Zauberhaft - Victoria

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Zauberhaft - Victoria
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Zauberhaft – Victoria

Band 2 der Eschberg-Reihe

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Texte: © Larissa Schwarz

Umschlaggestaltung: © Larissa Schwarz

Verlag:

Edition Eschberg – Larissa Schwarz

Heisterbusch 1

46539 Dinslaken

larissa@larissaschwarz.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin


Montag, 15.07.

»Einen Kaffee!«, zischte der Gast.

Irritiert sah Victoria sich kurz um. Vom Café-Personal war niemand zu sehen, Joachim Zeilinger hatte das Team kurz zu einer Besprechung in sein Büro gerufen und offenbar war die Notbesetzung gerade nicht in Reichweite. Zeilinger selbst lehnte zwar in der Tür, unterhielt sich jedoch intensiv mit seiner Buchhalterin.

»Sie sprechen aber schon Deutsch, oder?« Der Ton wurde rauer.

Als hätte er sie aus einem Tagtraum geweckt, zuckte sie zusammen und warf die Stirn in Falten, schmunzelte aber sofort, als sie den dunkelblonden Herrn näher betrachtete. Sicher keiner von hier, dachte sie. »Verzeihen Sie, bitte. Natürlich, ein Kaffee. Kommt sofort«, flötete sie und lächelte den Gast an Tisch vier freundlich an. Da immer noch keiner der Angestellten zu sehen war, ging sie tatsächlich hinter den Tresen und betätigte den Kaffeeautomaten.

Magnus Brandt war genervt. Von Eschberg. Von dem Café, in dem er saß. Von seinem neuen Job und am allermeisten von den Menschen um ihn herum. Was, um alles in der Welt, hatte ihn veranlasst, diese Stelle in der Provinz anzunehmen? Er wollte Richter am Bundesgerichtshof werden und nicht Direktor des Amtsgerichts in diesem 70.000-Einwohner-Nest. Zwar stammte er aus der Gegend, aber für jemanden, der sich in Berlin einen Namen gemacht hatte, war Eschberg ein Kuhdorf. Und die blödeste Kuh war die Politesse, die vor zwei Stunden sein Auto von seinem persönlichen Parkplatz hatte abschleppen lassen, nur weil noch das Kennzeichen seines Vorgängers dort hing. An zweiter Stelle rangierte seine Vorzimmerdame Irene Scharnweber, die ihn aus dem Büro ausgesperrt hatte und nun daran schuld war, dass er in diesem fürchterlichen Café saß. Dicht gefolgt von dieser seltsamen Kellnerin, die den Eindruck machte, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders, nur nicht bei ihren Gästen. Magnus Brandt wollte zurück.

Nur: Hatte er nicht noch vor zwei Tagen in Berlin das Gleiche über »zu Hause« gesagt?

Victoria malte mithilfe des Barista-Werkzeugs einen Smiley in die Crema des Kaffees und servierte ihn dem, wie sie schätzte, in etwa gleichaltrigen Gast, der immer noch eine gewisse Unruhe ausstrahlte, was sie wiederum neugierig machte.

Sie zwinkerte ihm zu. »Bitte sehr.«

Im selben Moment kam der Geschäftsführer aus der Deckung, Joachim Zeilinger, Eschberger Urgestein, Inhaber des Café Daily.

»Victoria, ich dachte, du wärst schon weg!?«, rief er ihr zu.

»Ja, eigentlich war ich auch schon fast raus.« Sie ließ eine kurze Pause. »Der Kaffee hier geht auf mich, Jo!« Sie deutete auf Tisch vier, winkte und zwinkerte beim Hinausgehen noch einmal Magnus Brandt zu, der ihr mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund hinterherstarrte.

»Schon in Ordnung, ich zieh es von deiner Rechnung ab ...«, lachte Zeilinger. Er wandte sich Magnus zu. »Es tut mir leid, dass Sie offenbar warten mussten, der Kaffee geht selbstverständlich aufs Haus.«

Er streckte Magnus die Hand entgegen: »Joachim Zeilinger.«

»Magnus Brandt«, schlug er ein und schüttelte sie.

»Ach, der neue Direktor des Amtsgerichts?«, wunderte sich Zeilinger laut, wohl auch ob des etwas kräftigeren Händedrucks.

»Ja, in voller Lebensgröße ...«

»Ich habe in der Zeitung von Ihnen gelesen. Was verschlägt Sie so früh in meine gute Stube, Herr Dr. Brandt?«

»Lange Geschichte, ich wurde quasi aus meinem Büro ausgesperrt und muss warten, bis meine Vorzimmerdame zurück ist, damit irgendjemand bestätigen kann, dass ich ich bin und wieder ins Gerichtsgebäude darf. Mein Ausweis liegt in meinem Büro und an der Pforte hielt der Wachtmeister das für einen schlechten Scherz, als ich ihm die Situation erklärte.«

»O je. Da haben Sie ja einen prima Einstand in Eschberg erlebt ...«

»Das können Sie laut sagen ...« Magnus seufzte. »Zudem ist mein Auto vorhin abgeschleppt worden und ich hatte bis gerade fürchterlichen Koffeinentzug ...«

»Na, wenigstens eine schöne Seite von Eschberg haben Sie ja eben kennengelernt ...«

»Hm?« Magnus hob fragend die Augenbraue. »Ach, Sie meinen – wie heißt die Dame? Victoria?«

»Ganz recht ...« Zeilinger grinste und tappte ihm auf die Schulter. »Dann mal herzlich willkommen in der Provinz. Und wenn Sie hier richtig angekommen sind, melden Sie sich ruhig mal bei mir.«

Magnus nickte ihm zu. »Ja, gern.« Auch wenn er eigentlich nicht genau wusste, warum und was Zeilinger damit bezwecken wollte.

Beziehungen schaden nur dem, der keine hat, dachte er und trank den Rest seines Kaffees aus. Victoria, geisterte es ihm durch den Kopf. Hm. Eigentlich hätte er ja sehen müssen, dass sie nicht zum Personal gehörte; das Business-Kostüm war zwar schwarz, wie die Kleidung der Angestellten, aber sie trug eine weiße Bluse statt des »Daily«-Shirts und eine Aktentasche. Er seufzte erneut und rieb sich das Kinn. Das konnte ja heiter werden. Noch keine 24 Stunden vor Ort und schon unbeliebt gemacht. Offenbar kannte dieser Zeilinger Victoria aber etwas besser, sie gingen vertraut miteinander um, vielleicht könnte er – Magnus drehte sich zum Tresen um.

»Herr Zeilinger!?«, rief er.

»Ja, was gibt es?«, näherte er sich grinsend noch mals dem Tisch.

»Könnten Sie Victoria ausrichten, dass es mir leidtut, dass ich sie so angeblafft habe? War bisher nicht mein Tag und ich hätte eigentlich sehen müssen, dass sie hier nicht arbeitet ...«

»Kein Ding, so wie sie Sie angelächelt hat, hat sie Ihnen das sicherlich längst verziehen, aber ich richte es ihr gern aus.«

»Danke.« Magnus drehte sich wieder zum Fenster und beobachtete das Treiben auf dem Marktplatz. Es war Hochsommer und die Sonne schien trotz der Frühe des Tages bereits unerbittlich auf die große Glasfront. Er hatte in der Nacht zuvor die letzten Kartons in seine Wohnung getragen, die Reste der Tiefkühlpizza verdrückt, die noch im Ofen gelegen hatte, und war gegen vier Uhr morgens in einen unruhigen Schlaf gefallen. Um sechs hatte der Wecker geläutet. Das gleißende Licht brannte in seinen Augen und er fühlte sich verkaterter als nach einer durchzechten Nacht.

Victoria. Die Siegerin. Vor seinem inneren Auge lief sie erneut vorbei und lächelte ihn an, zwinkerte ihm zu. Klar, so eine wie sie stand auf der Sonnenseite des Lebens, hübsch, jung, dem Auftreten nach zu urteilen offenbar nicht auf den Kopf gefallen und irgendwie war sie ihm sympathisch. Magnus strich sie wieder von der Liste der Menschen, über die er sich ärgerte. Immerhin hatte sie ihm einen Kaffee beschert und die noch zu hinterfragende Bekanntschaft mit Joachim Zeilinger.

Eigentlich war es recht schön in Eschberg. Als er noch klein war, waren seine Eltern häufiger mit ihm und seiner Schwester hergekommen, hatten das Schloss und das Museum besucht oder waren in den Wald gegangen, um Maronen und Bucheckern zu sammeln. Aulbach, der kleine Ort, circa 15 Kilometer entfernt, in dem er aufgewachsen war, war nicht mal halb so groß und lag verkehrstechnisch etwas ungünstiger, um genau zu sein: auf dem platten Land. Deswegen hatte es ihn nach dem Abitur auch »nach draußen« gezogen. Berlin schien ihm seinerzeit für den Anfang gerade groß genug und irgendwie hatte er sich bis vor ein paar Monaten auch nicht davon lösen können. Er liebte dieses Flair und die Enge, den Puls der Großstadt mit ihren unendlichen Möglichkeiten. Wie sich eben ein Neunzehnjähriger aus der Provinz die Stadt so vorstellte. Im Nachhinein erkannte er natürlich seine Naivität, damals jedoch war er voller Energie und Tatendrang. Nichts konnte ihn aufhalten; mit seinem Einser-Abitur hatte er sich die Universität quasi aussuchen können, eine kleine Wohnung im Studentenwohnheim war schnell gefunden und da er bereits in Bärenthal bei McDonald’s gearbeitet hatte, musste er sich um einen Nebenjob keine großen Sorgen machen. Irgendwie war er immer über die Runden gekommen, dank BAföG und der Unterstützung seiner Eltern, die stets bestrebt gewesen waren, ihren beiden Kindern alles zu ermöglichen. Seine Schwester Anna hatte in Köln Sport und Englisch auf Lehramt studiert, eine Weile gab es wenig Kontakt zwischen den Geschwistern. Als aber Anna vor gut vier Jahren schwanger war, näherten sie sich schnell an, wurden wieder ein Herz und eine Seele.

Magnus zog dennoch nichts zurück nach Aulbach; in Berlin hatte er seine Freunde, seine Beziehungen und kannte sich aus. Dem Nachtleben war er anfangs zwar nicht abgetan, doch nachdem er das erste Staatsexamen absolviert hatte, sah er sein Ziel klar vor Augen: schnellstmöglich und gradlinig zur Promotion, die notwendigen Etappen meistern, um dann Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe zu werden. Dazu würde er Berlin irgendwann verlassen müssen, das war ihm damals schon klar gewesen. Aber mit Ilona hatte er die richtige Frau an seiner Seite. Bankerin, bei einer weitverzweigten und flächendeckend verbreiteten Großbank, flexibel überall in Deutschland einsetzbar, gut vernetzt.

 

An Silvester hatten sie sich kennengelernt, vor fünf Jahren, am Brandenburger Tor. Dort, wo jedes Jahr die größte Party Deutschlands stattfand. Sie hatte so kläglich gefroren, er sie gewärmt. Seit jener Nacht waren sie unzertrennlich.

Dachte er. Das böse Erwachen ereilte ihn vor etwas mehr als einem Jahr, als er Ilona in der Mittagspause in der Bank überraschen wollte. Er sah sie turtelnd und küssend mit einem Kollegen vor der Filiale stehen. Völlig unverblümt und unbekümmert. Im Augenwinkel musste sie ihn erspäht haben, sie ließ von ihrem Gegenüber ab, ging auf ihn zu und meinte trocken: »Tja, dann weißt du es jetzt wohl auch.« Magnus wähnte sich im falschen Film, wartete einen Moment, ob jemand die Situation aufklären würde, und sah dann nur noch Ilona und den ihm unbekannten Mann, Hand in Hand in die Filiale gehen.

Ilona und Magnus. »Ein Traumpaar«, sagte der Freundeskreis. Doch kurz nach der Hochzeit vor zwei Jahren kriselte es schon. Magnus hatte tagsüber eine Stelle am Amtsgericht Tiergarten inne, seine Dissertation schrieb er nebenbei nachts, an den Wochenenden besuchte er Fortbildungen und Seminare. Ilona arbeitete Vollzeit in der Wertpapierberatung, ging häufig zu Kundenveranstaltungen, vertrieb sich die Abende mit Freundinnen. Es war wenig Zeit für sie beide geblieben. Kein Wunder, dass sie sich getröstet hatte. Aber, dass es ausgerechnet an dem Tag herauskommen musste, an dem er seine Doktorwürde verliehen bekam!?

Eigentlich hatten sie am Nachmittag gemeinsam zur Universität gewollt, das letzte Kapitel Studium abschließen. Magnus war dann allein gefahren, hatte sich im Anschluss auf einer Parkbank gegenüber dem Brandenburger Tor niedergelassen, die Flasche Champagner allein geleert und sich von seinem Freund Tobias nach Hause bringen lassen. Besser gesagt: Dorthin, wo er sein Zuhause vermutete. Die Wohnung in der Kurfürstenstraße, nur einen Katzensprung von seiner Arbeit entfernt, hatten er und Ilona erst kurz vorher gekauft. Als er dort ankam, stand seine Reisetasche schon vor der Tür.

Tobias hatte ihn für ein paar Tage zu sich geholt, bis Magnus dann in ein möbliertes Apartment gezogen war. Das Kapitel Berlin schloss sich plötzlich auf dieselbe Weise, wie es begonnen hatte: ein bisschen naiv, da er die Affäre schon längst hätte bemerken müssen und mit einem Koffer voller Kleidung, Träume und Pläne. Es musste schließlich irgendwie weitergehen und Karlsruhe war und blieb das erklärte Ziel.

Die ersten Wochen nach dem Rauswurf hatte er weiter wie bisher gearbeitet, um nicht negativ aufzufallen. Seine Eltern hatten ihn kurz besucht, eigentlich um ihm zu gratulieren, waren schockiert über die Trennung, aber hielten sich im Großen und Ganzen heraus. Tobias, sein ehemaliger Kommilitone, bester Freund und liebster Anwalt hatte ihn in Sachen Trennung beraten und mit einem Mal verspürte Magnus das Gefühl, dass er Berlin verlassen könnte.

Heimwärts wäre schön, dachte er damals. Dort, wo alles klein, weitläufig, langsam und beschaulich war.

Im Intranet suchte er wochenlang nach Stellenanzeigen, bis ihm zum wiederholten Mal der Direktorenposten in Eschberg ins Auge sprang.

Eigentlich war er noch etwas zu unerfahren für den Job, aber die Stelle war schon länger unbesetzt, also wagte Magnus erst einen Anruf, dann das Bewerbungsschreiben.

Wodurch er letztlich überzeugt hatte, konnte er nicht mit Sicherheit ausmachen, aber mit einem Mal ging es Schlag auf Schlag: Zusage, Wohnungssuche, Versetzung, Kisten packen, Auto beladen und losfahren. Innerhalb von drei Wochen hatte sich die fixe Idee zur Realität gewandelt.

Ilona hatte kein Wort mit ihm gesprochen, seit sie ihm den Koffer vor die Tür gestellt hatte, es lief alles über ihre Anwälte.

Magnus waren diese Paare, von denen er zu Beginn seiner Karriere schon einige geschieden hatte, immer suspekt gewesen. Erst war es die große Liebe, jenseits aller Vorstellungskraft und erhaben über jeden Zweifel. Dann erstarrten alle Moleküle unter der Kälte, die diese Menschen ausstrahlten und nur noch der Richterspruch vermochte ihnen wieder Leben einzuhauchen.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Auch er würde bald vor dem Richtertisch stehen, die Scheidung war längst eingereicht, beim Trennungsjahr hatte Tobias großzügig zurückdatiert und auch Ilonas Anwalt hatte keine Einwände erhoben. Ein seltsames Gefühl, aber er spürte bereits den Anflug der Freiheit, die darauf folgen würde und atmete tief durch.

Victoria Berg hörte kaum noch, wie sich die Tür des Café Daily hinter ihr schloss, als ihr Handy läutete. Sie klemmte die Aktentasche unter den Arm, hantierte umständlich mit dem Autoschlüssel, und schob das Handy zwischen Ohr und Schulter. »Ja, bitte!?«

Ihr Assistent David Meißner war ganz aufgeregt: »Victoria, ist alles gut? Ich hab schon dreimal versucht, dich zu erreichen ...«

»Ja, alles fein. Und Herzchen: Einmal anrufen reicht. Ich sehe es doch auf dem Display. Wir sind nicht mehr in 1980, die Telefone sind nicht mehr grün und haben keine Wählscheibe mehr. Normalerweise. Was gibt es denn so dringendes?«

»Wir müssen deine gesamte Wochenplanung für die 30. und 31. Kalenderwoche umstellen, dein Trip nach Dubai wirft alles durcheinander.«

»Ja, dann stell die Termine halt um und mail es mir oder trag es ein. Und bei den Klienten, bei denen ich mich selber melden muss, schickst du mir bitte ein Memo. Was ist so schlimm daran?«

»Du weißt doch, wie sehr mich so was aus der Ruhe bringt ...«

»David, ich schätze deine Arbeit sehr, aber zerbrich dir bitte nicht meinen Kopf. Ja? Du weißt doch, dass Hakim einer unserer VIP-Kunden ist.« Sie lachte innerlich. Dubai verband für sie das Angenehme mit dem Nützlichen und David wusste das. Dass er aber immer noch so schnell unruhig wurde, wenn Victoria kurzfristig ihre Prioritäten änderte, missfiel ihr langsam. Eigentlich sollte David sie entlasten und für Ruhe und Ordnung sorgen. Wenn sie gleich in die Firma käme, würde sie ihn darauf ansprechen. Aber bis es so weit sein sollte, stand sie wieder im Stau. Wie nahezu jeden Tag. Eine gute Stunde hin, an schlechten Tagen anderthalb Stunden zurück. Die Bahn war keine Alternative, zu unflexibel. Victoria sah auf das Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung. 120 km/h. Können, vor Lachen, grummelte sie und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Wozu habe ich ein Auto mit 662 PS, wenn ich eigentlich mehr stehe als fahre? Und was, um alles in der Welt, hat den alten Herrn damals dazu bewogen, die Firma nach Düsseldorf zu verlegen? Victoria kannte die Antwort. Es machte sich gut auf der Visitenkarte, man war schnell am Flughafen, schnell bei den Klienten und nah bei der Konkurrenz. Wobei sie das Wort »Konkurrenz« nicht mochte. »Mitbewerber« gefiel ihr besser. Sie wusste, dass an die Effizienz und Effektivität von ECG so schnell niemand heranreichte und es war nicht zuletzt ihr Verdienst in den letzten zwei Jahren, dass der Abstand zu den anderen Firmen eher noch wuchs.

Wilhelm Engwald hatte die Engwald Consulting Group vor mehr als 30 Jahren gegründet, aus dem Drei-Mann-Unternehmen war über die Jahre ein verzweigtes Netzwerk an Firmen geworden, 600 Mitarbeiter insgesamt und inzwischen eine Aktiengesellschaft in Privatbesitz, 49 % er, 51 % seine Tochter. Nach einem gelungenen Coup mit einer weitreichenden Firmenfusion vor 25 Jahren, hatte sich Wilhelm Engwald auf das größere Parkett gewagt, zunächst kreditfinanziert die Firma vergrößert, immer wieder reinvestiert und nach weiteren fünf Jahren die 10-Millionenmarke beim Umsatz geknackt.

Victoria schmunzelte. Die Firmengeschichte konnte fast jeder Angestellte herunterbeten, aber nicht als Schikane, sondern aus purem Selbstverständnis. ECG hatte Googliness, lang bevor es Google gab.

In ein paar hundert Metern Entfernung konnte Victoria die ehemalige Fabrikhalle schon erkennen. Vor dem strahlend blauen Himmel leuchtete das alte Backsteingebäude in der inzwischen hoch stehenden Sonne. Die Restaurierung und Modernisierung hatte Unsummen verschlungen, dafür war der Standort aber ideal.

Am Rande der Innenstadt, beste infrastrukturelle Anbindung, schnellste Internetverbindung, ausreichend Parkplätze, der Medienhafen und eine Grünanlage zur Erholung in der Mittagspause. Nicht zu vergessen das damit einhergehende Prestige. Victoria selbst machte sich wenig daraus, aber für gewisse Kundenschichten war es vorteilhaft, dieses repräsentable Firmendomizil vorzuweisen.

Den schwarzen Shelby GT 500 stellte sie auf ihrem Parkplatz mit dem kleinen silbernen Schild ab: CEO.

Drei Jahre hatte ihr Vater noch an diesem Standort auf seinen Ruhestand hingearbeitet, die Früchte der Modernisierung gekostet und war jeden Morgen entweder allein oder gemeinsam mit ihr von Eschberg dorthin gependelt. Bis er eines Abends in ihr Büro kam und ihr eine unscheinbare DIN-A-4 Seite überreichte. Wertpapierübertrag. 10.000 Stück ECG- AG-Aktien. Von Wilhelm Engwald an Victoria Berg.

»Morgen möchte ich bitte ausschlafen«, hatte er gesagt, ihre Tür geschlossen und sie der Sprachlosigkeit überlassen.

Der Gedanke an jenen Moment ergriff Victoria in dieser Sekunde sehr, sie hielt vor dem Eingang kurz inne. Ihr Vater hatte damals angedeutet, nicht mehr lange berufstätig sein zu wollen, sein Leben als Privatier zu genießen, solange er die Chance dazu hatte. Er sah Victoria als bestens vorbereitet an, die Firma zu führen und legte sein Lebenswerk in ihre Hände, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbstredend war nach diesem Abend eine Menge an Formalien zu erledigen, aber mit der Überschreibung der Anteile waren die Eigentumsverhältnisse umgekehrt worden und Victoria besaß nun die Majorität, was sie laut Firmenstatuten automatisch zur Vorstandsvorsitzenden machte. Nachdem das Ganze rechtlich und vertraglich abgesichert war, läutete Wilhelm Engwald die neue Ära auch offiziell ein und hatte sich daraufhin nicht mehr ins Tagesgeschäft eingemischt. Seine Liebe galt der Falknerei, die er seit Ewigkeiten betrieb und der er seine Lebensenergie widmen wollte. In Eschberg hatte er dazu sowohl den Platz als auch die Möglichkeiten, deswegen war er nie umgezogen, auch wenn es ihm einiges an Zeit, Nerven und Kilometern erspart hätte. Seit ihn Victorias Mutter direkt nach der Geburt verlassen hatte, waren seine drei Säulen im Leben die Familie, die Firma und die Falken. Wobei die Familie aus ihm und Victoria bestand. Er war immer offen damit umgegangen, dass sie quasi ein »Unfall« gewesen war, der schönste und intelligenteste seines Lebens, aber ein Unfall.

Ihre Mutter hatte schon während der Schwangerschaft unmissverständlich geäußert, dass sie keine Familie sein wollte, eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgegeben und mit dem Tag der Entbindung das Leben der beiden für immer verlassen. Und so gab er seiner Tochter ihren Namen: Victoria. Weil sie mit ihrem ersten Atemzug alle Zweifel in ihm besiegt hatte, ob er auch allein ein guter Vater sein könnte und als Omen, dass sie aus noch so vielen Kämpfen, die das Leben ihr bieten würde, als Siegerin hervorgehen mochte. Nur an ihrem Nachnamen konnte er nichts ändern, also hieß sie immer anders als er, was mit zunehmender Größe und Bekanntheit der Firma aber nicht nachteilig war. Victoria konnte inkognito bleiben, behütet und unbehelligt aufwachsen, in Ruhe studieren und anfänglich sogar in den Semesterferien bei ECG arbeiten, ohne erkannt zu werden. Das änderte sich im Laufe der Zeit selbstredend, als Wilhelm sie an die Aufgabe heranführte, die er ihr für später zugedacht hatte.

Wer die beiden sah, erkannte sofort die Ähnlichkeit, in der Physiognomie, im Habitus, in der Rhetorik. Ein Vater-Tochter-Gespann wie im Bilderbuch.

Victoria war inzwischen in ihrem Büro angelangt, das Handy erneut zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, die Aktentasche und den Kaffeebecher jonglierend und ihren Vater am anderen Ende der Leitung beruhigend.

»Ja Papa, ich halse mir nicht zu viel auf. Alles gut. Und liebe Grüße von Joachim, er kommt in der nächsten Woche bei dir vorbei und sieht sich die neue Voliere an.«

»Gut. Sehen wir uns heute Abend?«

»Ich schreib dir gleich noch. Bin gerade zur Tür rein und sehe das Chaos auf meinem Schreibtisch, ich weiß noch nicht, wann ich Feierabend machen kann.«

»Okay. Bis nachher.«

Victoria legte die Tasche und das Handy auf den Glastisch, nahm einen großen Schluck Kaffee und ließ sich in den weißen Ledersessel fallen. Die Klimaanlage war eindeutig eine sinnvolle Investition gewesen. Auch wenn die dicken Backsteinmauern das Gebäude prinzipiell gut klimatisierten, die vielen Glasscheiben machten es fast zu einem Aquarium und im Hochsommer hielt man es dort sonst nicht aus.

 

Ihre Gedanken kreisten um die Vorkommnisse am Morgen im Café Daily, weniger jedoch um das Meeting mit Zeilinger und seinen Angestellten, als um den missgelaunten Gast, der sie für eine Kellnerin gehalten hatte. Unwillkürlich musste sie lachen; sie hatte tatsächlich früher in den Schulferien bei Zeilinger gearbeitet, damals aber nicht in Heels und einem Businesskostüm von Frederik Stein, sondern in Chucks und Jeans. Ihr Vater hatte sie von klein auf wissen lassen, welchen Wert Geld hatte; auch wenn sie in nahezu überbordendem Wohlstand aufwuchs, sorgte er dafür, dass sie sich die Erfüllung des ein oder anderen Wunsches erarbeiten musste. Geschadet hatte es ihr nicht. Noch heute konnte sie sich wie ein Kind über Kleinigkeiten freuen, ärgerte sich aber auch gern über hohe Benzinpreise und die unverschämten sieben Euro für ein Desperados im Old Daddy.

Irgendetwas passte nicht zusammen in dieser Situation; ein Anzugträger, ohne die übliche Businesstasche oder zumindest Tablet unter dem Arm, eine gepflegte Erscheinung, aber anscheinend durchnächtigt, auf den ersten Blick eigentlich sympathisch, aber dieser raue Tonfall!? Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie die Situation nicht aufgeklärt hatte. Normalerweise hätte sie sich zu ihm an den Tisch gesetzt und ihm die Leviten gelesen. Bei ECG brachte man sich seit jeher jederzeit Respekt entgegen und seit ein paar Monaten waren alle per Du, von der Putzfrau bis zum Vorstand. Verbale Entgleisungen oder Unhöflichkeiten wurden streng geahndet, theoretisch. Praktisch kam es quasi nie dazu, da man überall das offene Wort pflegte und die Hierarchie zwar steil, aber sowohl nach oben als auch nach unten durchlässig war. Nicht umsonst rangierte ECG auf der Liste der beliebtesten Arbeitgeber Deutschlands sehr weit oben und führte unter den Dienstleistungsunternehmen das Feld sogar an. Für einen Moment erlaubte sie sich, ein bisschen stolz darauf zu sein, trank ihren letzten Schluck Kaffee aus und öffnete die Gesprächsnotizen aus dem Meeting bei Zeilinger.

David Meißner vergötterte seine Chefin. Für Victoria würde er alles tun und tat es auch, zumindest arbeitstechnisch. Nachdem sie ihn bei einem kurzen One-on-one in ihrem Büro gebeten hatte, etwas mehr Ruhe walten zu lassen, hatte er den »Zwangstermin« bei der hauseigenen Physiotherapeutin gern über sich ergehen lassen und startete nach dem Lunch mit neuer Energie in den Nachmittag.

Die Tickets für Dubai waren gebucht, der Fahrer ebenfalls, ein Großteil der Termine konnte problemlos verschoben werden und auch die wenigen Kunden, die er noch nicht erreicht hatte würden keinen Anstoß daran nehmen, wenn die Meetings erst in den darauffolgenden Wochen stattfänden. Er gönnte Victoria die Zeit in den VAE, in der sie zwar arbeiten würde, aber der Scheich verstand es, sie auch zu bremsen und ihr ein wenig Erholung zu verschaffen. Alle sechs Monate flog sie zu ihrem »Lieblingskunden«, in den Monaten dazwischen besuchte er sie und die Firma in unregelmäßigen Abständen.

Es wurde viel spekuliert, was das »wahre« Verhältnis der beiden betraf; klar war offiziell nur, dass Victoria und Hakim bin Mohammed Al Hazim für zwei Semester zusammen in München studiert hatten. Das erklärte auch sein hervorragendes Deutsch und die heimliche Liebe zu Currywurst. Ob es eine heimliche oder unheimliche Liebe zu Victoria gab, blieb ein Geheimnis. Vorstellbar war es jedenfalls, sie verstanden sich gut, gingen gemeinsam zu Formel-1-Rennen, liebten schnelle Autos. Die Presse hatte ihr Bild von den beiden, David Meißner hatte sein eigenes. Man hörte sie viel gemeinsam lachen, wenn er bei ihr war und auch abends gingen sie gemeinsam aus. Andererseits stieg Scheich Hakim immer im Schlosshotel in Eschberg ab, übernachtete nie bei Victoria. Und man sah sie nie ohne diese kleinen Anzeichen einer gewissen Distanz.

Prinzipiell konnte es David Meißner egal sein, ob und mit wem Victoria eine Beziehung hatte, rein optisch und emotional war sie nicht sein Fall. Einerseits war sie ihm zu feminin, die langen kastanienbraunen Haare, die weibliche Figur und ständig High Heels oder wie Victoria es abkürzte: Heels. Er mochte Frauen lieber in Jeans und Kapuzenpullover, gern sehr sportlich, was zu seiner eigenen Natur passte. Und bitte keine langen Haare; er wollte nicht jede Nacht aufpassen müssen, wo er seine Arme und seinen Kopf ablegte. Wann und wo er diese Frau finden würde war ihm noch nicht klar. Aber mit 25 muss man das auch noch nicht genau wissen, sagte er sich, klickte sich durch diverse Seiten der Bilanz eines Kunden und fügte die Essenz davon in einen Onepager für Victoria ein. Nein, sie war definitiv nicht sein Fall. Zu quirlig, zu sehr von dieser Aura umgeben, mit der sie, eigentlich ungewollt aber unvermeidbar, immer im Mittelpunkt stand, egal wohin sie kam. Und vor allem war sie zu alt. Für ihn. Dass sie aber immer noch nicht den Mann fürs Leben gefunden hatte, wunderte ihn hin und wieder. Vielleicht war es ja doch Scheich Hakim? Egal, das alles war nicht seine Baustelle.

Victoria verfiel in eine stumpfe Grübelei. Bisher hatte sie sich immer auf Dubai gefreut. Hakim und sie verband eine lange Geschichte, die bis in die Anfänge ihrer gemeinsamen Zeit in München reichte.

Sie hatten sich im Audimax der Uni kennengelernt, notgedrungen nebeneinander auf der Treppe gesessen und einer der langweiligsten Vorlesungen der Menschheitsgeschichte gelauscht. Statistik. Sie blödelten ungezwungen herum, kritzelten sich gegenseitig Unsinn in die Collegeblöcke und bekamen von den Inhalten kaum etwas mit. Zum Ende des Vortrages schrieb Victoria Hakim ihre Handynummer in den Block. »Falls du noch mehr Blödsinn loswerden willst.«

Noch im Rausgehen wählte er ihre Nummer, als es tatsächlich in ihrer Jackentasche klingelte, grinste er sie unverhohlen an. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich daraus eine Liebelei, von der beide wussten, dass sie nur schwierig bis gar nicht fortzuführen wäre. Victoria wollte nach dem Abschluss nach Düsseldorf zurückkehren, Hakim bereits nach zwei Semestern wieder nach Dubai. Also genossen sie die Zeit, die ihnen blieb, kosteten jeden Moment aus und schoben den Abschied vor sich her. Am Abend vor dem Heimflug jedoch rang Hakim Victoria noch ein Versprechen ab.

Sie lagen auf dem Bett, in Victorias Wohnung in der Nähe des Campus, Hakim hielt sie im Arm und spielte mit ihren Haaren. Beiden war schmerzlich bewusst, dass sie sich lange Zeit nicht sehen würden, wenn es überhaupt ein Wiedersehen gab und beiden lastete dieser Gedanke schwer auf dem Gemüt. Victoria drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. Ohne ein Wort zu verlieren, küsste er sie, wieder und wieder und wieder. Die Sonne war gerade untergegangen und mit dem Wegfall des Tageslichts verdüsterte sich die Stimmung zunehmend.

»Hakim, was wir hatten ... was wir haben; ich will das eigentlich nicht aufgeben ...«

»Ich auch nicht ... Aber wir haben so viel darüber gesprochen ... Wir waren uns einig, dass wir die Zeit die Dinge klären lassen. Oder, Hobbi?«

»Ja, du hast recht ... Ich mag dich einfach nur nicht loslassen.«

Er zog sie näher an sich heran und küsste ihre Stirn. »Hey, lassen wir es drauf ankommen, jeder geht erst mal seinen Weg. Wo sich unsere Wege kreuzen, gehen wir ein Stück gemeinsam, wo sie sich trennen, lassen wir einander freien Lauf. Und wenn du mit 30 noch nicht den Richtigen gefunden hast, heiratest du einfach mich.«

Beide lachten, bis sich Victoria auf die Unterlippe biss und ihn forschend ansah: »Okay. Abgemacht.«

Hakim lachte sie an, küsste sie leidenschaftlich und fiel kopfschüttelnd über sie her. »Du bist soooo verrückt ...«

Magnus Brandt starrte immer noch auf den Marktplatz. Gute 500 Kilometer lagen zwischen gestern und heute, Berlin und Eschberg, Ilona und – Victoria. Warum um alles in der Welt ging sie ihm nicht aus dem Kopf?