Märchenhaft - Elisabeth

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Märchenhaft - Elisabeth
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Märchenhaft – Elisabeth

Band 1 der Eschberg-Reihe

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.


Texte: © Larissa Schwarz

Umschlaggestaltung: © Larissa Schwarz

Verlag:

Edition Eschberg – Larissa Schwarz

Heisterbusch 1

46539 Dinslaken

larissa@larissaschwarz.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin


Freitag, 08.06.

»Was machen Sie denn hier?«

»Ich sitze. Außerdem trinke ich Kaffee. Und ich lese Zeitung. Benötigen Sie noch mehr Informationen oder genügt das Ihrer Neugier?«

»Kratzbürstig wie eh und je ...«, antwortete er mit gespieltem Genuss. Ungefragt nahm er sich einen Stuhl und setzte sich zu ihr an den Tisch. Abwertend sah sie ihn an und entgegnete affektiert: »Für Sie immer. Es soll jedoch Menschen geben, die das anders sehen ...«

»Deswegen warten Sie wohl auch? Weil es Menschen gibt, die auf Kratzbürsten stehen?« Amüsiert neigte er den Kopf.

»Wer sagt, dass ich warte?«

»Elisabeth, es ist Freitag, 17.15 Uhr. Für eine Verabredung eigentlich etwas früh, aber hier auf dem Land werden ja bekanntlich um 19 Uhr die Bordsteine hochgeklappt. Also entweder sind Sie für 17.30 Uhr verabredet und früh dran oder Sie warten, weil 17 Uhr Sie versetzt hat.«

»Sie sind ein Fuchs, Moritz. Ich warte tatsächlich.« Sie holte tief Luft. »Auf Ihren Abgang!«

»Oh, dann viel Freude dabei. Ich werde mich so lange an den Tisch hier setzen und auch warten.« Er sah sie immer noch charmant und höflich an. Zwinkerte. Grinste breit.

Elisabeth blickte demonstrativ auf ihr Tablet und fragte sich, was dieser Kerl sich eigentlich einbildete.

Moritz war für sie kein Unbekannter. Und genau darin lag der Grund, warum er der letzte Mensch war, auf den sie heute hätte treffen wollen. Sie waren gewissermaßen Arbeitskollegen gewesen, kannten sich von unzähligen Meetings und abteilungsübergreifenden Projekten, aber das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte, war etwa ein halbes Jahr her. Die Saat für ihre gegenseitige Abneigung war jedoch viel eher gelegt worden, vor etwa zwei Jahren. Sie hatte ihm die Laune verhagelt, als sie seine Abteilung in der Jahrespräsentation als das schwarze Schaf der Consulting-Firma dargestellt hatte. Es war nicht ihre Idee gewesen, Moritz anzuprangern. Zwar hatte sie die Präsentation vorbereitet und moderiert, die Inhalte aber waren von der Geschäftsleitung gekommen. Moritz wusste das und sie wusste, dass er es wusste. Dennoch waren er und Elisabeth sich spinnefeind. In weiteren Meetings hatte er versucht, den Spieß umzudrehen und sie bloßzustellen, ihre Abteilung und ihre Arbeit schlechtzureden und ihren Chef auf sie anzusetzen. Dr. Bruckmann jedoch war loyal seiner Assistentin gegenüber, er wusste, was er an ihr hatte und ließ das keineswegs unerwähnt.

Auf dem Tablet hatte Elisabeth die Zeitung inzwischen zu Ende gelesen und starrte nun immer wieder auf den Nachrichteneingang. Sie hatte Sebastian vor ein paar Tagen auf der Party ihrer Freundin kennengelernt und ihn interessant gefunden. Er hatte diese warmen braunen Augen, ein mitreißendes Lächeln und war der Erste, der ihr nicht mit der Mitleidsnummer begegnet war. Elisabeth hasste es, sich zum Tod ihres Mannes äußern zu müssen; zwischen ihnen war es schon seit Monaten schwierig gewesen. Jan hatte dann den Auftrag in Indien angenommen, bei dem er auf einem Zubringerflug verunglückt war. Sie hatte die Nachricht mitten in der Nacht erhalten und war am nächsten Morgen zur Arbeit erschienen, als sei nichts passiert. Erst eine Woche später, als Jan eigentlich hätte zurückkommen sollen und ihr Chef ihr einen schönen Abend mit ihm gewünscht hatte, brach es aus ihr heraus. Im Nachhinein schämte sie sich für den Gefühlsausbruch, Dr. Bruckmann jedoch hielt das für ganz natürlich und hielt sie dazu an, sich ein paar Tage frei zu nehmen und abzuseilen.

Die von ihrem Chef verordnete Zwangsauszeit hatte sie dann damit verbracht, Unterlagen zu sichten, mit Jans Arbeitgeber und der Fluggesellschaft zu sprechen und die Bank zu informieren. Jan war Waise gewesen, er hatte einen Halbbruder, der jedoch bereits vor Jahren den Kontakt abgebrochen hatte. Sie hatten sich zu gegenseitigen Alleinerben in ihren Testamenten eingesetzt, nur für den Fall der Fälle. Dass dieser Fall tatsächlich eintreten würde, war damals für sie so weit weg, wie die Erde vom Mond. Es gab niemanden sonst zu informieren und da sie kinderlos geblieben waren, stand sie mit neunundzwanzig Jahren plötzlich vor den Trümmern ihres Lebens.

Was mache ich eigentlich hier?, fragte sich Elisabeth. Sie sah immer noch auf ihr Handy und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Es war 17.32 Uhr und sie saß in diesem Café in Eschberg, eine halbe Autostunde von zu Hause entfernt. Sebastian wohnte eigentlich östlich von ihr, sie hatten sich auf seinen Vorschlag in der ländlich gelegenen Stadt treffen wollen. Elisabeth war schon ein paar Mal in Eschberg gewesen, hatte mit ihren Freundinnen Wellness-Wochenenden dort verbracht, sich die Ausstellungen im Schlossmuseum angesehen oder das jährliche Classic-Car-Treffen in der Altstadt besucht. Nun hatte Sebastian diesen Ort für ein Date vorgeschlagen; er wollte ihr dort etwas zeigen. Sie überlegte, was es sein könnte. Das Schloss vielleicht. Oder die alte Mühle? Wohl kaum das Shoppingcenter oder den Wald?

Eschberg hatte knapp siebzigtausend Einwohner, ein Kino, mehrere Cafés; ein nettes verträumtes Städtchen mit perfekter Autobahnanbindung. Genau diese würde sie gleich auch wieder nutzen, um nach Hause zu fahren. Gedanklich hing sie sich aber weiter an Sebastian auf. Ihre Freundin Marie kannte ihn von der Arbeit und hatte sich für ihn verbürgt, er sei zwar etwas kauzig, aber nett und zuverlässig. Zuverlässig, dass ich nicht lache, ging es ihr durch den Kopf. Was hatte sie sich dabei gedacht, sich auf ein Date einzulassen? Es schien ihr nicht verwerflich; auch wenn ihre Liebe zu Jan schon länger tot war als er, hatte sie einen gewissen Anstand gewahrt, war eine Weile wenig ausgegangen und trug dunkle Farben. Jetzt jedoch begann der Sommer und sie spürte, wie ihr einiges an Ballast von den Schultern gefallen war. Der Abend mit Sebastian hatte ein Anfang sein sollen. Von was auch immer. Es hatte sie zwar ein wenig Überwindung gekostet, zuzustimmen sich heute mit ihm zu treffen, aber Elisabeth hatte das Gefühl gehabt, dass sie den Weg hierher nicht bereuen würde. Sebastian war so locker, sprach so unverblümt mit ihr und scherte sich wenig um Pietät. Das gefiel ihr. Rein optisch war er eine Sieben von Zehn. Ein bisschen zu unsportlich für ihren Geschmack, seine Haare bräuchten dringend einen neuen Look und er war eigentlich auch etwas zu klein. Elisabeth liebte High Heels und bereits in Maries Küche hatte sie die Schuhe ausgezogen, um ihm nicht das Gefühl zu geben, vor einer Riesin zu stehen. Eigentlich war er nur eine Sechs von Zehn. Wenn überhaupt. Was hab ich mir nur dabei gedacht?

»17.35 Uhr. Elisabeth, ich behaupte jetzt mal ganz unverfroren, dass Sie versetzt worden sind.« Der Schuss kam unerwartet von links.

Moritz.

Und der Pfeil saß tief. Elisabeth schlug genervt die Augen auf und drehte sich unwirsch zu ihm hin. Dabei fiel das Tablet vom Tisch und stürzte zu Boden.

»Moritz, Sie sind und bleiben ein Arsch. Warum fahren Sie nicht einfach zur Hölle?«, keifte sie ihn an.

Unerwarteterweise stand Moritz auf, sah sie betrübt an und reichte ihr das Tablet. Es hatte einen hässlichen Kratzer auf dem Display und eine große Delle am Gehäuse abbekommen, funktionierte aber noch.

»Eigentlich wollte ich gerade etwas Nettes sagen, aber wissen Sie, Elisabeth, ich sage lieber nichts mehr, fahre jetzt tatsächlich zur Hölle, gehe mit dem Teufel ein Bier trinken und habe einen wesentlich entspannteren Abend als Sie.«

Elisabeth biss grummelnd die Zähne zusammen und legte das Tablet wieder auf den Tisch. Was bildet der sich eigentlich ein? Und was macht er überhaupt hier? Moritz hatte vor ein paar Monaten die Firma verlassen und galt quasi als verschollen. Die Einen erzählten etwas von Sabbatical, die Anderen von schwerer Krankheit. Von Dr. Bruckmann hatte sie erfahren, dass er wohl wegen einer privaten Angelegenheit gekündigt hatte, aber keinen Kontakt mehr wünschte. Ihr sollte es nur recht sein, auch wenn sie ihn dafür bedauerte, dass er offenbar familiäre Probleme hatte.

»Moritz, warten Sie bitte einen Moment!« Hab ich das jetzt gesagt? Oh, sh... Elisabeth hatte ihre Stimme gehört, ihr fehlte jedoch der Gedanke dazu.

Moritz drehte sich um, er stand bereits an der Tür und sah sie verdutzt an. Auf ihr leichtes Nicken hin ging er die wenigen Schritte in ihre Richtung zurück.

»Ja, bitte? Wollen Sie mir noch eine Gemeinheit an den Kopf werfen oder soll ich dem Teufel nur liebe Grüße von seiner besten Schülerin ausrichten?«

»Moritz, ich weiß nicht, was Ihre Kündigung veranlasst hat und es steht mir nicht zu, Sie danach zu fragen. Auch wenn wir beide nie miteinander warm geworden sind, tut es mir leid, wenn es Ihnen familiär nicht gut ergangen ist. Ich weiß, dass Sie Ihren Job geliebt haben, es wird Ihnen nicht leicht gefallen sein ... Ich ... wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und ... Leben Sie wohl!«

 

Von ihrer eigenen Direktheit überrascht wich Elisabeth etwas zurück und griff ihre Tasche. Moritz stand wie angewurzelt da und sah sie an. Ihm war bereits beim Betreten des Cafés aufgefallen, dass sie lockerer und unbeschwerter wirkte als noch vor einem halben Jahr. Die langen braunen Haare schmeichelten ihr offen getragen wesentlich mehr als die strengen Hochsteckfrisuren im Job und der blaue Paisleymuster-Rock mit dem weißen Top hatte beinahe etwas Romantisches. Aber das war immer noch Elisabeth. Elisabeth Schmidt, die ihm in einem Satz mehr Tiefschläge verpassen konnte als niemand sonst. Elisabeth Schmidt, die immer brillierte, nie Fehler machte und nicht nur Liebling ihres Chefs war. Alle liebten sie.

Ein Grund mehr, sie nicht zu mögen.

Er gewann seine Fassung zurück, nickte ihr zum Abschied zu und ging nach draußen, wo er vor der Tür stehen blieb und kurz überlegte, was er als Nächstes tun würde. Den Abend hatte er frei, Zeit und Lust die Seele baumeln zu lassen und das Leben zu genießen. Elisabeth. Hm ...

Elisabeth hatte gezahlt und ging ebenfalls ins Freie. Sie wunderte sich, warum Moritz noch vor der Tür stand.

»Na, hat der Teufel keine Zeit für ein Bier?«

»Er hat gerade geschrieben, dass er sich etwas verspätet.« Der Spruch saß, dachte sich Moritz. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, hatte sich Elisabeths Verabredung noch nicht einmal gemeldet. Ihm war aufgefallen, dass sie die ganze Zeit den Nachrichteneingang überprüft hatte. Er war neugierig geworden. »Mal unter uns, es geht mich ja eigentlich nichts an, aber auf wen zur Hölle haben Sie da drin gewartet?«

»Mag sein, dass in Sebastian, auf den ich gewartet habe, etwas Diabolisches schlummert, aber ich werde es nie erfahren. Für Versetzen ohne gute Erklärung gibt es keine zweite Chance.«

»So, so. Sebastian«, murmelte er. »Sagen Sie mal, das hier ist doch meilenweit außerhalb Ihres Reviers, oder!?«

»Ja? Ich wusste bis gerade nicht, dass ich ein Revier habe. Offenbar wildere ich in Ihrem?« Ihr Augenaufschlag hatte etwas eindeutig Flirtives. Wieder fragte sie sich, was sie da tat und ertappte sich, dass sie ihn musterte. Nun ja, Moritz ist eigentlich nicht zu verachten. Groß, sportlich, dunkles Haar und diese sehnsuchtsvollen, grau-blauen Augen. Wären da nicht sein übertrieben loses Mundwerk und diese Egomanie. Aber irgendwie ist er auch witzig und ... Stop. Das ist Moritz! Moritz Machoman Fürst. Beherrsch dich, Frau Schmidt!

»Na ja, so weit ab vom Schuss ... Sie wollen doch nur sichergehen, dass Ihr Mann nichts von Ihren Heimlichkeiten mitbekommt!«, hielt er fest.

»Moritz, ich habe keine Heimlichkeiten. Mein Mann ist vor fünf Monaten verstorben und ich hätte heute das erste Date seitdem gehabt.« Sie Arsch,

wollte sie noch angefügt haben, aber das wäre unfair gewesen. Woher sollte er es auch wissen?

»Oh.« Er wandte sich ihr zu und sah sie ernst an. »Es tut mir leid, das zu hören. Verzeihen Sie mir meine Gemeinheit von gerade, bitte.«

»Schon in Ordnung. Sie hatten keinen Grund, mich anders zu behandeln als sonst auch. Und ich bin offen gestanden froh, wenn ich nicht ständig bemitleidet werde.«

Moritz schmunzelte, was Elisabeth wiederum verblüffte.

»Ich weiß genau, was Sie meinen.«

»Wissen Sie?« Elisabeth war skeptisch. Familienprobleme hin oder her, in diesem Punkt wusste sie von Moritz zu wenig, als dass sie seine Aussage hätte einordnen können. »Sie sprechen in Rätseln. Was genau meinen Sie?«

»Ich weiß, dass es unhöflich ist, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten, doch bevor ich Sie erhelle, wüsste ich gern noch etwas von Ihnen.«

»Bitte ... Fragen Sie.« Elisabeth war zu neugierig geworden, sie konnte Geheimnisse und Überraschungen auf den Tod nicht ausstehen und hätte ihm daher so ziemlich jede Frage beantwortet.

»Was hatten Sie und dieser geheimnisvolle treulose Sebastian hier vor?«

»Keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin. Nach der Party bei meiner Freundin, wo wir uns kennengelernt haben, haben wir ein paar Mal geschrieben und zweimal telefoniert. Er hat dann gefragt, ob wir uns hier treffen wollen, er würde mir gern etwas zeigen. Ich werde wohl nie erfahren, was es hier zu sehen gibt.«

»Hm. Abgesehen von Schloss Eschberg und dem Museum, der Altstadt, dem Kino oder dem Wald gibt es hier hauptsächlich Ruhe und Beschaulichkeit. Und eine Shoppinggalerie. Weltstadt Eschberg ...«

Elisabeth lachte. »Das Schloss kenne ich ganz gut. Ich war mehrmals hier zu Ausstellungen und ich habe mit meiner Freundin ein paar Wellness-Wochenenden im Schlosshotel verbracht. Dabei habe ich auch die Umgebung ein bisschen kennengelernt, also was das Sightseeing angeht, werde ich heute Abend wohl nichts verpassen. Und was Sebastian betrifft ...«, seufzte sie, »da wohl auch nicht.«

Moritz sah sie an und lachte. »Ich scheine vergessen zu haben, wie pragmatisch Sie sind ...«

Elisabeth runzelte die Stirn. »Weichen Sie der Antwort aus, die Sie mir schulden?«

»Nein, das war keineswegs meine Absicht. Ich weiß leider zu genau was Sie meinen, wenn Sie sagen, dass Sie das Mitleid satthaben. Ich habe vor etwas mehr einem halben Jahr meine Frau verloren, sie hatte einen inoperablen Gehirntumor; von der Diagnose bis zum Tod blieben ihr vier Wochen.«

»Oh ... Das wusste ich nicht. Es tut mir leid für Ihren Verlust.«

Betreten sah sie ihn an. Sie standen immer noch vor dem Café. Die Sonne streifte zwar schon den Horizont, aber spendete an diesem frühen Juniabend ein märchenhaftes Licht und einen ersten Anflug der Wärme des nahenden Sommers. Moritz reagierte nicht direkt auf ihren letzten Satz, er sah sie nachdenklich an, keinesfalls böse oder abwertend. Eher abwartend.

Elisabeth ergriff das Wort. »Bevor Sie fragen; ich werde das Gespräch hier für mich behalten. Auch wenn in der Firma die wildesten Gerüchte kursieren.«

»Danke dafür. Ich bin aber unterrichtet. Dr. Bruckmann ist quasi meine Verbindung zur Alten Welt. Ich habe ihn gebeten, nichts dazu zu sagen. Schon interessant, was die Leute so erzählen.«

»Dr. Bruckmann ist eingeweiht?«

»Ja. Er war der Einzige, dem ich mich anvertrauen konnte. Wir kennen uns besser, als es scheint, aber das ist nichts, was jetzt hierher gehört.«

»Verstehe. Moritz, ich will Sie nicht länger belästigen, ich werde jetzt nach Hause fahren und diesen Tag so schnell es geht vergessen.«

Elisabeth war ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass Moritz und ihr Chef unter einer Decke steckten. In der Firma waren sie wie Feuer und Wasser gewesen. Dr. Bruckmann hatte Elisabeth immer wieder darauf angesetzt, Moritz’ Arbeit streng zu kontrollieren und auch in der letzten gemeinsamen Jahrespräsentation hatte es wieder harsche Kritik gehagelt.

»Schade. Ich dachte, dass wir noch mal reingehen würden und unser Gespräch in Ruhe und etwas bequemer weiterführen könnten.«

Elisabeth sah Moritz verwirrt an, er war leicht errötet um die Wangen, blickte beinahe scheu zu ihr hinüber und trat von einem Bein auf das andere. »Bitte wie? Wer sind Sie und was haben Sie mit Moritz Fürst gemacht?«

»Elisabeth, ich weiß, dass das irgendwie seltsam ist, aber ich habe bisher mit niemandem über meinen Ausstieg gesprochen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern mein Schweigen brechen und den miesen Start, den wir heute … und … generell hatten, irgendwie noch ausbügeln.«

»Hm ...« Elisabeth grübelte. Sie sah Moritz von der Seite an. Ohne seine Maßanzüge, nur in Jeans und Shirt, wirkte er so normal und das Nachdenkliche in seiner Stimme ließ ihn beinahe verletzlich erscheinen. Hätte sie heute früh jemand nach einer treffenden Beschreibung für Moritz Fürst gefragt, hätten ihr zwei Worte gereicht: Patrick Bateman. »American Psycho«. In Bret Easton Ellis’ Roman und der gleichnamigen Verfilmung ein Psychopath mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, mutmaßlicher Killer. Niemand, mit dem man spaßte. Jetzt jedoch war sie gleichermaßen verunsichert wie neugierig. Die unbekannte Seite an Moritz hatte ihr Interesse geweckt.

»Wollen Sie oder nicht?«

»Sorry, ich hatte gerade eine etwas längere Leitung. Ja, gern sogar.«

Moritz blinzelte ihr zu und lächelte.

Oh, er kann ja lächeln ... und wie ... oh-oh ...

Er hielt ihr die Tür auf und berührte sie beim Hineingehen leicht an der Schulter. Diesmal steuerten sie auf einen Tisch am anderen Ende des Cafés zu, vor dem Kamin mit Blick Richtung Marktplatz. Elisabeth vermied es, ihm direkt in die Augen zu sehen, die Berührung an der Schulter war unerwartet gewesen. Zu lang, um zufällig geschehen zu sein, aber zu vorsichtig, um sie als übergriffig aufzufassen.

Im Stuhl zurückgelehnt sah Moritz Elisabeth an. Ihre braunen Augen strahlten eine Wärme aus, die er nie an ihr wahrgenommen hatte, sie wirkte dennoch ein wenig reserviert. Ob sie es ihm übelnahm, dass er sie gerade berührt hatte? Es gab für ihn eigentlich keine Veranlassung dazu, sie anzufassen. Außerdem hätte er sie gestern noch, wenn man ihn nach einem Vergleich zu ihr gefragt hätte, als Fräulein Rottenmeier bezeichnet. Das strenge Kindermädchen aus Heidi, welches größten Wert auf Etikette und Bildung legte. Moritz hatte instinktiv gehandelt; er konnte nicht erklären, warum er ihr nähergekommen war. Wenn es ihr unangenehm gewesen wäre, hätte sie mich zurechtgewiesen, oder? Er wurde noch nicht so recht schlau aus ihr.

Elisabeth nippte an ihrem Kaffee, Moritz hatte sich ein Ginger Ale geordert und beugte sich ein wenig zu ihr vor.

»Elisabeth ...«

»Hm?« Sie sah immer noch aus, als würde sich gleich die Chinesische Mauer um sie herum als Schutzwall auftun.

»Können wir uns vielleicht duzen? Ich meine, wir sind nicht mehr in der Firma, es ist Freitagabend und wir haben gerade angefangen, eine nette Ebene zur Kommunikation zu finden ...«

»So ... Haben wir das?« Natürlich fand Elisabeth es albern, sich zu siezen, Moritz war nur knapp vier Jahre älter als sie und schon in der Firma hätte nichts dagegen gesprochen. Nur wollte sie ihn noch ein wenig aus der Reserve locken. »Für wie lange denn?«

»Was für eine Frage ...« Moritz lachte. »Elisabeth, du bist niedlich. Eigentlich dachte ich, dass das dann für immer gilt. Wir können aber auch gern erst mal nur für heute Abend vereinbaren.« Er wunderte sich tatsächlich ob der Frage nach dem »wie lange«, konnte sich aber ausmalen, dass Elisabeth einmal mehr von ihrer misstrauischen Ader gepackt worden war und sie deshalb dem freundschaftlichen Ton zynisch begegnete.

»Niedlich? Du irrst dich, Moritz. Ich bin alles andere als niedlich. Aber lassen wir das. Ich frage mich die ganze Zeit schon, was dich heute hierhergeführt hat.« Nachdrückliches Lächeln. Auffordernde Handbewegung. Zwinkern.

Moritz schmunzelte. »Das ist ganz einfach. Ich habe der Dame an der Bar gesagt, sie möchte mich bitte immer dann informieren, wenn eine nette junge Frau das Lokal betritt, die offensichtlich nicht vergeben ist und mein Interesse wecken könnte.«

»Schon klar«, lachte sie. »Und jetzt bitte die Wahrheit.« Trotz eines Kopfschüttelns über seine misslungene Lüge blieb bei ihr ein gewisses warmes Gefühl zurück. Wollte er ernsthaft damit sagen, dass sie, losgelöst von allen bisherigen Erfahrungen miteinander, für ihn eine nette junge Frau war, die sein Interesse wecken könnte? Nein. Oder doch?

Das Bild von Moritz veränderte sich vor ihrem inneren Auge beständig und immer wieder drängelte sich seine warme, sanfte Berührung ihrer Schulter dazwischen. In diesem Moment fiel ihr zum ersten Mal auf, dass Moritz’ begehrenswerter Mund an diesem Abend bereits häufiger gelacht hatte, als in allen anderen Situationen zuvor zusammengenommen. Begehrenswert!? Seit wann ... heieiei ... ja, begehrenswert!

»Was soll ich sagen ... Ich wohne nur unweit von hier, hatte Langeweile und heute Abend frei. Ich wollte in Ruhe die Zeitung lesen und entspannt überlegen, was ich noch machen könnte. Aber dann kam mir quasi der Teufel in Prada dazwischen.«

»Erstens trage ich kein Prada; nicht an einem Freitag zu einem ersten Date. Zweitens kam ich dir nicht dazwischen, sondern höchstens in den Weg. Dazwischen hieße ja, dass du deinen ursprünglichen Plan wieder aufgenommen hast.«

»Hm. Bisher habe ich deine Klugscheißerei immer gehasst. Jetzt finde ich das irgendwie – ja, ich bleibe bei niedlich.« Er wusste, dass die Bezeichnung »niedlich« sie provozieren würde.

 

»Gut. Dann findest du mich halt niedlich. Du wirst schon sehen, was du davon hast.« Sie begann, den Spieß umzudrehen. Necken konnte sie auch. Mal sehen, wie weit Moritz mitging.

»Fein. Dann lass dir gesagt sein, dass du mit zweitens falsch lagst. Ich überlege tatsächlich wieder, wie dieser Abend weitergehen könnte.«

»Hmmm. Okay. Punkt für dich. Aber eigentlich hast du mir vor der Tür gerade suggeriert, dass du reden wolltest. Das klang nach einem fertigen Plan.«

»Markus kann froh sein, dass er dich hat. So muss er nicht alle Haare auf meinem Kopf alleine spalten.«

»Markus? Du meinst Dr. Bruckmann?« Elisabeth wurde hellhörig. Moritz hatte ja angedeutet, dass er und ihr Chef sich besser kannten – es wurde interessant.

»Ja. Komisch, dass ihr euch immer noch siezt. Ich wette, Markus mag dich, bewundert dich ...«

»Bitte? Wie meinst du das? Wenn dem so wäre, würde er mich ja wohl eher duzen als nicht. Oder?«

»Hmmm. Markus ist da etwas komplizierter gestrickt. Wenn ihn eine Frau wirklich fasziniert, hält er sie auf Distanz, bis er sich sicher ist, wie er damit umgehen soll.«

»Weiß er, dass du so von ihm redest?« Elisabeth fragte sich die ganze Zeit, ob und wie sie die Vertrautheit zwischen den beiden Männern übersehen haben konnte, wenn es sie denn gab. Eigentlich galt sie als sehr empathisch, ein derartiges Kulissenspiel hätte ihr auffallen müssen.

»Markus und ich haben zusammen studiert, wir waren eine Zeit lang die besten Freunde. Bis er auf die wahnwitzige Idee kam, ich wollte ihm seine damalige Freundin ausspannen. Völliger Blödsinn, ich fand sie furchtbar. Eigentlich war mein Plan, die beiden auseinanderzubringen. Als ich dann nach ihm in die Firma eintrat, hat er sich entschuldigt, er hätte überreagiert. Dass wir nach außen hin so abweisend zueinander waren, hing ursprünglich nur mit Potthoff von der Personalabteilung zusammen, der das gern so dargestellt hat, damit es nicht so aussah, als hätte Markus einen alten Freund in der Firma untergebracht.«

»Hattest du das nötig?« Elisabeth konnte kaum glauben, was sie da hörte. Mit professionellem Auge betrachtet, war Moritz brillant. Analytisch und umsichtig, ein Rationalist mit Weitsicht. Dass es in seiner Abteilung schlecht gelaufen war, lag weniger an ihm, als an den firmeninternen Umständen. Seit seinem Weggang waren die Zustände im Team fatal geworden. So gesehen hatte er eine Meisterleistung vollbracht, auch wenn die Ergebnisse nach außen hin anderes vermuten ließen.

»Nein. Nötig war das nicht. Ich habe mir zwar in der Uni nicht so viel Mühe gegeben wie Markus, aber den Job habe ich ohne sein Zutun erhalten. Wir haben uns erst nach dem Einstellungsgespräch mehr oder weniger zufällig auf dem Flur gesehen.«

»Sehr seltsam ...«, murmelte sie. Ihre Gedanken schwirrten zunehmend.

»Er hat mir aber wirklich nichts vom Tod deines Mannes erzählt. Ich hätte sonst sicherlich sensibler reagiert vorhin«, warf Moritz ein.

»Schon okay. Ich bin nur gerade etwas überwältigt und kann noch nicht einordnen, wie ich mich ihm gegenüber nächste Woche verhalten soll.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kläre das. Versprochen.« Er sah sie aufmunternd an. Elisabeth zweifelte. Wenn das wieder eine von Moritz’ Intrigen war, dann hatte er es diesmal geschafft, sie richtig um den Finger zu wickeln und sie perfekt darin zu verstricken. Jetzt hör schon auf, mich so anzusehen!

Als ahnte er, was in ihrem Kopf vorging, sagte er dann: »Ich bin nicht mehr der alte Moritz, mach dir bitte wirklich keinen Kopf. Ich werde Markus erzählen, dass wir uns unterhalten haben und du brauchst nichts zu befürchten. Keine Spielchen.«

»Ich weiß nicht warum, aber ich vertraue dir da einfach mal«, antworte sie vorsichtig. Es waren weniger seine Worte als wieder sein Blick, der sie beruhigte.

»Weißt du, eigentlich habe ich gerade so überhaupt keine Lust mehr, Trübsal zu blasen ... Lass uns irgendwas unternehmen!« Moritz’ plötzlicher Tatendrang war unübersehbar, er zappelte in seinem Sessel und die Aufbruchstimmung spiegelte sich in seiner Mimik.

»Du bist ja Zucker ... Was schwebt dir denn so vor? Und vor allem: Wer sagt, dass ich mitmache?«

»Hmmm. Gute Frage. Ich wüsste leider nicht, dass heute eine Party für Witwen und Witwer unter fünfunddreißig stattfindet, im Kino war ich gestern mit Markus und gegessen habe ich schon. Wie steht es mit dir?«

»Schade, auf die Party hätte ich dich gern begleitet, Kino war ich auch erst letzte Woche und gegessen habe ich vorhin auf der Arbeit. Das Firmenrestaurant ist immer noch hervorragend.«

»Da war was ... Vor allem die lustigen Experimente mit dem Speiseplan.«

»Erinnerst du dich noch an die Star-Wars-Woche?«

»O ja ... Das war eine der seltsameren Aktionen. Echt lecker fand ich damals die britische Küche. Hätte ich nie gedacht«, nickte er. »Es war eigentlich keine schlechte Zeit bei ECG ... Ein bisschen vermisse ich es schon ...«

Und ich vermisse die Auseinandersetzungen mit dir, schoss es Elisabeth durch den Kopf. War es wirklich so? Bisher war sie davon ausgegangen, dass sie Moritz einfach nur hasste, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Irgendwie schwand aber ihre Sicherheit diesbezüglich sekündlich.

»Und nun. Was denkt dein kluger Kopf gerade?« Ihr war beinahe egal, was Moritz vorschlagen würde, allein um ein besseres Gefühl für ihre Emotionen ihm gegenüber zu bekommen, wollte sie den Abend mit ihm verbringen.

»Kannst du Skifahren?«, fragte Moritz sie ganz unvermittelt.

»Skifahren? Ja. Nur nicht besonders gut. Ich fahre eigentlich Snowboard. Wesentlich besser und lieber.«

»Snowboard? Hätte ich dir nicht zugetraut. Geht das auf High Heels?«

Elisabeth lachte. Es gefiel ihr, zu hören, dass Moritz sich in ihr verschätzt hatte. Und dass er offenbar um ihre Vorliebe für High Heels wusste; er musste es sich von damals gemerkt haben, denn heute trug sie, ursprünglich Sebastian zuliebe, Ballerinas. Sebastian. Tja, Pech gehabt. »Ja, Snowboard. Seit 14 Jahren, um genau zu sein. Und nein, das geht nicht besonders gut auf High Heels. Ich habe es zum Spaß mal versucht. Mit ganz viel Panzerband, in Etuikleid und mit Handtasche, aber der Halt war nicht der Beste. Ich bleibe klassisch bei Boots und Bindung.«

Moritz sah sie an, lachte laut und nahm ihre Hand. »Wenn du davon mal irgendwann ein Bild für mich hast, würde ich mich sehr darüber freuen.« Er küsste ihre Hand und sah ihr tief in die Augen. Sein Herz schlug schneller und er biss sich auf die Unterlippe. Vorsichtig legte er ihre Hand wieder ab.

Elisabeth wäre am liebsten in Ohnmacht gefallen. Was war das denn jetzt? Moritz hatte ihre Hand geküsst, sanft wie eine Feder, für einen bittersüßen Moment. Noch vor einer halben Stunde hätte sie an einen Scherz geglaubt, aber jetzt spürte sie ein seltsames Gefühl der Vertrautheit.

Leise erklärte sie, was es mit der Geschichte auf sich hatte. »Es gibt tatsächlich Bilder davon. Eigentlich könntest du sie sogar kennen. Sie sind vor zwei Jahren auf der Weihnachtsfeier entstanden, es war Dr. Bruckmanns Idee!«

»Hm. Vor zwei Jahren war ich im Urlaub, als die Feier war, deswegen hab ich mir die Bilder nie angesehen. Aber umso besser, dann kannst du mir ja Montag direkt den Beweis liefern.«

»Glaubst du mir etwa nicht?«

»Doch, aber ich ...«

»Sprich ruhig weiter ...«

»Vergiss das mit dem Foto.« Er griff ihre Hand und hielt sie fest. Moritz war froh, dass Elisabeth sie nicht wegzog, im Gegenteil, sie hielt ihn fest und sah ihn mit diesem ihm unbekannten Blick an. Nett. Süß. Bezaubernd.

»Hast du Lust, heute noch Snowboard zu fahren?«, flüsterte er.

»Heute? Du meinst in der Halle?«, entgegnete sie leise.

Moritz nickte wortlos. Sag jetzt bitte nicht nein, bitte, bitte, bitte, bi-

»Hm. Da ist es freitags immer so voll ...«

»Bis wir da sind, ist ungefähr sieben Uhr, da ist es nicht mehr ganz so schlimm. Du musst ja nicht, wenn du nicht magst.« Das mit dem Nachsatz war jetzt dumm ...

Sie zwinkerte ihm zu. »Ich mag immer. Sonst hätte ich wohl kaum eine Dauerkarte.«