Spannt die Pferde vor den Wagen!

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Spannt die Pferde vor den Wagen!
Font:Smaller АаLarger Aa

Hermine Stampa-Rabe

Spannt die Pferde vor den Wagen!

K i n d h e i t

E-book

Autobiographie

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Nachdruck verboten. Gerichtsstand ist Kiel.

© 2014 Hermine Stampa-Rabe

Georg-Pfingsten-Str. 19

24143 Kiel

Email: hermine.stampa-rabe@web.de

2. Auflage

Epubli Verlag

ISBN 978-3-7375-0264-1

Dieses Buch widme ich meinen drei Kindern

Olaf, Achim und Gudrun

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort von Dr. h.c. Kai-Uwe von Hassel

Vorwort

Stargard in Pommern

1944

1945

Die Flucht aus Stargard in den Westen

Kalleby in Angeln, Kreis Schleswig-Flensburg

1946

1947

1948

1949

1950

1951

1952

Amrum, Insel in Nordfriesland

Sehnsucht nach Amrum

Mutters Rezepte

Rotraut Stampa

Vorwort von Dr. h.c. Kai-Uwe von Hassel

Dr. h.c. Kai-Uwe von Hassel

Bonn, den 21. Oktober 1987

Präs/Ge

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg – vielleicht sogar als Soldat – bewusst miterlebte, wächst ins Alter. Ihre Reihen lichten sich. Für den Überlebenden verblassen 42 Jahre nach Ende des Krieges langsam die Ereignisse.

Wer diese Erinnerungen Hermine Stampas heute liest – vier Jahrzehnte danach -, ist mit aller Deutlichkeit hineinversetzt in eine entsetzliche Zeit: des Zusammenbruches des Vaterlandes, der Millionen Gefallener, der vielen anderen Opfer, der Vertriebenen und Flüchtlinge mit deren Verlust ihrer Heimat, ihres Hauses und Hofes, ihrer Existenz, ihres Berufes. Hineinversetzt in die Zeit, da die Heimatlosen unruhig über den frei gebliebenen Teil eines Restdeutschland dahin zogen in der Hoffnung, vielleicht doch irgendwo wieder Fuß zu fassen.

Zu denen, die das alles miterlebten, zähle auch ich. Nur: Ich hatte das große Glück nach dem Verlust meiner ostafrikanischen Existenz, nach fünf Jahren Soldatseins, dort wieder Fuß fassen zu können, wohin ich nach der ersten Ausweisung unserer Familie aus der alten Geburtsheimat Deutsch-Ostafrika 1920 Aufnahme fand: in Glücksburg nämlich, in der Nähe der Heimat meiner Mutter – Apenrade, nur durch eine neue Grenze von ihrem Elternhaus getrennt.

Im Dezember 1945 wurde ich Beauftragter der Militärregierung beim Landkreis Flensburg, verantwortlich für Wohnungs- und Flüchtlingsfragen. Zwei Jahre war ich sechs Tage in der Woche im Kreise unterwegs. Es mögen an die 8000 Wohnungsfälle gewesen sein, die ich habe lösen müssen, 8000 Schicksale zogen an mir vorüber.

Fürwahr, man lernt dann die Not seines Volkes kennen. Diese zwei Jahre haben mein ganzes späteres Leben in der Politik geprägt: Als Ministerpräsident in der Gesamtverantwortung für sein Land, als Minister für Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegssachgeschädigte für den so geschlagenen Bevölkerungsteil; vor allem aber als Bundesminister der Verteidigung in dem ständigen Bemühen, dass ein solches Unglück – ein Weltkrieg – nie wieder passieren dürfe; aber auch, dass wir die Pflicht hätten, zu verhindern, dass sich die von Hermine Stampa beschriebenen Ereignisse (mit Sowjetrussen) im freien Teil der Welt je wiederholen könnten.

1946 traf ich in meiner dienstlichen Funktion, zunächst als der Wohnungsmann, dann als der Leiter des Kulturringes des Landkreises, die Familie Stampa in Kalleby: Hermine, damals wohl sechs Jahre, in der großen Kinderschar; den unglaublich erfinderischen Vater, die Mutter: Alle in für uns heute unvorstellbaren Verhältnissen. Auf engstem Raum zusammengedrängt, nur mit dem allernotwendigsten versehen, mit nur spärlich aufzubessernden Lebensmittelkarten. In jeder Beziehung: einfach, nahezu primitiv, die materiellen Grenzen denkbar eng gezogen. Bedrückend, und doch: Eine Familie, die das alles bewunderungswürdig trug, die nie klagte, die mit ihrer Enge, ihren primitiven Lebensverhältnissen fertig wurde. Die Kinder immer fröhlich, die Eltern vorbildliche Leitfiguren dieser großen Familie. In wohlhabenden Verhältnissen, in geordneter Umgebung, in gesicherter Zukunft kann man sehr wohl fröhlich dreinschauen. In Not und Elend, mit der Bitternis verlorener Heimat, am Fluchtrand die gestorbene kleine Tochter, zurückgelassen in ferner Erde, und dann noch fröhlich, tapfer in die Zukunft schauen, nicht nach dem Staat rufen, nicht anzuklagen, sondern selbst wieder ein Leben aufzubauen ! Das war vorbildlich; es hat mir damals großen Respekt abgenötigt.

Hermine Stampa beschreibt diese Zeit; minutiös sehen wir hinein in ihre Gedankenwelt, in die intakte, so gut geführte und betreute Familie mit ihrer großen Kinderschar. Ja, für die nachfolgenden Generationen lohnt es sich zu lesen, was ihre Vorfahren – die Nachkriegsgeneration – erlebte, durchmachte, aufbaute und zu lernen von denen, die damals dem Morgen begegneten mit Mut. Für sie galt das Wort:

V O L U N T A S F A C I T S P E M -

„ Der Wille schafft Hoffnung „.

gez. Kai Uwe von Hassel

Vorwort

Mein Vater, Joachim Stampa, bat um einen möglichst genauen Bericht unserer Flucht aus Stargard, um ihn bei seinem fünften Buch über unsere Heimatstadt Stargard, das er in Arbeit hatte, zu verwenden.

Da mein Bruder Hermann einen sehr guten und bebilderten Bericht als Abschlussarbeit für den Amrumer Aufbauzug geschrieben hatte, fragte ich bei ihm an. Aber er sagte nur kurz: "Den habe ich sofort, als ich ihn von Amrum zugeschickt bekam, verbrannt. Davon wollte ich nichts mehr wissen."

So fasste ich mir ein Herz und fing mit Mutters Hilfe an, alles so gut wie möglich aufzuschreiben. Mutter bestand darauf, über ihre Vergewaltigung zu schreiben. Leider verstarb mir mein Vater am 06. Dezember 1986, bevor ich ihm den Bericht zu Weihnachten schenken konnte. Ich war untröstlich.

In der Meinung, diesen Bericht nicht verfallen zu lassen, machte ich mich an die Arbeit, die vielen Erlebnisse meiner Kindheit von vor der Flucht und nach der Flucht noch hinzu zu schreiben und setzte mich einfach mal an meine kleine alte Schreibmaschine, um dieses Gut meinen drei Kindern zu hinterlassen.

Als ich alles so einigermaßen fertig hatte, schenkte ich auch meinen beiden liebenswürdigen Bauersfrauen aus Kalleby, Frau Thea Hansen, verw. Struve, und Frau Jürgensen je ein erstes Exemplar als Dankeschön.

Daraus entwickelte sich mit Hilfe von Sigmar Rach, Georg Jürgensen, Elisabeth Hoeck, geb. Jürgensen, ihres Ehemannes Ernst Hoeck, Ingeborg Henningsen, geb. Jürgensen, Hans-Henning Jürgensen, Thea Hansen, verw. Struve, Gretchen Claußen, Willy Sachtler, Helmut Stampa, einigen kleinen Auszügen aus der Chronik über Kalleby von Markus Martensen und Aufzeichnungen meines Vaters, die ich teilweise erst 1995 erhielt, das jetzt vorliegende kleine Büchlein als 2. Auflage. Ich danke Ihnen allen für ihre wertvolle Hilfe. Ganz besonderer Dank gebührt Frau Thea Hansen, verw. Struve, für Ihre damalige Hilfeleistung uns gegenüber.

Die Verfasserin

Stargard in Pommern

Dank sage ich meinen Eltern

Joachim Stampa und Christa Stampa geb. Teske

für sieben unbeschwerte Kinderjahre.

1944

Wie fröhlich bin ich aufgewacht.

Wie hab' ich geschlafen so sanft die Nacht.

Hab Dank im Himmel, oh Vater mein,

dass Du hast wollen bei mir sein.

Nun sieh auf mich auch diesen Tag,

dass mir kein Leid geschehen mag.

Mutter ging von Bettchen zu Bettchen, weckte uns Rasselbande, faltete unsere kleinen Hände und betete mit uns jeden Morgen unser Morgengebet. Danach wurden wir gewaschen und angezogen.

„Was möchtet ihr zum Frühstück essen? Ich habe Grießbrei und Paulys Nährspeise." Das war Mutters liebevolle Frage. Wir hatten morgens immer großen Hunger.

 

„Ich möchte Paulys Nährspeise essen!" sagte ich. Paulys Nährspeise war eine Nährmittelspeise mit Schokoladengeschmack.

In unserer Wohnstube, die links von unserem Flur vor unserer Kinderstube lag, war schon der Frühstückstisch gedeckt. Jeder setzte sich auf seinen Stammplatz. Mit dem Essen wurde erst angefangen, wenn Vater den Löffel in die Hand nahm.

Heute früh war Vater aber schon zur Stadtverwaltung zum Dienst gegangen. So warteten wir darauf, dass Mutter den Löffel in die Hand nahm. Bei Tisch wurde nie gesprochen. Wer mit dem Essen fertig war, legte seinen Löffel beiseite und wartete stillschweigend darauf, dass der Letzte mit dem Essen fertig war. Erst dann durfte gesprochen werden. Nun sagte Mutter: „Mahlzeit." Das war das Zeichen für uns, dass wir aufstehen konnten.

In der Zwischenzeit war schon Mutters Hilfe für den Haushalt, Lotte Klawitter, gekommen und hatte unsere große Kinderstube gelüftet, aufgeräumt und gereinigt. Hier befanden sich auch noch außer unseren Bettchen in verschiedenen Größen Tischchen und Stühlchen.

Während Rotraut, Hermann und Dankwart in den Hof gingen, setzten wir kleineren Geschwister uns an die Tischchen und malten, spielten oder bastelten. Papier und Buntstifte waren genügend vorhanden.

Während Lotte Klawitter in der Wohnung war, ging Mutter zum Einkaufen und bereitete danach das Mittagessen.

Weil ich nicht die ganze Zeit bis zum Mittagessen stillsitzen konnte, nahm ich mir meinen Kreisel und die Peitsche und ging auf unseren Bürgersteig. Dort wickelte ich das Peitschenband in die Rillen meines bunten Kreisels, bis es ganz bis zum Peitschenstiel darauf aufgewickelt war. Während ich noch den Kreisel mit dem Ende der Peitsche in der linken Hand hielt, bückte ich mich, stellte den Kreisel mit der Spitze auf den Gehsteig und zog mit großem Schwung mit der rechten Hand die Peitsche weg. Mit dem Abrollen des Bandes wurde mein Kreisel gedreht und tanzte nun auf dem Weg. Gezielt schlug ich mit der Peitsche das Band immer wieder unten an den Kreisel und zog es genauso schnell wieder ab, so dass er je nach meiner Fertigkeit kürzer oder länger tanzte.

Auch holte ich mir meinen kleinen Holzroller aus dem großen Vorraum, Dazu musste ich von draußen durch die große Haustür gehen. Von hier aus führten auch die Treppen hoch zu den oberen Wohnungen.

Rotraut besaß einen großen Tretroller, mit dem sie jetzt auch rollerte. Das war vielleicht ein prima Patent mit dem Tretpedal vor dem Hinterrad! Während Rotraut mit einem Fuß auf dem Roller stand, trat sie mit dem anderen Fuß laufend auf dieses Tretpedal. Dadurch hielt sie den Roller in Bewegung.

Jetzt gab sie ihn mir und fragte mich, ob ich nicht auch einmal darauf fahren möchte. Und ob ich wollte! Aber ich war einfach noch zu klein für diesen großen Roller. Meine Ärmchen mussten zu dem Lenker so hoch reichen, dass ich große Schwierigkeiten bekam, ihn überhaupt zu lenken. So gab ich ihn ihr ganz traurig wieder zurück. Mein kleiner Roller war mir nun doch viel lieber.

Als Vater mittags nach Hause kam, nahm er uns gleich mit in unsere Wohnung. Drinnen war schon der Mittagstisch gedeckt worden. Es duftete herrlich nach Tomatensuppe und Nudeln! Erst wurden unsere Hände gewaschen und dann ging es sofort in die gute Stube zum Mittagessen.

Vater verschwand nach dem Essen in seinem Arbeitszimmer. Es befand sich von der Wohnungstür aus gleich als erstes Zimmer links vor dem Wohnzimmer, unserer guten Stube. Wir durften dort nicht allein hinein. An den Wänden befanden sich große Bücherschränke und vor dem Fenster stand schräg Vaters großer Schreibtisch.

Lotte Klawitter war schon lange vor dem Mittagessen nach Hause gegangen, wie sie es jeden Tag machen konnte. Darum spülte Mutter das Geschirr und zog uns etwas über; denn sie wollte mit uns spazieren gehen.

Weil Vater wieder ins Büro musste, nahm er sich seine Jacke von dem Hirschgeweih, das auf dem Flur als Garderobenstange befestigt war - ein Geschenk seines Großvaters, des Försters aus Rackitt - und half Mutter noch dabei, den Kinderwagen für meine kleinste Schwester Ursula, die am 26.02.1944 geboren worden war, nach draußen zu bringen. Nun ging er wieder in das Rathaus, wo er als Stadtinspektor im Kulturamt tätig war.

Mutter versammelte uns Kinder alle um sich und ging mit uns die Blücherstraße entlang, in der wir in dem Haus Nr. 12A wohnten, in Richtung Eisturm. Die beiden kleinen Geschwister Bärbel und Friedemann, die schon laufen konnten, fassten beide an je einer Seite des hübschen Korbwagens an, dessen Verdeck innen mit rosa Atlasseide drapiert und mit Fransen umrahmt war.

In der Blücherstraße befanden sich beidseitig Häuser mit drei Stockwerken. Der Eisturm stand schon immer am Blücherplatz. Wir gingen rechterhand daran vorbei, über den Blücherplatz und hinunter zur Ihna, dem Fluss, an dem Stargard liegt.

Wir überquerten die Ihna auf der Jungfernbrücke und schlugen den Weidensteig ein, der gleich links unter hohen Bäumen an der Ihna entlang führte. Mutter hatte uns eingeschärft, nicht aus ihrer Nähe hinunter zum Wasser zu gehen, weil wir dann ertrinken würden. Es befand sich nämlich kein trennender Zaun zwischen dem Fluss und dem Weidensteig.

Die Sonne schien und spiegelte sich in dem dahin fließenden Wasser. Von beiden Ufern hingen die Zweige der Bäume tief zum Wasser herab. Es war hier sehr idyllisch.

Mutter hatte diese Richtung eingeschlagen, weil sie mit uns wie fast jeden Tag zu ihren Eltern Teske in die Luisenstraße beim Luisenplatz wollte. Ihre Eltern wurden von uns Oma und Opa Lu genannt. Lu ist die Abkürzung für Luisenstraße; denn unsere andere Oma, die Mutter unseres Vaters, wohnte am Blücherplatz und wurde von uns immer Oma Blücher gerufen.

Kaum waren wir bei Oma und Opa Lu angekommen, ging die große liebevolle Begrüßungszeremonie los. Jeder wurde gedrückt. Dann verteilten wir uns dort auf dem Grundstück.

Während Rotraut zu Opa Lu in die Schmiede ging - denn Opa Lu war Schmiedemeister und hatte viele Pferde zu beschlagen und viele interessante Gegenstände zu schmieden - gingen meine Brüder Hermann, Dankwart und Helmut in den Hof zu den vielen Pferdewagen und Kutschen, die hier standen. Darauf konnten sie schön lange herumturnen, ohne dass sie Langeweile bekamen.

Mich nahm Oma Lu aber gleich mit zu sich in ihre Küche.

„Du sollst jetzt dein Zucker-Ei bekommen", sagte sie dann lächelnd. Das wusste ich schon und konnte das Folgende kaum abwarten. Sie nahm aus ihrem Küchenschrank eine Muck, teilte ein Hühnerei, schlug das Eiweiß zu Eierschnee steif, ließ das Eigelb hineingleiten, tat noch Zucker hinein und rührte alles vorsichtig um. Und dann verschlang ich mit Genuss mein Zucker-Ei. Dabei sah sie mir schmunzelnd zu.

„Na, mein Zucker-Ei, bist du nun satt? Hat es dir gut geschmeckt?"

„Ja, das hat gut geschmeckt!" war meine Antwort.

Den Namen Zucker-Ei hatte ich mir wohl richtig verdient.

Danach ging auch ich zu Opa Lu in die Schmiedewerkstatt und sah ihm zu, wie er gerade ein Pferd beschlagen wollte. Mit einer sehr langen Eisenzange holte er aus der glühenden Esse ein glühendes Hufeisen und drückte es dem Pferd unter den hochgehaltenen Huf, dass es nur so dampfte und nach verbranntem Horn roch. Nun nagelte er es mit Hufnägeln fest.

Die Pferde standen dabei natürlich nie von allein still. Sie hatten in der für sie fremden Umgebung Angst. Dabei halfen meinem Opa Lu dann seine Schmiedegesellen, die das Pferd festhalten mussten. Wenn ich nur an die alte Zeit denke, meine ich noch heute, diesen eigenartigen Geruch zu riechen.

Aber lange hielt ich mich nicht in der Schmiede auf. Draußen befand sich auch Oma Lu’s Blumengarten. Hier setzte ich mich auf die weiße Bank und schaute mir die Blütenpracht an.

Rechts befand sich auf dem Stallgebäude der Taubenschlag mit Mutters weißen Brauttauben und den blau-weißen Strassertauben. Der Anblick dieser herumfliegenden und gurrenden Tauben nahm für lange Zeit meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Brauttauben konnten sogar mit ihrem Schwanz ein Rad schlagen. Mutter konnte sie nicht mit in die Blücherstraße 12A nehmen. Darum erfreuten wir uns immer bei ihren Eltern daran.

Gegen Abend holte uns Mutter wieder alle zusammen und zog uns wieder ordentlich an. Oma Lu oder Tante Wanda, die Frau von Mutters Bruder Hans, halfen gern dabei. Dann verabschiedete sich und ging mit uns wieder den Weidensteig entlang zurück nach Hause. Dort bereitete sie das Abendessen; denn Vater musste gleich nach Hause kommen.

Nach dem gemeinsamen Abendessen hieß es heute wie immer einmal in der Woche: "Heute wird gebadet."

Das war eine große Freude für uns! Das Wasser wurde in die Badewanne gelassen und wir Kinder wurden alle zusammen dort hineingesetzt. Die Wanne war voll. War das ein Spaß! Wir durften so viel plantschen, wie wir wollten. Dass das ganze Badezimmer unter Wasser gesetzt wurde, spielte keine Rolle. Das Wasser wurde hinterher von Mutter wieder aufgewischt. Vater fing bei den Jüngsten von uns Geschwistern an, uns abzuseifen. Mutter nahm uns mit dem Trockentuch in Empfang und steckte uns nacheinander in unsere Bettchen.

Weil Vater heute Abend noch einmal weggehen musste; denn er war für die Organisation des heutigen Konzertes verantwortlich, fragte mich Mutter:

„Möchtest du in Papis Bett schlafen? Er kommt heute später nach Hause."

„Ja, gern!" war meine Antwort.

So durfte ich in seinem Bett einschlafen. Das Elternschlafzimmer befand sich neben unserem Kinderzimmer. Eine Tür verband sie miteinander. Auf den Nachttischen neben Vaters und Mutters Bett befanden sich Lampen. In der einen konnte ich eine rote Birne und in der anderen eine blaue Birne anknipsen.

Und irgendwann spät in der Nacht holte mich Vater ganz vorsichtig aus seinem von mir in der Zwischenzeit angewärmten Bett und legte mich in meines. Davon habe ich nie etwas gemerkt. Aber schön war es, mit Mutter in einem Zimmer zu Bett zu gehen, noch etwas zu erzählen und dann irgendwann ganz glücklich einzuschlafen.

Natürlich wurde vorher noch gebetet. Mutter ging hier wieder von Bettchen zu Bettchen. Am Fußende eines jeden Bettchens stand ein Stuhl, auf dem schon die Garderobe des- oder derjenigen für den nächsten Tag schön fein säuberlich zusammengefaltet lag. So kam sie auch zu mir. Ich sollte meine kleinen Hände falten, und dann sprach sie auch mit mir das Abendgebet:

Ich bin klein.

Mein Herz mach’ rein.

Soll niemand drin wohnen

als Jesus allein.

Amen.

So verliefen die meisten Tage.

Verspürten wir mal ein menschliches Bedürfnis, dann gingen wir in unsere Badestube. Der Toilettenkörper war mir aber zu hoch. Für diesen Zweck stand daneben ein Töpfchen. Und weil unser Badezimmer kein Fenster hatte und ich deshalb dort nicht sitzen wollte, nahm ich mir das Töpfchen und ging damit in die Speisekammer und schloss von innen die Tür einfach ab.

In der Speisekammer war es hell. Das Fenster stand offen. Außerdem roch es sehr appetitlich. Hier setzte ich mich auf mein Töpfchen. Nach einiger Zeit - es war ein Sonnabend und Vater war zu Hause - hörte ich ihn rufen:

„Mini, wo bist du?"

Mutter und ihm war in der Zwischenzeit aufgefallen, dass ich nicht mehr da war.

„Hier bin ich, in der Speisekammer!" rief ich zurück.

Vater kam zur Speisekammertür und wollte sie öffnen. Aber das ging ja nicht.

„Schließ schnell von innen auf", sagte er mir.

Ich versuchte es, aber umsonst. Meine kleinen Finger waren nicht stark genug.

„Ich kann nicht", sagte ich schon weinerlich, weil ich es jetzt mit der Angst zu tun bekam.

Nach einer kurzen Pause sagte Vater: "Mini, du brauchst nicht zu weinen. Ich hole dich da gleich wieder heraus. Ich komme durch das Kammerfenster. Du musst noch etwas warten."

„Ja", sagte ich ganz verängstigt.

Und tatsächlich hörte ich Vater und Mutter draußen auf dem Hof mit etwas hantieren. Plötzlich erschien am Kammerfenster das obere Ende unserer großen Leiter. Kurz darauf erschien Vater dort oben.

„Komm her zum Fenster.“

Ich kletterte auf das Regal und ließ mich gern von ihm durch das Fenster nach draußen ziehen. Natürlich sollte ich den Schlüssel mitnehmen. Vorsichtig kletterte er mit mir die Leiter wieder zurück in den Hof, wo Mutter stand und dafür sorgte, dass diese nicht wegrutschen konnte.

„Das darfst du aber nie wieder machen", bekam ich nun zu hören. Das versprach ich sofort.

Wir hatten Glück, dass wir parterre wohnten. Gleich unter unserem Kammerfenster ging die Treppe hinunter zum Keller. Das hatte das Rettungsmanöver etwas erschwert.

 

Meine Geschwister waren natürlich auch alle mit auf dem Hof und hatten interessiert zugeschaut. Weil nun alles so glücklich verlaufen war, schlug Vater vor, dass wir wieder an der Leiter turnen durften. Dazu hielten er und Mutter die Leiter von beiden Seiten fest. Das eine Ende stand auf dem Hof und das andere Ende zeigte steil in die Höhe.

Altersmäßig nacheinander durften wir nun turnen. Rotraut fing als Älteste an. Dann kamen Hermann und Dankwart an die Reihe. Nun durfte ich anfangen. Ich sollte auf der einen Seite der Leiter nach oben klettern, oben auf die andere Seite steigen und wieder herunterkommen. Anschließend kamen meine jüngeren Geschwister Helmut und Friedemann an die Reihe. Bärbel war noch zu klein. Jeder turnte so hoch, wie er es wagte.

Danach sollten wir uns zwischen den Sprossen hindurch winden, um auf die andere Seite zu gelangen und von dort wieder nach der nächsten Querstrebe hindurch auf die erste Seite und so fort bis zum obersten Ende. Dabei entwickelte ich einen großen Ehrgeiz. Meinen drei größeren Geschwistern wollte ich in nichts nachstehen.

Nachher, als Vater wieder mit Mutter in die Wohnung gegangen war, lief ich zu unserer Schaukel. Sie stand hinten auf dem Hof. Mein Freund Rudi Münchow war in der Zwischenzeit zu uns gekommen. Er wohnte auch in der Blücherstraße, aber in dem Haus Nr. 7, in dem wir früher wohnten.

Rudi war mein liebster Spielgefährte. Er kümmerte sich viel um mich, war er doch auch schon fünf Jahre älter als ich. Er hatte dunkle Locken auf dem Kopf. Wenn ich schaukeln wollte, schubste er mich unermüdlich gern und doll an. Wenn ich dann ängstlich rief:

„Mini fällt, Mini fällt!", dann beruhigte er mich gleich wieder und nahm mich anschließend in seine Arme. Er versprach mir damals, dass er mich später heiraten wollte. Darauf war ich ganz stolz.

Als wir nach dem Turnen alle zu ihm gehen wollten, stand ein großer Lastkraftwagen mit Anhänger vor dem Haus Nr. 7. Das reizte uns, dort hinaufzuklettern. Meine großen Geschwister waren mit Rudi zuerst oben. Auch ich schaffte es. Plötzlich kam aber der Fahrer aus dem Haus und befahl uns, sofort wieder von dem Wagen zu klettern. Das ging ihm nicht so schnell, wie er es gehofft hatte. Mein Bruder Hermann befand sich noch oben, als er den Wagen startete und fahren wollte. Sofort war ich vorne beim Führerhaus und rief ganz jämmerlich:

„Du darfst nicht wegfahren. Mein Bruder Hermann ist noch oben!"

Daraufhin wartete er, bis auch Hermann endlich unten war.

Als ich später mal wieder von der Schaukel in die Wohnung gehen wollte, schaute ich neugierig rechts durch ein Fenster, das offen stand. In dem Raum dahinter stand eine Frau und wischte sich die Tränen ab.

Ich fragte sie: „Warum weinst du denn?"

Da zeigte sie mir die vielen Zwiebeln, die sie schon geschält und geschnitten hatte und die anderen, die sie noch schälen und schneiden sollte.

„Dabei wirst du später, wenn du mal groß bist und Zubereiten des Essens Zwiebeln schälen musst, auch weinen", sagte sie zu mir.

Und damit hatte sie auch vollkommen die Wahrheit gesprochen. Heute muss ich beim Schälen meiner Zwiebeln doch noch hin und wieder an sie denken.

Vom Hof aus konnten wir in unseren Keller kommen. Hier waren ein paar Hühner untergebracht worden, die uns schöne frische Eier legten.

Als Haustier besaßen wir in den ersten Jahren noch Mutters Lieblingstier: Schnippi, einen Kurzhaardackel. Weil wir aber so viele Geschwister geworden waren, mussten ihn meine Eltern zu einem älteren Ehepaar in gute Hände abgeben. Dort ist er leider später an der Zuckerkrankheit eingegangen, was meine Mutter und uns sehr traurig machte.

Hin und wieder durfte ich vormittags auch allein zu meinem Vater in das Rathaus gehen. Er saß in einem großen Bürozimmer, in dem noch mehr Tische und Stühle vorhanden waren. Er freute sich immer, wenn ich dort bei ihm auftauchte. Dann brachte er mir viel Papier und Buntstifte und setzte mich an einen freien Tisch. Mit Begeisterung malte ich dort die Blätter voll. Einige Bögen davon mit dem Datum darauf besitze ich noch heute.

Dort beschäftigte er mich so lange, bis er mittags oder abends nach Hause gehen konnte. War das schön!

Und an einem Nachmittag ging Mutter nicht zu Oma und Opa Lu, sondern in das Schwimmbad in der Ihna. Es war draußen so herrlich warm, dass mir Mutter mein Lieblingskleidchen anzog. Es war ein gelbes Hängerchen mit Puffärmeln, einem weißen Krägelchen und vielen kleinen bunten Kullern auf dem gelben Stoff.

Es muss Sonntag gewesen sein; denn Vater kam mit uns mit. Weil ich noch nicht schwimmen konnte, durfte ich nur dort in das Wasser gehen, wo es sehr flach war. Mutter passte sehr gut auf. Aber wie sehr staunte ich, als ich die großen Männer und Frauen so frei im Wasser schwimmen sah. Das wollte ich später auch unbedingt lernen, nahm ich mir vor.

In diesem Sommer bekam ich Masern und musste das Bett hüten. Draußen schien die Sonne. In der Stube war es sehr warm. Mutter hatte die Gardinen vor die Fenster gezogen, weil mir die Helligkeit in den Augen schmerzte. Mutter stellte mir ein kleines Betttischchen über das Oberbett, stützte mit einem Kissen meinen Rücken ab und gab mir herrlich gezuckerte Erdbeeren. Danach legte sie mir Papier und Buntstifte hin. Bei dieser Beschäftigung vergaß ich alles um mich herum, bis ich müde wurde und zum Schlafen hingelegt wurde.

Als ich wieder gesund war, gingen Vater und Mutter mit uns sonnabends und sonntags gern in unseren Garten. Dazu mussten wir wieder bis zum Eisturm, an ihm rechts unter den hohen Bäumen des Blücherplatzes quer zur Jungfernbrücke über die Ihna gehen. Anstatt links den Weidensteig zu nehmen, gingen wir geradeaus quer über den Bismarckplatz zur Wiekstraße. Hier hinten befand sich unser Grundstück, wo Vater später ein Haus für uns bauen wollte. Bis jetzt hatte er das Grundstück vorne mit Blumen und Gemüse und dahinter mit vielen Obstbäumen bepflanzt.

Heute zeigte er uns die neue Gartenlaube, die er gebaut hatte. In ihrem Innern befanden sich rundherum Bänke. In der Mitte stand ein Tisch, von dem wir aßen. Meine Lieblingsblumen waren die weißen Phloxstauden mit dem roten Punkt in jeder Blütenmitte. Und während ich mich gerade an einer Blütendolde erfreute, kam eine für meine Verhältnisse große Heuschrecke auf meinen Fuß gesprungen und biss mich. Mit lautem Wehklagen suchte ich Hilfe und Schutz bei Vater und Mutter. Seitdem habe ich um diese Tierchen immer einen großen Bogen gemacht.

An diesem Tag war Oma Blücher auch zu uns in den Garten gekommen. Sie war eine resolute alte Dame und fing einen Maulwurf, der in unserem Garten seinen Maulwurfshügel aufgeworfen hatte. Kurz entschlossen tötete sie ihn und befestigte ihn auf einer Stange, die sie in dem Garten aufstellte.

„Warum machst du das denn, Oma?" fragte ich sie.

Sie antwortete mir mit felsenfester Überzeugung: „Wenn andere Maulwürfe diesen toten Maulwurf sehen und merken, dass er nicht mehr lebt, dann kommt keiner mehr in unseren Garten, um ihn umzuwühlen."

Und dann nach einer kleinen Pause erzählte sie mir: "Früher habe ich alle gefangenen Maulwürfe auch noch abgezogen und die kleinen Felle gegerbt. Zum Trocknen heftete ich sie an die innere Kellertür. Daraus ließ ich mir dann eine Pelzjacke anfertigen."

Das imponierte mir sehr.

Gegen Abend gingen wir wieder langsam nach Hause. Nach dem Abendessen und vor dem Abendgebet sangen wir noch mit Vater und Mutter dieses Lied:

Weißt du, wie viel Sternlein stehen

an dem blauen Himmelszelt?

Weißt Du, wie viel Wölkchen ziehen

weit hinüber alle Welt.

Gott, der Herr, hat sie gezählet,

dass ihm auch nicht eines fehlet

an der ganzen großen Zahl,

an der ganzen großen Zahl.

Weißt Du, wie viel Mücklein spielen

in der heißen Sonnenglut?

Wie viel Fischlein auch sich kühlen

in der hellen Wasserflut?

Gott, der Herr, rief sie mit Namen,

dass sie alle ins Leben kamen,

dass sie nun so fröhlich sind,

dass sie nun so fröhlich sind.

Weißt Du, wie viel Kinder frühe

stehen aus ihrem Bettlein auf?

Dass sie ohne Sorg und Mühe

fröhlich sind im Tageslauf?

Gott im Himmel hat an allen

seine Lust und Wohlgefallen,

kennt auch dich und hat dich lieb,

kennt auch dich und hat dich lieb.

Bald waren wir in einen tiefen und gesunden Schlaf gefallen.

Das Haus Blücherstraße 12A beherbergte noch mehr Familien. Über uns wohnte der Studienrat Krockow, darüber der Staatsanwalt Weiß und ganz oben Frau Puttlich. Uns gegenüber in der Blücherstraße wohnte eine sehr dicke Frau. Sie hieß Frau Hackelberg. Wenn bei uns mal der Strom ausfiel, sagte Vater immer: „Frau Hackelberg sitzt auf der Leitung."

Darüber musste ich immer sehr lachen.

Schräg gegenüber in der Blücherstraße Nr. 7 wohnte Tante Rave. Bevor meine kleine Schwester Bärbel geboren wurde, hatten wir dort unter ihr gewohnt. Tante Rave war eine von Mutters besten Freundinnen. Sie hatte uns Kinder immer sehr geliebt.

Einmal habe ich sie ganz allein besucht. Zu ihr musste ich Treppen steigen. Es war vormittags. Sie hatte gerade zwei für meine Verhältnisse große Fische gekauft.