet habe. Aber diese Sache hat einen grossen Haken: Der PC steht auf einem hohen Bord. Ich muss in der gesamten Zeit stehen. Langsam kommt es mir so vor, als wollten sich meine Hüften durch die Haut nach oben bohren. Ich kann einfach nicht mehr.

Wieder zurück in meinem Zimmer, lege ich mich schlafen.

Gen Südwesten durch Frankreich
06. Mai 2008: Wissant - Guines

Habe ganz durchgeschlafen. Meine Wirtin und bringt mir in einer halben Stunde mein Frühstück aufs Zimmer. Draussen scheint die Sonne. Es wird einen schönen Tag geben.

Die Zeit bis zum Frühstück möchte ich mit einem Spaziergang in den Ort ausfüllen. Hinter dem Rathaus, das mitten auf dem grossen Platz steht, sehe ich schon von weitem ein Fischerboot auf einem Trailer. Ein so kurzes, dickes Motorboot habe ich noch nie gesehen. Daneben stehen zwei Fischer, die eifrig dabei sind, ihre Netze aus dem Boot zu ziehen. Viele dicke Taschenkrebse und verschiedene Fische zappeln darin um ihr Leben. Die Fischer einen Trecker, der das Boot auf dem Trailer gegen Abend so weit möglich in das Meer bringt, bis es schwimmen kann. Die Fischer fahren mit ihrem Boot hinaus aufs Meer, werfen dort den Anker und die Netze aus. Am nächsten Morgen holen sie diese mit ihrem Fanggut ein und fahren per Motor bis in Küstennähe. Der Trecker holt das Boot auf dem Trailer wieder an Land und fährt es bis zum Marktplatz von Wissant. Dort werden die noch zappelnden Fische getötet, enthäutet, entgrätet und an die schon wartenden Hausfrauen verkauft.

Wieder zurück bei meinem Bed and Breakfast kann ich die Tür nicht aufschliessen. Zum Glück bringt mir gerade meine Wirtin das Frühstück und nimmt mich mit hinein.

Nun bin ich in meiner Fleecejacke unterwegs und hole mir vorsichtshalber in der Apotheke normales Pflaster, einen Nagelklipp für die Fussnägel und einen Satz einmal Nagelfeilen. Ich hoffe, damit Fussproblemen aus dem Weg gehen zu können. Meine Finger frieren. Und die Einheimischen laufen hier mit kurzärmligem, dünnem T-Shirt und kurzer Hose herum. In der geöffneten Kirche frage ich den Priester, ob ich einen Stempel für meinen Pilgerpass erhalten kann. Aber der Stempel liegt bei ihm in der Wohnung. Die Sonne scheint. Einem Beet mit hellblauen Vergissmeinnicht-Blümchen entströmt wunderbar süsser Duft.

Mit der Strassenkarte in der Hand wandere ich auf der Hauptstrasse Richtung Calais. Das Leitungswasser, das ich mir im Bad in meine Trinkflaschen gefüllt hatte, stinkt nach Chlor. Werde mir neues Wasser kaufen müssen. Nach kurzer Strecke biege ich auf die 244 ab. Ab heute wird es hügelig.

Während meiner Wanderung mache ich mir Gedanken über Vorbestellungen von Übernachtungsmöglichkeiten. Meine bisherigen Erfolge zeigten mir, dass in den gelben Seiten nur die Hotels eingetragen sind, die für diese Reklame bezahlen. Ich ziehe den Schluss, dass es wohl besser ist, sich vor Ort zu erkundigen.

Zwischen kleinen Häusern wandere ich gen Osten der Sonne entgegen. Tulpen, Goldlack, die englischen Blue Bells und die blaue Iris blühen in den Vorgärten. Ja, was am wichtigsten ist: Meine Schultern schmerzen nicht - jedenfalls jetzt noch nicht. Neben meinen grossen Zehen ist der nächststehende schmale etwas länger. Am rechten Fuss habe ich schon eine schmale, längliche Scheuerstelle. Also bin ich schon leicht bescheuert.

Mein heutiges Ziel heisst Guines. An einer Kreuzung weist ein Schild nach zu zwei Caps (Hügeln). Ich hoffe, mein Weg geht nicht hinüber. Werde mir erst mal meine warme Fleecejacke ausziehen. Mir wird sonst zu heiss. Wie sich herausstellt, ist der Weg über die zwei Berge mit den zwei Caps der meinige! Na ja, ich soll ja auch Übung kriegen. „Landluft" zieht in meine Nase. Ich sehe den Übeltäter, einen Misthaufen. Nun bin ich schon daran vorbei. Zum Glück kommt der Wind von vorn. Aber der „Duft" bleibt bei. Warum? Vielleicht ist hier alles gejaucht worden. Also Hermine, ordentlich tief einatmen. Du wirst davon braun!

Während ich so meine Lieder singe, fällt mir beim Anblick einer Pappel dieser Spruch ein, den mir meine grossen Brüder Hermann und Dankwart früher in meiner Kindheit beibrachten, als wir von Kalleby bei Flensburg zum Ostsee-Strand gingen:

Klotz, klotz, klotz.

Wie weit ist die Chaussee?

Links `ne Pappel, rechts `ne Pappel,

in der Mitt’ ein Pferdeappel.

Habe bis jetzt noch keinen Pferdeapfel gesehen, aber gestern. Die Bauern sind beidseitig meiner Strasse fleissig dabei, ihre Felder zu jauchen. Daher weht der „Duft". Ein Fasan schreckt6 und warnt damit seine brütende Henne vor mir. Der hat wohl auch gedacht: Jemand mit so einer Kopfbedeckung und einem grossen Rucksack muss Gefahr bedeuten. Vor mir erscheinen mehrere Hügel nacheinander. Zwischen grünen Feldern leuchtet ein Rapsfeld wie ein gelbes, breites Band.

Oft liegen Flaschen und Dosen herum. Gibt es hier bei der Rückgabe kein Pfand? Drüben gurrt ein Tauber. Eine Taube antwortet. Hier stehen die Kastanien schon in voller Blüte. Die Vögel singen. Der Goldlack duftet. Die blauen und gelben Schwertlilien wetteifern miteinander um Schönheit.

Ich bin jetzt durch den Ort Hervelinghen gewandert und finde am Ende ein Fahrradhinweis-Zeichen. Es verweist auf einen Fahrradrundweg nach Calais. Ich folge aber weiter der D 244 in anspruchsvoll welliger Landschaft. Vor mir kämpft sich gerade ein junger Mann, in den Pedalen stehend, kraftvoll auf seinem unbepackten, guten Mountainbike hoch. Zwei Fasanenhähne stehen mit hochgerecktem Hals und schrecken bei meinem Anblick. Ein Rennradfahrer kommt mir mit singenden Reifen auf dem Asphalt in hoher Geschwindigkeit entgegen.

Beidseitig der Strasse befindet sich ein niedriger Wall. Warum müssen eigentlich Autos - eins von vorn und eins von hinten kommend - sich genau bei mir treffen? Ich stelle mich flugs mit dem Rucksack zum Wall hin und hoffe, dass mir das Auto auf dieser Seite nicht die Füsse platt fährt. Bis jetzt habe ich noch kein Hinweisschild für meinen Pilgerweg der Via Francigena gefunden. Ob die hinten am Rucksack mit Sicherheitsnadeln befestigten und dort baumelnden Wandersocken trocken werden? Müssten sie eigentlich. So, nun bin ich auf einer Hügelkuppe angelangt. Und wie sieht es vor mir aus? Genauso wie in England: Es geht hinunter und - schwupp - gleich wieder hinauf.

Um 11.05 Uhr habe ich schon die Hälfte meiner heutigen Tagesetappe geschafft und befinde mich in St. Inglevert. An einer Kreuzung steht ein Leiterwagen, gebaut 1942. Er erinnert mich an meinen Grossvater mütterlicherseits. Opa Lu war Schmiedemeister und hätte hieran seine helle Freude gehabt! Wie sauber alles geschmiedet und schön eingefasst ist. Ein Prachtexemplar.

In Frankreich fehlen leider auf den Hinweisschildern die Kilometer-Angaben. Aber ich komme schon irgendwie an. Eben habe ich die A 16 überquert, die nach Calais führt. Ein Plakat macht mich darauf aufmerksam, dass ich auf der „Strasse der Milch" wandele. Bis jetzt dachte ich, dass sich die Milchstrasse oben am nächtlichen Himmel befindet. Tauben gurren mir ein Ständchen. Kleine Singvögel zwitschern. Die Sonne strahlt vom azurblauen Himmel. Das Thermometer, das an meinem linken Rucksackträger hängt, zeigt sechsundzwanzig Grad Celsius im Schatten. Gerade fällt mir der etwas unschöne Satz meiner jüngsten Schwester über mich ein: „Du bist doch schon mit deinen siebzig Jahren ein Methusalem. Du kannst doch gar nicht mit einem schweren Rucksack nach Rom wandern. Das ist doch nur etwas für junge Leute."

 

Wollen doch mal sehen, ob Hermine, der Methusalem, das schafft. Und nicht lange hier aufgehalten. Weiter!

Weshalb zieht mein Rucksack auf den Schultern so sehr nach unten? Er soll ja schön fest um die Hüften geschnallt sein. Und das ist er nicht so richtig. Demzufolge ändere ich das jetzt ab. In der Taille darf er nicht sitzen, aber um die Hüften. Mal sehen, wie lange das hält und sich nicht lockert. Es dringen die schrillen Rufe von Pfauen an mein Ohr. Calais liegt im Dunst am Horizont. Schon eine halbe Stunde früher als gedacht, erreiche ich Guines. Auch heute hat sich meine Kopfbedeckung bewährt und mich vor der brennenden Sonne geschützt.

Um 13.30 Uhr betrete ich den gleich am Ortseingang liegenden Campingplatz. Als ich mich an der Rezeption als Pilgerin der Via Francigena vorstelle, der jungen Frau meine Santiago-de-Compostela Muschel und meinen Pilgerpass zeige und um eine Schlafmöglichkeit bitte, strahlt sie und ruft sofort ihren Chef an. Er lässt mir ausrichten, dass ich um 14.00 Uhr hier an der Rezeption stehen soll. Dann erhalte ich ein Pilgerbett für sieben Euro. Endlich mal ein Herbergspreis. Auf diesem Campingplatz haben sie ein Herz für Pilger.

Nun kommt auf mich das Problem zu, dass ich ja keinen Schlafsack bei mir habe, um mich damit zuzudecken, auch keine Unterlage. Und wenn das Bett keine Wolldecke hat, was soll ich dann machen? Ach, dann ziehe ich meine ganze mitgebrachte Garderobe an und zum Abschluss oben drüber die Regensachen. Und wenn noch ein weiteres Bett im Zimmer steht, dann die Matratze davon noch oben drüber. Für diese sieben Euro mache ich das alles gern. Na, da kommt ja noch etwas heute auf mich zu. Hier in Guines sind wie in Spanien ab mittags alle Gasthäuser geschlossen. Zu Essen gibt es bis zum Abend nichts. Und mich quält ganz bestimmtein Bärenhunger! So langsam habe ich mich darauf eingestellt, nur zwei Malzeiten am Tag zu mir zu nehmen: morgens das Frühstück und die zweite, nachdem ich an meinem Tagesziel angekommen bin. Dann futtere ich mich so voll, dass es bis zum nächsten Morgen vorhält. Mein Magen ist sehr flexibel!

Habe mir in der kurzen Zwischenzeit meinen Pilgerpass angeguckt. Darauf steht auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch:

‚Die Prergarden bestätigt, dass Hermine Stampa-Rabe auf einer Pilgerreise nach Rom ist und bittet unsere Schwestern und Brüder, dieser Pilgerin nach ihren Möglichkeiten zu helfen, damit sie ihren Weg nach Rom sicher findet. Im Speziellen ersuchen wir, Hermine Stampa-Rabe für eine Nacht bei Ihnen aufzunehmen.'

Das ist ja toll. Das habe ich noch gar nicht gewusst. In Zukunft also ab zu dem zuständigen Priester.

Das Wunder ist geschehen. Ich erhalte in dem einzigen Herbergszimmer ein Bett. Ein junger Mann führt mich hier hoch und überreicht mir - wie für jeden Gast ohne Schlafsack und ohne Unterlage - einen extra Überzug aus dünnem Fleece für das Laken, das Kopfkissen und einen ganz grossen für die Wolldecke. In der Nähe befindet sich auf diesem Campingplatz ein Restaurant, das um 18.00 Uhr öffnet. Das ist mir einfach zu spät! So lange kann ich nicht darben.

Im Stadtzentrum finde ich ein geöffnetes Obstgeschäft und kaufe tüchtig ein. Fast alles habe ich in meiner Riesenstube aufgegessen und bin voll bis unter den Rand.

Gleich gehe ich schlafen, um morgen früh gut ausgeruht zu sein.