Zauberhaft - Victoria

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Victoria rief noch an der ersten Ampel ihren Vater an.

»Liebling, ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich sitze im Auto. Kann ich noch kurz rumkommen? Ich brauche deinen Rat.«

»Immer. Du weißt doch, dass ich nie vor eins ins Bett gehe. Wann bist du hier?«

»In ein paar Minuten.«

»Bis gleich.«

Sie parkte den Wagen in der Tiefgarage unter der Villa und lief die wenigen hundert Meter zu ihrem Vater zu Fuß. Etwas frische Luft konnte nicht schaden.

Wilhelm Engwald stand bereits in der Tür, als seine Tochter das schmiedeeiserne Tor durchschritt und den kleinen Weg zum Haus hinauflief. Er hatte gerade die Abendrunde mit den Hunden Justus und Jonas beendet; die beiden hellen Weimaraner lagen im Flur, die Köpfe auf den Pfoten, und warteten. Als sie Victoria sahen, sprangen sie auf und wedelten freudig erregt mit den Schwänzen.

»Ich hab leider nichts für euch mitgebracht«, rief sie und kraulte die beiden an den Ohren. Ihren Vater begrüßte sie mit einer angedeuteten Umarmung und Küsschen. Er dirigierte sie ins Wohnzimmer, wo sich Victoria in den ledernen Ohrensessel schwang. Alsbald lagen die beiden Hunde zu ihren Füßen.

»Du strahlst so, das ist schön. Was ist der Anlass?«

»Was soll ich sagen? Ich bin verliebt. Wahnsinnig. Und das ist auch der Grund, warum ich dich um deinen Rat ersuche.«

»Ah, das freut mich für dich. Ich dachte zunächst, es ginge um die Firma!?«

»Nein, ECG läuft wie ein Schweizer Uhrwerk. Keine Sorge. Aber in vier Wochen ist ohnehin Aufsichtsratssitzung, dann kannst du dich persönlich davon überzeugen.« So ganz losgelassen hatte er immer noch nicht, aber wie auch. Sein Herzblut steckte in der Firma und sein Fleisch und Blut leitete sie.

»Ich vertraue dir, Liebling. Das weißt du auch. Nun erzähl, was gibt es, beziehungsweise, wen gibt es?«

»Es gibt Dr. Magnus Brandt.«

»Den neuen Direktor des Amtsgerichts?«

»Ja. Genau den.«

»Das musst du mir jetzt aber erklären, der ist doch noch gar nicht so lange hier ...«

Und Victoria erklärte. Berichtete von ihrer ersten Begegnung. Ihrer zweiten. Und dem heutigen Abend. Sie umschrieb die Gemeinsamkeiten, die sich in den letzten zwei Tagen aufgetan hatten und Wilhelm hörte aufmerksam zu, ließ sie erzählen, ließ sie schwelgen und spürte, dass es ihr ernst war.

»Und in welchem Detail bist du so unsicher, dass du meinen Rat möchtest?«

»Ich weiß nicht, wie ich ihm ECG erklären soll. Weißt du, ich habe dir von den meisten Dates in der Vergangenheit ja erzählt und bei Magnus habe ich einfach das Gefühl, dass er richtig zurückschreckt, wenn er ungefähr abschätzen kann, auf was und wen er sich da einlässt.«

»Was heißt auf wen ...? Er hat dich privat kennengelernt, das heißt, wen er sich da angelacht hat, wird er also jetzt schon wissen. Und was damit verbunden ist, kannst du ihm ja schonend beibringen. Ich bin übrigens sehr beruhigt, dass es diesmal keiner von der anderen Sorte ist.«

»O ja ... Ich auch. Nur wird er mich morgen in Düsseldorf zum Essen treffen. Ich habe Angst, dass das mit ECG zu schnell zu groß wird. Ich weiß, dass Magnus aus normalen Verhältnissen stammt, ich will ihn weder anlügen noch allzu lange im Unklaren lassen. Am liebsten würde ich ihn noch vor Dubai einweihen. Aber irgendwie hat er auch noch ein paar Sachen in Berlin zu klären. Wir haben noch nicht darüber gesprochen.«

»Hm. Was denkst du, könnte das sein?«

»Keine Ahnung. Ex-Freundin? Schulden? Schlimmstenfalls ungeklärte Vaterschaftsverhältnisse. Aber ganz im Ernst: Das ist mir ziemlich egal.«

»So?«

»Ja. Frag mich nicht, woher ich diese Sicherheit nehme oder warum ich nicht, wie üblich, anfange, ihn zu googeln, einen Privatdetektiv auf ihn ansetze oder sonst was.«

»Du vertraust ihm!?« Wilhelm Engwald rieb sich das Kinn.

»Ja. Er hat so eine äußerst besonnene, ruhige Art. Und auch völlig losgelöst davon, dass er Richter ist, habe ich bei ihm einfach das Gefühl, dass ich ihm blind vertrauen kann, ja.«

»Wenn ich mich recht entsinne, habe ich so etwas noch nie von dir gehört.«

»Siehst du, ich auch nicht. Und das macht mir Angst.«

»Warum? Das ist doch etwas Schönes.«

»Ja, nur ... Ich kann es momentan noch nicht genießen.«

»Dubai?«

»Dubai.«

»Du magst Hakim immer noch?«

»Ja.«

»Liebst du ihn?«

»Nein.«

»Dann ist es doch eindeutig.«

»Schon. Das war es eigentlich immer. Nur diesmal hat es so einen Grad der Bestimmtheit erreicht ...«

»Liebling, Hakim war immer da. Ich weiß. Er hatte immer einen Platz in deinem Leben, deinem Herzen. Aber wenn ihr füreinander bestimmt wäret, hättet ihr in den letzten, ja nun fast zehn Jahren, doch einen Weg gefunden, das wirklich dingfest zu machen. Oder?«

»Ja. Du hast recht. Ich bin froh, dass du das auch so siehst.«

»Wann fliegst du?«

»Montag.«

»Machst du dir Sorgen, dass er ECG das Mandat entzieht?«

»Nein. Erstens, schätze ich ihn nicht so ein und zweitens wäre das auch kein Beinbruch. Du hast mich gelehrt, nicht alle Eier in einen Korb zu legen. Inzwischen sind wir so gut und breit aufgestellt, dass wir im Prinzip auf den gesamten arabischen Raum nicht mehr angewiesen sind. Der Boom dort hat seinen Zenit meines Erachtens ohnehin überschritten. Ich denke, dass Europa wieder unser Kernmarkt werden sollte. In London habe ich momentan ein paar Sachen angekratzt, aber darüber mag ich gerade nicht spekulieren ...«

»Dann mach mich auch nicht neugierig, Liebling. Geh lieber ins Bett und überleg dir, wie du Magnus behutsam an die Firma heranführen kannst. Vielleicht haben Moritz oder Elisabeth auch einen Rat für dich? Denen ging es ja ähnlich, damals.«

»Hab ich auch schon überlegt, aber letztlich kann ohnehin niemand seine Reaktion vorhersagen ...« Victoria klang genervt. Früher hatte sie sich immer über solche Szenen in Filmen lustig gemacht, in denen das große Lebensgeheimnis eines Protagonisten offenbart wurde. Bei Moritz und Elisabeth war sie ebenfalls nur eine Randfigur gewesen. Es war auch nicht das erste Mal, dass sie sich jemandem offenbarte. Aber sie hoffte so sehr, dass es das letzte Mal sein würde.

Magnus saß auf der Couch, das Tablet im Schoß und grübelte. Googeln? Nicht googeln? Es juckte ihm in den Fingern, Dr. Victoria Berg – suchen. Aber damit hätte er ihr Vertrauen missbraucht. Und das für läppische 12 Stunden Vorsprung? Er schämte sich, dass er es überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Würde man nach ihm suchen, fände man sicherlich auch so einiges heraus. Sein Mittelalterverein hatte eine Internetseite, über den Wechsel von Berlin nach Eschberg war in der Zeitung geschrieben worden, ein paar alte Nachrichten über seine Amateur-Boxkarriere waren sicherlich unter den späteren Treffern. Er wollte aber selbst lieber nicht wissen, ob es Hinweise auf Ilona gab. Das Internet vergisst nie. Aber wie sagte Victoria vorhin? Es stehen auch eine Menge Unwahrheiten geschrieben.

Sie hatte sich kurz per WhatsApp bei ihm gemeldet, dass sie noch auf einen Sprung zu ihrem Vater ging und dann »Gute Nacht« sagen würde, wenn sie zu Hause wäre. Er zückte sein Handy. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er mehrere Anrufe in Abwesenheit hatte. Eine ihm unbekannte, Essener Nummer. Essen? Er kannte niemanden in Essen. Magnus googelte die Nummer und las.

Deutsche Bank, Kreditbetreuung.

Das Herz rutschte ihm in die Hose. Er wählte den Rückruf. »Deutsche Bank Service Line, mein Name ist Ute Norberg, guten Abend.«

»Guten Abend, Magnus Brandt. Ich hatte einen Anruf auf dem Display unter dieser Nummer.«

»Das waren vermutlich die Kollegen der Kreditbetreuung. Sie erreichen sie montags bis freitags zwischen 8 und 18 Uhr.«

»Oh. Ja. Vielen Dank«, verabschiedete er sich.

Klar. Mitten in der Nacht würde in der Kreditbetreuung niemand mehr sitzen. Natürlich ahnte er, was die Bank von ihm wollen würde. Seit Wochen stand sein Konto am Limit, zwei Kreditraten aus der Umschuldung des Wohnungsverkaufs waren geplatzt, ebenso eine Rate des Hochschulabsolventenkredites und er war sich nicht sicher, was mit der Abbuchung der nächsten Kreditkartenabrechnung geschehen würde. Als er und Ilona die Wohnung abgewickelt hatten, war eine mittlere fünfstellige Summe offengeblieben, wie so oft bei einem Notverkauf. Ohne eine neue Sicherheit stellen zu können, musste er den Restbetrag über einen Standardkredit finanzieren. Dazu hatte er sich an seine frühere Hausbank gewandt, er wollte nicht, dass Ilona Zugriff auf die Konten hatte und sah, was er mit seinem Geld anstellte. Die letzten fünf Jahre hatte er sich wenig darum kümmern müssen, die letzten fünf Monate wohl zu wenig geschert.

Es wurde ihm heiß und kalt. Magnus suchte nach den Zugangsdaten für sein Onlinebanking, konnte sie aber nicht finden. Er rechnete nach. Dass er am Morgen zu Tobias gesagt hatte, er dümpelte um das Existenzminimum, war eigentlich ein Spaß. Aber nach den Abzügen durch die Krankenversicherung, den Trennungsunterhalt, der fast die Hälfte seines Einkommens ausmachte, den Raten für die Umschuldung und den alten Kredit blieben ihm noch 1000 € für den Lebensunterhalt. Minus Miete, anderen Versicherungen und den Kosten für das Auto kam er bei knapp dreihundert Euro aus. Etwas mehr, als Victoria gestern für das Buch ausgegeben hatte. Er schüttelte den Kopf. Rechnete nach. Es blieben 283 €.

Das Handy schellte. Vom Display lächelte ihn Victoria an. Er verwarf den Anruf. Jetzt nicht. Jetzt bitte nicht.

Victoria sah irritiert auf ihr Handy. Hatte Magnus sie gerade »weggedrückt«? Das Freizeichen hatte sie gehört, dann den Besetztton. Sie öffnete WhatsApp wieder. Er war immer noch online.

 

💎 Hey, habe gerade versucht, dich anzurufen. Irgendwie ging das schief. Hab ich dich im falschen Moment erwischt?

Ein Häkchen. Zwei Häkchen. Zwei blaue Häkchen.

Magnus fühlte sich ertappt. Er musste antworten.

🎓 Ist grad ungünstig.

💎 Oh. Sorry.

Victoria schossen die Tränen in die Augen. Was war in der kurzen Zeit passiert? So knapp und unterkühlt hatte Magnus bisher nie geantwortet. Kein Küsschen, kein Smiley. Sollte sie noch mal nachhaken? Lieber nicht. Er würde sich melden, wenn es wieder »günstig« wäre. Den Schmerz in ihrer Brust versuchte sie zu ignorieren, schaltete das Handy in den Nachtmodus und deckte sich zu. Hatte Berlin ihn eingeholt? Dubai hatte sie jedenfalls an diesem späten Abend noch erwischt. Das Gespräch mit ihrem Vater kam ihr wieder und wieder in den Sinn. Unabhängig davon, wie es mit Magnus weitergehen würde, müsste sie unter die Sache mit Hakim einen Schlussstrich ziehen.

Unruhig wälzte sie sich hin und her. Irgendwann, weit nach Mitternacht fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

Mittwoch, 17.07.

Als sie um fünf Uhr morgens den Wecker hörte, sah sie als erstes in den Nachrichteneingang. Nichts. Kein Wort von Magnus. Damit war der Tag offiziell gelaufen.

Am anderen Ende Eschbergs riss der Wecker Magnus von der Couch. Er musste über den Unterlagen eingeschlafen sein. Nach genauer Durchsicht hatte er sich entschlossen, die Zahlungen an Ilona einzustellen. Es ergab keinen Sinn. Das Recht war auf seiner Seite, egal wie vorsichtig er und Tobias agiert hatten. Als Erstes würde er den Dauerauftrag stoppen. Dann müsste er die Neuordnung der vorhandenen Verbindlichkeiten angehen.

Victoria.

Der Gedanke an sie ließ ihn wie vom Blitz getroffen zusammenzucken. Er hatte ihr gar nicht mehr geschrieben und die letzte Nachricht war alles andere als freundlich und liebevoll. Völlig entsetzt stützte er die Arme auf die Knie und den Kopf in die Hände. Für halb eins waren sie verabredet. Sollte er sie lieber anrufen? Schreiben? Persönlich um Verzeihung bitten? Er würde sich erklären müssen. Peinlich.

Da ihm ohnehin wenig Zeit an diesem Tag blieb, verschob er die Entscheidung, wann und wie er Victoria ins Vertrauen ziehen wollte, auf später. Die Dusche klärte seine Gedanken ein wenig und er sammelte seine Konzentration für die Verhandlung um acht. Länger als eine Stunde durfte es nicht dauern oder er käme zu spät nach Düsseldorf.

Gehetzt betrat er eine Dreiviertelstunde später sein Dienstzimmer. Frau Scharnweber war noch nicht da, also setzte er den ersten Kaffee auf. Ihm blieben noch knapp zwei Stunden, ein bisschen was würde er in dieser Zeit wohl schaffen. Immer wieder aber lenkte ihn das Handydisplay ab. Sollte er? Sollte er nicht? Nicht, dass Victoria dachte, er würde das Treffen platzen lassen.

Magnus beschloss, ihr zu schreiben, wenn er sich auf den Weg machte.

*

Als David Meißner Victoria um kurz nach sieben statt in der Lobby im Büro sitzen sah, wusste er, was das zu bedeuten hatte; einer der wenigen Tage, an denen Victoria schlechte Laune hatte, war angebrochen. Also schickte er die erste Mail des Tages an Lisa vom Empfang: »Do not disturb.« Damit war alles gesagt. Keine Störungen, sonst würde der Vulkan ausbrechen. Ein einziges Mal hatte er einen Wutanfall miterlebt. Er wünschte sich seither, dass es nie wieder dazu käme. Angefangen hatte der Tag damals wie heute, Victoria saß in ihrem Büro, die Jalousien zu allen Seiten zugezogen, Telefon auf Davids Apparat umgeleitet und das »Do not disturb«-Schild an der Tür. David ahnte Fürchterliches.

*

Um kurz nach halb neun war die Verhandlung bereits geschlossen. Magnus hatte schnell ein rundes Bild von der Angelegenheit bekommen, der Angeklagte war geständig gewesen, die Schöffen einer Meinung mit ihm. Was sollte er die Sache also in die Länge ziehen? Wenige Minuten nachdem er die schwarze Robe ausgezogen hatte, saß er in seinem Auto, tippte das Ziel in sein Navi ein und schrieb Victoria.

🎓 Hey ... Bin jetzt auf dem Weg nach Düsseldorf. Das mit heute Nacht würde ich dir gern persönlich erklären. Bis später. 😚

Zwei graue Häkchen.

Auch als er, nicht ganz zwei Stunden später, das Bürohochhaus des Oberlandesgerichts in Düsseldorf schon wieder verließ, waren die Häkchen noch grau. Sie hatte seine Nachricht nicht gelesen. Betrübt sah er immer wieder auf das Display. Magnus war fast eine halbe Stunde zu früh dran gewesen, der Termin wurde vorgezogen und hatte nur kurz gedauert. Drei Unterschriften, kurzer Wortwechsel, fertig.

Er hatte jetzt anderthalb Stunden zu überbrücken. Ihm graute es davor. Also überlegte er, was er mit der Zeit anstellen könnte. Warum Victoria eigentlich nicht im Büro überraschen? Und wenn es nur für ein kurzes »Hi!« reichen würde und er die restliche Zeit irgendwo auf sie warten müsste, er musste sie jetzt sehen.

Aber, wo musste er hin? ECG, das war ihm im Gedächtnis geblieben. Er durfte zwar Victoria nicht googeln, aber die Firmenadresse war ja kein Geheimnis, also tippte er. ECG.

»Meinten Sie ECG AG?«, war Googles Antwort. Hm. Wahrscheinlich.

»ECG AG Adresse Düsseldorf«, korrigierte Magnus.

»ECG AG Düsseldorf, Medienhafen. Entfernung zum jetzigen Standort Victoriaplatz: 2,8 km.«

Laufen oder fahren? Laufen. Und währenddessen die Bank anrufen.

Das Gespräch war ernüchternd. Die Bank setzte ihm die Pistole auf die Brust: Zahl oder stirb.

Durch den Umzug hatte er die Mahnungen nicht erhalten, die Frist von 14 Tagen war fast verstrichen. Immerhin war die Dame am Telefon so freundlich, den Dauerauftrag an Ilona zu stoppen und ihm seine Fragen zu beantworten. Eine Umschuldung kam nicht in Frage, da er bereits das Immobiliendarlehen umgeschichtet hatte. In Summe schuldete er der Bank aktuell knapp 70.000 Euro. Der Magen drehte sich ihm um. Er rechnete zusammen, was er Ilona im Laufe der Zeit gezahlt hatte und was sie ihm eigentlich anteilig schuldig wäre. Mit dem spitzen Bleistift kalkuliert, blieben an ihm eigentlich nur 20.000 Euro hängen. Ein Klacks, bei seinem Gehalt. Aber die Bank rechnete anders. Magnus hatte, aus falscher Rücksichtnahme auf Ilonas Status als Bankerin, die Verträge allein unterschrieben, jetzt haftete er auch allein.

Ein kurzer Anruf bei Tobias munterte ihn auf. Das Scheidungsverfahren war, nach einigem hin und her, an einen anderen Richter abgegeben worden. Die Antragsschrift auf die Ausgleichszahlung von Ilona an Magnus war gerade per Fax an ihren Anwalt rausgegangen. Es könnte dauern. Ja. Aber Tobias verabschiedete sich mit den Worten: »Alles wird gut. Allons-y«, und das tat er nur, wenn er sich absolut sicher war, zu gewinnen.

Medienhafen. Magnus schmunzelte. Er war da. Und das Gebäude war nicht zu übersehen. ECG. Der alte Backsteinbau gefiel ihm, das Rot leuchtete in der Sonne, der blaue Himmel spiegelte sich in den Fensterscheiben, die parkähnliche Anlage lud zum Flanieren ein. Kein Wunder, dass Victoria gern hier arbeitete.

Von weitem sah er den Mustang, sie war also da. Er blickte auf sein Handy. Graue Häkchen. Etwas mehr als eine Stunde zu früh. Einen Versuch war es wert.

Durch das große Portal betrat er die Lobby, es war angenehm kühl im Innern des Gebäudes und er fühlte sich fast wie im Hotel. In kleinen Sitzgruppen tummelten sich Mitarbeiter, die Geräuschkulisse war dezent und er war bereits zweimal freundlich gegrüßt worden. In den Fluren der Amtsgerichte, die er kannte, wäre das nie und nimmer passiert. Hier roch es nach Kaffee, frischen Waffeln und Croissants. Dort nach jahrzehntealtem Bohnerwachs, modrigen Archivakten und dem Angstschweiß der Angeklagten. Zwei völlig verschiedene Welten.

»Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?« Der Mitarbeiter, der laut Ausweis Dr. Markus Bruckmann – Head of Legal Consulting and Compliance – war, hatte den etwas ratlos dreinschauenden Magnus auf seinem Weg zum Empfang angesprochen.

»Guten Tag. Ich bin Magnus Brandt und möchte gern zu Victoria Berg.«

»Haben Sie einen Termin mit ihr?«

»Privat. Ja. Ich bin nur etwas zu früh dran ...«

»Ah, Moment. Dr. Magnus Brandt, klar. Moritz hat mir von Ihnen erzählt.«

»Moritz von Eschberg? Ähm. Wieso ...?«

»Moritz und ich sind seit Ewigkeiten befreundet und haben hier früher zusammen gearbeitet, Elisabeth war meine Assistentin. Lange Geschichte. Wir haben heute früh telefoniert und er hat mir von Ihrer Begegnung gestern erzählt. Ich bin quasi im Bilde.«

»Und ich bin immer wieder erstaunt, wie klein die Welt doch ist.«

»O ja. Das ist sie. Ich bin übrigens Markus, ich hoffe, es spricht nichts dagegen, wenn wir uns duzen?«

»Nein, gern. Magnus«, schüttelte er seine Hand.

»Fein. Ich frag gern mal Lisa, ob Victoria schon abkömmlich ist. Warte am besten da vorn in der Sitzgruppe, ich komme gleich zurück. Soll ich dir einen Kaffee bringen lassen?«

»Danke, nicht nötig.«

Aus der Entfernung sah Magnus, wie Markus mit der Dame am Empfang diskutierte. Seine Mimik und Gestik waren eindeutig, irgendetwas lief gerade schief. Ein paar Augenblicke später kam Markus zurück.

»Sorry, ich komm an Lisa gerade nicht vorbei ...«

»Wie meinst du das?«

»Sie hat Anweisung von Victorias Assistenten, niemanden durchzustellen oder ohne Termin vorzulassen. Euer Date steht offenbar nicht im Kalender und Victoria hat nicht Bescheid gesagt.«

Magnus kicherte. »Moment, Victoria hat einen eigenen Assistenten? Und der entscheidet, wer eine Audienz bekommt und wer nicht?«

Markus blickte ihn skeptisch an. »Sie hat dir noch nicht viel über die Firma erzählt. Oder?«

»Nein.« Magnus gefror das Grinsen im Gesicht und er verengte die Augen zu Schlitzen. »Und lass mich raten, du wirst mich jetzt nicht erhellen!?«

»Hm. Schwierig. Pass auf, ähm, ich schau mal, was sich machen lässt. Bleib einfach hier sitzen, lass dir einen Kaffee bringen und entspann dich. Ans Handy wird Victoria wohl jetzt nicht gehen. Aber da augenblicklich kein Meeting ist, schau ich mal, ob ich sie aus ihrem Büro gelockt bekomme.«

Markus verabschiedete sich. Magnus fröstelte. Was wurde hier gespielt? Victoria hatte ihre Arbeit die ganze Zeit heruntergespielt oder zumindest nicht konkretisiert, was genau sie machte. Aber das Aufheben um sein Erscheinen hier kam ihm äußerst seltsam vor. Er begann, sich zu fragen, was für einen Job sie wirklich machte.

Um sich abzulenken, sah er auf sein Handy. Zwei blaue Häkchen. Sie hatte die Nachricht gelesen. Zufall? Oder hatte Markus sie bereits angetroffen und informiert? Für einen Moment ergriff ihn die Panik und er überlegte, ob er noch flüchten sollte. Wenn sie sauer war, wegen der Abfuhr in der Nacht zuvor, wäre sie sicherlich nicht erfreut, das am Arbeitsplatz auszudiskutieren. Was für eine blöde Idee, Magnus, tadelte er sich selbst, stützte die Ellbogen auf die Knie und rieb sich die Augen.

Plötzlich spürte er, wie eine Hand über seinen Rücken strich. Wie in Zeitlupe drehte er sich zur Seite und blickte in Victorias Gesicht. Die Augen gerötet und blass um die Nase. Sie sah verweint aus. Aber lächelte. »Hi«, sagte sie leise.

Magnus stand auf und nahm ihre Hand, die sie noch auf seinem Jackett verweilen ließ.

»Hi ...«

Sie tat ihm so unendlich leid, wie sie dort stand; ein kleines Häufchen Elend in High Heels. Kein Zweifel, sie hatte seinetwegen geweint. Unsicher strich er über ihre Finger.

»Kommst du bitte mit?«, fragte sie ebenso leise, wie sie ihn begrüßt hatte.

»Ja, wenn es dir nichts ausmacht und ansonsten auch okay ist!?«

»Ja ... Mach dir keine Sorgen.« Sie zwinkerte ihm zu und deutete ihm den Weg Richtung der großen Treppe am Ende der Lobby.

Wollte sie ihn nur in Sicherheit wiegen und dann in ihrem Büro auseinandernehmen oder was sollte das hier werden?

»Du hast kalte Hände ...«, sagte sie mitleidig, als sie die ersten Stufen genommen hatten.

»Ich habe auch ein wahnsinnig schlechtes Gewissen und bin ein bisschen nervös ...«, entgegnete Magnus ihr.

Victoria blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah ihn an. »Das habe ich auch und das bin ich auch.« Sie zog ihn näher zu sich heran, ein paar Mitarbeiter kreuzten ihren Weg und schauten sie fragend an. Victoria nickte stumm aber freundlich und sah Magnus mit festem Blick direkt in die Augen.

 

»Ich kann mir denken, dass du mich überraschen wolltest, leider lockt mich das jetzt unvorhergesehen aus der Reserve.«

»Was meinst du?«

»Shhhh.« Victoria legte ihm den Finger auf die Lippen. »Wir gehen jetzt in mein Büro und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du es erst wieder verlässt, wenn wir uns ausgesprochen haben.«

»Du machst mir gerade Angst ...«

»Ich mir auch. Ich mir auch ... Komm!«

Wenige Schritte weiter zückte Victoria ihren Mitarbeiterausweis aus der Blazertasche, öffnete über die Kartenleser noch zwei Türen und nahm Magnus wieder bei der Hand.

Vor einem weiteren kleinen Empfang blieb sie stehen.

»David, ich möchte nicht gestört werden. Egal, was passiert.«

»Sehr wohl.«

Magnus sah, wie verdutzt der junge Mann auf seine Hand schaute, die immer noch in ihrer lag und wie er offenbar im Geiste noch einmal wiederholte, was Victoria gerade gesagt hatte.

Sie schloss die Glastür und auf einen Fingerstreich hin verwandelte sie sich in eine Milchglasscheibe, zwei Handbewegungen später waren die Jalousien leicht geöffnet und das vorher steril wirkende Büro wurde in ein wärmeres Tageslicht getaucht. Es war riesig. So groß wie der Hauptgerichtssaal in Eschberg. Und außen an der Tür hatte er ein Namensschild erspäht.

Dr. Victoria Berg, Chief Executive Officer.

Sein Herz rutschte ihm in die Hose.

Victoria wandte sich Magnus zu, seine Hand hatte sie die ganze Zeit nicht losgelassen, aus Angst, er könnte weglaufen.

»Was möchtest du trinken? Dr. Pepper?«

»Ja, gern.«

Sie öffnete die Tür noch einmal, steckte den Kopf hindurch und sprach mit ihrem Assistenten. »David, bringst du uns bitte ein großes Dr. Pepper und ein großes Bull?«

»Ja, sofort. Ich weiß, ich soll nicht stören –«

»Aber?«

»Erstens kann ich die Getränke schlecht unter der Tür durchschieben und zweitens ist das Büro von A.M. auf Leitung zwei.«

»Klopf einfach an, bevor du reinkommst!«

»Und was mache ich mit A.M.?«

»Ich rufe zurück.«

»Aber ...«

»Kein aber. Ich setze hier die Prioritäten. Immer noch.«

»Tja, herzlich willkommen in meiner Welt ...«, sagte Victoria seufzend. »Lass es uns da vorn in der Sitzecke gemütlich machen ...«

Sie deutete auf den kleinen Tisch mit der edlen Ledergarnitur. Zwischen den Pflanzen wirkte die Ecke tatsächlich gemütlich, das Gemälde, welches darüber an der Wand thronte, zeigte eine mittelalterliche Turnierszene, den Tjost. Magnus fühlte sich magisch von diesem Bild angezogen und vergaß für einen Augenblick, was ihn in dieses Büro geführt hatte. Wer ihn in dieses Büro geführt hatte.

»Träumerle ...« Victoria lachte und lehnte sich an ihn. In diesem Moment klopfte es, David stellte die Getränke ab und entfernte sich lautlos.

»Danke!«, rief Victoria ihm hinterher. »Setz dich gern«, forderte sie Magnus auf. Sie nahmen über Eck Platz. Magnus auf dem Sofa, Victoria im Ohrensessel.

»Okay, willst du nicht doch erst Leitung zwei verarzten?« Es klang ihm irgendwie zu wichtig, als dass er es unkommentiert stehen lassen wollte. »Ich will nicht, dass du meinetwegen einen Kunden vergrätzt.«

Victoria lachte laut. »Du verstehst dich sicherlich super mit David ... Der zerbricht sich auch andauernd meinen Kopf. Keine Sorge, Frau Merkel kann warten.«

»Merkel. A.M. wie Angela Merkel!?« Magnus hielt die Luft an.

»Ja. Wie Dr. Angela Dorothea Merkel. Ruft immer dann an, wenn sie einen guten Rat braucht und ihre Wirtschaftsweisen sich uneins sind. Das hat Zeit. Glaub mir.«

Magnus schluckte schwer. »Bis gerade war ich einfach nur beeindruckt. Jetzt mache ich mir langsam wirklich in die Hose. Du lässt die Angela Merkel meinetwegen warten?«

»Ja. Aus gutem Grund.« Sie öffnete die Dose und trank einen Schluck. »Weißt du, ich habe gestern eine Weile mit meinem Vater gesprochen, ein paar Dinge reflektiert, insbesondere auch die Geschichte von Elisabeth und Moritz, die in diesen heiligen Hallen hier ihren Anfang genommen hat ... Und ich habe mich die halbe Nacht gefragt, wie ich dir die Firma und meinen Job irgendwie näher bringen kann, ohne dich zu überfahren. Und plötzlich sitzt du in meiner Lobby, duzt meinen Head of Legal Consulting and Compliance und bekommst das alles hier hautnah mit ...« Ihre Stimme schwankte zwischen Bestimmtheit und Schluchzen.

»Ich .... Ich wollte hier nicht eindringen. Der Termin vorhin hat früher stattgefunden und ging so rasant, dass ich hierhergelaufen bin. Ich habe dich nicht gegoogelt, nur nach der Adresse der Firma gesucht und ...« Die Sprachlosigkeit überfiel Magnus.

»Ich hab mir so was schon gedacht ... Weißt du, ich vertraue dir. Frag mich nicht warum, aber ich vertraue dir. Ich traue nur mir selbst nicht und der Situation. Das ist alles ...«

»Wie meinst du das?«

»Als ich dir gesagt habe, dass ich viel arbeite und besser verdiene als die Männer, die ich gedatet habe, habe ich das alles hier weitestgehend heruntergespielt. Ja. Aber das war ein Reflex. Eben aus der Erfahrung heraus, dass ich so oft die Falschen getroffen habe. Mir war zwar bewusst, dass du anders bist, aber ich wusste nicht, wie ich das alles erklären sollte.«

»Hm. Es war ja auch noch nicht so viel Zeit und Möglichkeit dazu ...« Magnus meinte das ernst. Sie schwiegen. Kein peinliches Schweigen. Jeder sortierte seine Gedanken, Emotionen.

»Hast du Hunger?«, fragte Victoria. »Mir knurrt der Magen. Es gibt heute Gefüllte Aubergine mit Reis oder Steak mit Ofengemüse und noch irgendwas Veganes ...«

»Du denkst jetzt nicht wirklich an Essen, oder?« Magnus seufzte lachend.

»Doch. Ständig«, gab Victoria kleinlaut zu.

»Steak. Wann immer es zur Auswahl steht.«

»Wieso überrascht mich das jetzt so rein gar nicht?«

Victoria ging erneut zur Tür und trug David die Essensbestellung auf. Als sie wieder an den Tisch kehrte, blieb sie zwischen Sofa und Sessel stehen.

Magnus sah sie an und streckte den Arm aus, blickte auf den freien Platz neben sich und deutete mit dem Kopf dorthin: »Magst du?«

»Ja ...«, antwortete sie leise und setze sich zu ihm, lehnte sich an und sie setzten ihr Schweigen fort. Minutenlang hielt Magnus sie einfach nur im Arm und hörte ihr zu, wie sie leise atmete, steckte seine Nase in ihr Haar, genoss diesen kleinen Moment der Glückseligkeit. Herzklopfen.

In die Stille drang plötzlich ein klingelndes Handy.

Magnus fluchte leise. Victoria grinste ihn an. »Kommen wir beide jemals zur Ruhe?«

»Ich hoffe es ...«, antwortete er und blickte auf das Display. Anna. »Hey Kleines, was gibt’s?«

Victoria konnte zwar Magnus hören, aber nicht, was die Frau am anderen Ende der Leitung sagte. Kleines!? Sie stutzte. Es wäre ziemlich dreist, vor ihr mit seiner Ex-Noch-Sonst-Was-Freundin oder wen auch immer er womöglich verbarg, zu telefonieren.

Reflexartig stand Victoria auf und wandte sich Richtung Schreibtisch, Magnus hielt sie an der Hand fest und sah sie durchdringend an. »Warte mal kurz, Anna.« Er schaltete auf stumm. »Hey ... Das ist meine kleine Schwester, Anna. Ich spreche kurz mit ihr und bin dann wieder ganz und gar für dich da, okay?«

Erleichtert nickte Victoria. Seine Schwester. Wie sollte es auch anders sein?

Sie setzte sich und lehnte sich wieder an.

»So, Schwesterherz, da bin ich wieder. Also, ja, ich bin gut in Eschberg angekommen. Momentan bin ich aber in Düsseldorf ... Mhm ... Hm. Da wollte ich eigentlich mit Victoria zum Mountainbiken gehen ... Ja, erzähle ich dir in Ruhe ... Okay. Gib Henry eine Umarmung von mir, ja? Fein ... Bis dahin ...«

Magnus schaltete das Handy in den Nachtmodus und lehnte seinen Kopf gegen Victorias, strich langsam über ihren Arm und atmete tief. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir von Anna zu erzählen. Früher waren wir unzertrennlich, bis ich nach Berlin gegangen bin und sie später nach Köln. Sie ist mittlerweile alleinerziehend und schlägt sich als Sportlehrerin mit einer Halbtagsstelle durch.« Magnus sah sie beschwichtigend an.

»Rechtfertigst du dich gerade?« Victoria schmunzelte.