Zauberhaft - Victoria

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

»Da hat es aber jemanden erwischt ...« Zeilingers dunkle Stimme ließ Magnus zusammenfahren und er fühlte sich ertappt, seine Ohren wurden heiß und seine Wangen röteten sich.

»Auweia, so schlimm?«, fragte Zeilinger.

»Nein. Ähm. Hm. Ich weiß nicht. Die Begegnung war irgendwie – prägend. Es tut mir leid, wie ich zu ihr war und dass ich das nicht richtiggestellt habe, das ist so gar nicht meine Art. Unrecht mag ich nicht und ich möchte das so nicht stehen lassen.« Er seufzte.

»Unrecht ist Ihnen unlieb«, schmunzelte Zeilinger. »Ganz recht. Sonst hätten Sie auch definitiv den Beruf verfehlt ... Mein Lieber, wenn Ihnen so viel daran liegt, werde ich Ihnen gleich Victorias Nummer geben und Sie können Ihre Entschuldigung selbst vortragen.«

»Hm. Hat sie nichts dagegen, wenn Sie einfach so die Nummer weitergeben?«

»Nein, ich denke nicht. Und bevor Sie sich das Hirn zermartern: es gibt auch sonst niemanden, der etwas dagegen hätte.«

Magnus überlegte für einen Moment, was Zeilinger ihm nun damit sagen wollte. Victoria war Single? Fast nicht vorstellbar. Zeilinger tippte und wischte auf dem Display seines Handys herum.

»Ich gebe Ihnen die Nummer im Büro bei ECG, dann kann sie immer noch entscheiden, ob sie Ihnen die Handynummer gibt.«

»ECG?«

»Engwald Consulting Group. In Düsseldorf.«

»Ah, okay. Unternehmensberaterin? So, so ...«

»Ja, genau. Fragen Sie nach Victoria Berg, falls sie nicht selbst drangeht.«

»Danke.«

»Immer wieder gern ...«

Wieder im Büro angelangt begann der Marathon im Merken von Namen und Gesichtern, Händeschütteln und Post lesen für Magnus. Gegen fünf Uhr am Nachmittag hämmerte es zunehmend in seinem Kopf und er fühlte sich nicht mehr aufnahmefähig. Und erst recht nicht in der Lage, entschuldigende Worte gegenüber Victoria zu finden. Und schon gar nicht, sie um ein Date zu bitten. Ein Date? Allein der Gedanke daran ließ ihm die Knie weich werden. Wie ging das noch mal? Er hatte bei seiner Hochzeit eigentlich damit abgeschlossen, jemals wieder in diesen Prozess einzutreten; Aufmerksamkeit erregen, anbandeln, Achterbahnfahren, annähern und abschleppen.

Nein, abschleppen passte nicht. Das war vor 10 Jahren vielleicht die Masche, aber erstens war Victoria sicherlich keine Frau für eine Nacht und schon gar nicht für die Erste und zweitens war es auch nicht das, was er wollen würde. Zwar wollte er auch nicht von einer Beziehung in die nächste stolpern, aber der Sicherheitsabstand zu Ilona war in jedem Detail inzwischen groß genug. Insbesondere in seinem Herzen hatte sie seit geraumer Zeit keinen Platz mehr. Heimlich, still und leise hatte sich dort aber seit dem Morgen ein gewisses Lächeln eingenistet, das es schneller schlagen ließ, sobald er es sich wieder vor Augen rief.

Zwei Aspirin und einen Stapel Briefe später packte er das Tablet und seinen Dienstausweis in die Aktentasche, schloss die Bürotür hinter sich und eilte ins Freie.

Die Sonne stand schon tiefer am Himmel, es war aber immer noch herrlich warm und er fragte sich, wie er den Abend ausklingen lassen könnte.

Seine Vorzimmerdame hatte ihm den Tipp gegeben, dass es bei »Mutti« in der Fontanestraße eine echte Berliner Currywurst gab, für den Fall, dass er Heimweh hätte. Sehnsucht nach Berlin hatte Magnus definitiv nicht, aber Hunger. Und keine Ahnung, wo die Fontanestraße war. Er googelte kurz die Wegbeschreibung und stellte fest, dass sie an einer Buchhandlung vorbeiführte. Es war kurz nach sechs, bis sieben könnte er dort noch schauen, ob die neueste Ausgabe von Bike verfügbar war.

Victoria blickte auf die Uhr, Viertel nach sechs. Es war doch wieder später geworden als geplant, aber immerhin hatte sie schnell einen Parkplatz in der Innenstadt gefunden und noch ein wenig Zeit, bis die Buchhandlung schloss. Per SMS hatte man sie benachrichtigt, dass ihre Buchbestellung eingetroffen war und sie sie abholen könnte. Sie freute sich bereits auf den großen Folianten – »Decorative Arts« – limitierte Auflage. Erst würde sie heute Abend auf der Terrasse bei einem Glas Contur den Tag ausklingen lassen, darin blättern und später, wenn sie fertig eingerichtet wäre, würde das Buch einen Ehrenplatz in ihrer kleinen Bibliothek bekommen. Als sie es auf einem Mittelaltermarkt entdeckt hatte, war jenes Exemplar bereits reserviert, sie durfte es aber in Augenschein nehmen und hatte sich sofort darin verliebt. Mit fast fünf Kilogramm viel zu schwer, um es in der Hand zu halten, bot es aber unzählige Abbildungen von Kunstgegenständen, ausgehend vom europäischen Mittelalter bis in die Renaissance. Im Prinzip genau das, wonach sie seit mehreren Jahren gesucht hatte, um ihre Sammlung dahingehend zu vervollständigen und ihre Kenntnisse um diese Epoche zu vertiefen. Vor zwei Jahren hatte sie sich einer Gruppe von Mediävisten angeschlossen, die sie auf einem Mittelaltermarkt kennengelernt hatte, ein loses Grüppchen von Anhängern des »dunklen Zeitalters«. Sie trafen sich in unregelmäßigen Abständen zu gemeinsamen Recherchen, werkelten an ihren Gewändern und verbrachten hin und wieder Wochenenden auf Mittelaltermärkten, um in einer authentischen Form den Besuchern nahezubringen, wie die Menschen damals lebten. Ein eigentlich zu aufwändiges Hobby für jemanden mit ihrem Job, aber auch hierfür musste David hin und wieder Inseln in ihrem Kalender finden oder schaffen. Dummerweise fiel der nächste Markt mit ihrer Rückkehr aus Dubai zusammen und sie würde wohl nur als Besucherin teilnehmen, ohne großes Equipment. Aber das war es allemal wert; das Kochen über dem Lagerfeuer, den ganzen Tag an der frischen Luft und die Entschleunigung des Alltags würden auch so ein Lichtblick werden.

Als sie das Buch entgegennahm, leuchteten ihre Augen, sie legte es wie ein Baby in ihren Arm und ging von der Abholung Richtung Kasse. Am Zeitschriftenständer vorbei blickte sie plötzlich in ein neu-bekanntes Gesicht.

»Hi ...«, sagte sie lächelnd und wunderte sich gleichzeitig, warum ihre Stimme so trocken und brüchig geklungen hatte. Ihr Gegenüber blickte auf und sah sie mit demselben niedlichen, aber seltendämlichen Gesichtsausdruck wie beim Verlassen des Cafés an.

»Ähm, hi!?« Es klang mehr wie eine Frage und Magnus zog im selben Moment die Stirn kraus. Er war getroffen. Das Lächeln war wieder da, es stand vor ihm, real. »Frau Berg, ich wollte Sie eigentlich vorhin angerufen haben ...«

»Frau Berg? Himmel, so nennen mich ja höchstens meine Klienten ... Victoria. Bitte.«

»Okay, also, Victoria. Ich wollte mich für mein Verhalten heute früh entschuldigen. Zeilinger hat mir Ihre –«

»Bssssss. Ich bin kein Freund von unnötigen Höflichkeitsfloskeln, schon gar nicht unter Gleichaltrigen. Wir können uns gern duzen.« Der Ton war milde und gab Magnus ein wenig Selbstvertrauen zurück.

»Okay, ich spule zurück und fang noch mal von vorn an ...«, witzelte er. »Victoria, es tut mir leid, dass ich heute früh so ungehobelt war. Erstens ist das für gewöhnlich nicht meine Art, niemandem gegenüber, und zweitens hätte mir auffallen müssen, dass du dort nicht kellnerst. Sorry.«

»Mach dir keinen Stress. Verrat mir lieber deinen Namen ...« Es klang ein wenig spöttisch, aber ihr Augenaufschlag verriet, dass es nett gemeint war.

»O Mann, ich steh hier wie ein kompletter Vollidiot. Magnus. Magnus Brandt.«

»Ach was ...« Victoria umklammerte das Buch etwas fester und sah ihn an.

»Sag nicht, du hast auch in der Zeitung von mir gelesen ...«

»Doch, hab ich. Aber es war kein Bild dabei, sonst hätte ich dich wahrscheinlich erkannt ... Nichts für ungut.« Sie zwinkerte ihm zu. »Provinznest eben. Da ist ein neuer Direktor am Amtsgericht schon so ein kleines Highlight.«

»Na fein ... und ich dachte, ich krieg hier etwas Ruhe ... Stattdessen werde ich quasi zum Celebrity ...«

»Wenn du noch länger hier mit mir stehst, sicherlich ...«, lachte sie.

»Wie hab ich das zu verstehen?«

»Eschberg ist ein Dorf ... Und man wird sich sehr schnell ein Bild von dir machen, machen wollen. Wenn du also noch länger mit mir hier Wurzeln schlägst, führt das unweigerlich zu Gerüchten.«

»Und das hängt nicht auch indirekt mit deiner Person zusammen?« Magnus grinste. Jemand wie sie war sicherlich keine Unbekannte hier.

»Könnte sein ...« Mit einer diebischen Freude lächelte sie ihn an. »Hast du Lust, mal mit mir Mountainbiken zu gehen?«, fragte sie und tippte auf das Magazin, das er die ganze Zeit in der Hand hielt.

»Wer, ich?« Er blickte sie verdutzt an.

Victoria sah sich demonstrativ um, zuckte mit den Schultern und hob fragend die Hände. »Ja. Du ...«

Als er rot anlief, fuhr sie besänftigend fort: »Sorry, ich will nicht, dass das so aussieht, als wollte ich dich irgendwie auflaufen lassen. Passiert mir manchmal. Ich dachte nur, dass du eventuell Interesse hast, weil du eben auch das Bike-Magazin liest ...«

»Nein, alles gut. Ich habe nur wahnsinnig wenig Schlaf gehabt in den letzten Tagen und bin noch nicht ganz im Hier und Jetzt angekommen. Aber deine Einladung nehme ich gern an.«

»Fein. Ich muss jetzt übrigens los. Meine Nummer hat Zeilinger dir ja sicherlich gegeben, oder?«

»Ähm, die im Büro. Ja. Woher weißt du?«

»Nur so. Ich hab früher mal bei ihm gekellnert und er hat den bösen Buben immer die Nummer meines Vaters aufgeschrieben, wenn sie nach mir gefragt haben. Das war sehr amüsant. Manchmal macht er das heute noch ...«

»Ah ja ... Sehr interessanter Zeitgenosse. Eigenartiger Humor.« Magnus begleitete sie Richtung Kasse. »Das heißt, ich muss das Risiko eingehen, eventuell deinen Vater nach deiner Nummer zu fragen oder hab ich eine Chance, deine Handynummer von dir persönlich zu bekommen?«

 

Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie an, ließ ihr den Vortritt an der Kasse und staunte nicht schlecht; das riesige Buch kostete eine dreistellige Summe und Victoria legte, ohne auf die Anzeige zu achten, ihre Kreditkarte hin und unterschrieb.

»Hast du dein Handy griffbereit?«, fragte sie, während sie das Buch wieder in ihre Arme schloss.

»Ja«, antwortete er und zückte es aus der Hosentasche, während er die Münzen für das Magazin der Kassiererin überreichte.

Victoria diktierte ihre Nummer, dann fuhr sie fort: »Nur fürs Protokoll: Victoria mit c. Und ich hasse es, wenn mein Name abgekürzt wird. Nicht Vicky, nicht Tory, nicht Ria.«

Wenn sie dabei nicht so nett geschaut hätte, hätte es frech oder fast herrisch geklungen. So fand Magnus es irgendwie süß, eine Umgehungshilfe für Fettnäpfchen quasi.

»Okay, danke. Kann ich dir das schwere Biest vielleicht abnehmen und irgendwo hinbringen?«

»Eigentlich ... Hm. Ich wollte gleich noch auf eine Currywurst zu Mutti. Echt Berliner Art ...« Sie grinste ihn schelmisch an. Vor der Buchhandlung blieben sie stehen.

»Ob du es glaubst oder nicht, ich bin auch auf dem Weg dorthin. Meine Vorzimmerdame hat mir den Laden empfohlen. Bei einem Anflug von Heimweh ...«

»So ... Hat sie das ... Und, hast du schon Heimweh?«

»Nicht im Geringsten. Außerdem komme ich ja ursprünglich aus der Gegend hier. Aber Currywurst geht immer … Was hältst du davon: ich nehme dir das Buch ab und wir gehen zusammen?«

Sie lächelte. »Gern. Aber nur, weil du es bist.«

Die wenigen Straßen bis zu Mutti trug Magnus das Buch, ohne es sich genauer zu besehen, erst, als er es auf dem Stuhl neben sich ablegte, blickte er auf den Titel. Nachdem sie ihre Bestellung erhalten hatten, sprach er Victoria darauf an.

»Sag maaaaaal ...«, begann er zögerlich.

»Ja!?«

»Ich hab gerade erst gesehen, was du gekauft hast. Eine mountainbikende Unternehmensberaterin, die sich für mittelalterliche Kunst interessiert, offenbar mehr Humor hat, als die meisten ihrer Zunft und die im Designeroutfit eine Currywurst mit doppelter Pommes und Mayo bestellt. Du kannst dir vorstellen, wie sich mein Hirn gerade verrenkt, dieses Bild irgendwie zu verarbeiten!?«

»Herr Doktor, ich weiß selbst, dass ich augenscheinlich nicht ganz normal bin ...«, spottete sie und knabberte an der ersten Pommes. »Um dich vollends zu verwirren: Ich bin süchtig nach Red Bull, kann nicht auf flachen Schuhen laufen und fahre ein Muscle-Car. Aber ich habe Angst vor dem freien Fall und kann nicht stricken.«

Magnus kugelte sich beinahe vor Lachen. »Ja, danke. Das hat mich jetzt tatsächlich restlos aus dem Konzept gebracht. Du kannst also nicht stricken? Das kann ja sogar ich ... Du bist sicherlich nicht viel jünger als ich und damals stand das in der Grundschule überall auf dem Stundenplan ...«

»Ich bin 29. Also, wenn man dem Zeitungsartikel trauen darf, damit gut 4 Jahre jünger als du. Und ja, es stand auf dem Stundenplan. Handarbeiten und Werken. Die einzige Fünf, die ich jemals auf dem Zeugnis hatte.« Victoria lachte und lutschte genüsslich die Mayonnaise von der Pommes. Dass Magnus sie in diesem Moment sehr genau angesehen hatte, wurde ihr erst klar, als er fragend die Augenbraue hob. Sie schloss die Augen für einen Moment und grinste.

»Ähm. Ja. Hab ich gerade mit dir und der Pommes geflirtet?«

»Neeeeeiiiin, niemals.« Magnus lachte und pikte ein Stück Currywurst auf die Gabel. Natürlich flirtete sie mit ihm, das war so klar wie der wolkenfreie Abendhimmel.

Er hielt ihr eine Pommes hin und sie schnappte danach. Victoria biss sich auf die Unterlippe und schmunzelte. Magnus war so anders als am Morgen, jetzt fügte sich ihr Bild von ihm. Unterwegs hatte er ihr erzählt, was vor ihrem Zusammenstoß im Café passiert war und daraufhin hatte sie ihm den Tonfall noch weniger übel genommen.

Sein Lächeln faszinierte sie, diese kleinen Fältchen im Mundwinkel, die zum Vorschein kamen, wenn er sie angrinste. Und von diesem smaragdgrünen Funkeln in seinen Augen konnte sie nicht genug bekommen.

»Sag mal, was habe ich mir denn unter Muscle-Car vorzustellen?«, fragte Magnus sie, um das Thema zu wechseln und ihrem Blick auszuweichen, dem er nicht lange standhalten konnte.

»Wenn du mir das Buch noch bis zum Parkplatz bringst, wirst du es sehen.« Mit einem Mal zögerte sie. »Also, nicht, dass du mich für eine Angeberin hältst ... Ich steh halt auf schöne Autos und für den Luxus, den ich mir gönne, arbeite ich auch ziemlich viel.«

»Ich habe eigentlich nichts anderes gedacht. Wie kommst du darauf, dass du dich im Vorfeld verteidigen müsstest?«

Ja, wie kam sie darauf? Weil es immer so war. Wenn Victoria sich verliebte. Sobald klar war, wer sie war, gab es genau zwei Alternativen. Entweder die Männer versuchten, sie auszunutzen und sich an ihr zu bereichern. Dazu müssten sie aber früher aufstehen. Oder sie nahmen Reißaus. Bei Magnus tippte sie eher auf die zweite Variante.

»Hm. Was soll ich sagen!?« Victoria legte die Gabel auf den Teller und fuhr fort. »Das mit dem Auto ist mir vorhin eher so rausgerutscht. Ich muss halt oft rechtfertigen, warum ich wie handle. Und Erfolg ruft halt auch gern Neider auf den Plan. Dürftest du ja auch kennen. Oder?«

»Ich verstehe, was du meinst. Nur so richtig erfolgreich war ich, abgesehen von meiner Versetzung hierher, in den letzten Monaten nicht. Ist ein bisschen was schiefgelaufen und ich bin froh, wenn ich hier einen Neuanfang hinbekomme.« Resigniert lehnte Magnus sich zurück. Klar, dass das irgendwann auf den Tisch kommen musste. Aber so früh? Aber wann sonst?

»Ich bohre auch nicht weiter ... Keine Panik. Ich glaube, wir haben alle unsere Leichen im Keller ...«

Sie biss in ihre Currywurst und wischte sich mit der Serviette die Sauce aus dem Mundwinkel.

Das lockte Magnus nun wieder aus der Reserve. Eigentlich lief es gerade noch in die Richtung, dass er sich einkapseln würde, aber jetzt erwachte seine Neugier.

»So, so. Du hast also Leichen im Keller. Mit den High Heels erdolcht?« Er nippte an seiner Coke.

»Nein!« Victoria lachte. »Sollte ich jemanden erdolchen wollen, habe ich dafür echte Waffen. Das Mittelalterbuch kommt nicht von ungefähr, ich bin quasi ›in der Szene‹ unterwegs.«

»Ernsthaft? Also so richtig Re-Enactment mit Gewandung, Lagern und allem Drum und Dran?« Er stützte den Kopf in die Hand und sah sie fragend an.

»Ja, ernsthaft. Und so wie du sprichst, hört es sich an, als würdest du dich auskennen!?«

»Ein bisschen. Wobei ›ein bisschen‹ schon untertrieben ist. Ich betreibe das momentan nicht ganz so intensiv, aber in drei Wochen bin ich in Bärenthal auf dem Markt mit meinen Leuten. Ein bisschen abschalten, mal wieder Schwertkampf trainieren und so.«

»Du siehst mich sehr verwundert, Herr Dr. Brandt ... Damit habe ich nicht gerechnet ...« Victorias Herz schlug schneller. So viele Gemeinsamkeiten; rein statistisch betrachtet war das schon fast unwahrscheinlich, bei ihrer Interessenlage. »Okay, ich will dich eigentlich nicht ausfragen, aber ...«

Er zwinkerte ihr zu. »Frag ...«

»Welche Epoche?«

»Hochmittelalter. Raum Mitteldeutschland.«

»Immerhin: kein SpäMi ...« Sie lachte. Die Leute, die sich auf das Spätmittelalter konzentrierten waren ihr suspekt. Magnus stand auf der richtigen Seite. Und er kicherte, deutete mit einer Handbewegung an, dass sie weiterfragen sollte.

»Ich hab mich auch bei 1220 ungefähr festgelegt ... Und um offen zu sein: Bärenthal hatte ich ebenfalls auf dem Radar für diesen Sommer. Ich bin zwar vorher beruflich unterwegs, aber vielleicht sehen wir uns dort ja dann ... By the way – Was für ein Mountainbike fährst du?« Bevor er antworten konnte, hob sie die Hand. »Halt, lass mich raten. Ein Fullsuspension, wahrscheinlich nichts von der Stange, eher customized.«

»Du auch?«

»Ja.«

»Rotwild?«

»Ja.«

»Wow.«

Für einen Moment lehnten sich beide zurück und sahen einander tief in die Augen. Den Hersteller der Bikes kannte man als Mountainbiker, in der Regel aber nicht als Normal-Fahrradfahrer. Solide Bikes der gehobenen Preisklasse, hoher Spaßfaktor und exzellenter Service.

Victoria neigte den Kopf und senkte die Stimme. »Das ist schon ein bisschen spooky, oder?«

»Ja. Ein bisschen. Schlimm?«

»Nein. Ich glaube nicht. Darf ich weiterfragen?«

»Ja, immer. Auch ohne zu fragen, ob du fragen darfst.« Magnus lachte. Eigentlich war er der Fragenspezialist. Aber auch wenn hier Victoria das Verhör führte, erfuhr er ganz nebenbei einiges über sie.

»Okay, ich mach mir jetzt mal kurz eine Notiz ins Handy und dann geht’s los.« Wenige Sekunden später fragte sie: »Pepsi oder Coke?«

Sie machte also mit den Klassikern weiter. »Eigentlich Dr. Pepper. Aber, wie man sieht, tut es zur Not auch Coca Cola.«

»Mhm ... Herr Doktor steht also auf Dr. Pepper ... McDonald’s oder Burger King?«

»Als ehemaliger Mitarbeiter des ›Restaurant zum goldenen M‹ definitiv McDonald’s.«

»Sieh an ...« Und wieder kam ihr dieses 1000-Watt-Strahlen über die Lippen, das sich den direkten Weg in Magnus‹ Herz bahnte. »Katze oder Hund?«

»Momentan nur Teddybär, prinzipiell aber eher Katze.« Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob die Antwort »richtig« war. Pokerface. Na fein.

»Letzte Frage. Evangelisch oder katholisch?«

»Äääähhhm, weder noch. Pastafari.«

»Aye.«

»Aye? Jetzt ist es spooky.« Völlig entgeistert sah er Victoria an, deren Pokerface sich löste, als sie ihm ihr Handy unter die Nase hielt.

»Nur damit es nicht heißt, ich hätte geschummelt!«

Magnus las ihre Notiz von vor zwei Minuten.

Meine Antworten:

Red Bull, aber Coke geht auch.

McDonald’s, keine Frage.

KATZE, bloß nicht noch mehr Gassigehen müssen!

Pastafari.

»Und jetzt?«, fragte sie ihn, zurückhaltend, unbestimmt und fast kleinlaut.

»Gute Frage«, antwortete er ebenso vorsichtig. »Wenn ich dich in der Buchhandlung vorhin richtig verstanden habe, musstest du eigentlich gerade los?«

»Jein, das bezog sich darauf, dass ich noch etwas essen wollte und theoretisch noch bei meinem Vater vorbei muss und es mir dann mit einem Glas Wein und dem dicken Wälzer gemütlich machen wollte. Wobei ich meinem Vater auch absagen kann und soweit ich mich erinnere, haben gedruckte Lettern den Vorteil, dass ihnen nicht der Akku ausgeht ... Also ...«

»Weißt du, das klingt jetzt vielleicht nach einer miserablen Ausrede, aber ich bin heute Nacht um vier mit meinem Umzug fertig geworden, habe zwei Stunden geschlafen und im Laufe des Tages vier Aspirin genommen. Ich fürchte, je später der Abend wird, desto desolater wird mein Zustand und irgendwann sitze ich nur noch lallend und schlimmstenfalls abstoßenderweise sabbernd neben dir, rede noch wirreres Zeug als ohnehin schon und bekomme gar nicht mehr mit, wie zauberhaft ich dich finde ...« Beim letzten Teil des Satzes hatte er ihre Hand gegriffen und sah ihr traurig in die Augen.

Victoria strich mit einem Finger über seinen Daumen und antwortete: »Eigentlich würde ich ja jetzt eine spitze Bemerkung machen. Ein zynisches ›Dann eben nicht, du wirst es noch bereuen‹, aber um ehrlich zu sein: ich hatte auch eine zermürbende Nacht und bin ziemlich müde. Ich habe also nichts dagegen, wenn du mir, als Wiedergutmachung für heute früh, noch das Buch zum Auto bringst und mir dann hoch und heilig versprichst, dass wir uns wiedersehen.«

Magnus blickte zur Seite, dann wieder hoch zu ihr. »Von mir aus trag ich dich samt Buch zum Auto ... Und darauf, dass wir uns wiedersehen, gebe ich dir mein Ehrenwort.« Er ließ ihre Hand nicht los, als sie aufstanden, auch nicht, als er das Buch aufnahm und sie das Lokal verließen. An der Fußgängerampel vor »Mutti« lehnte Victoria ihren Kopf an seinen Arm, beide sahen zur anderen Straßenseite hinüber. Grün.

»Kinderriegel oder Duplo?«

»Duplo.«

»Erdbeere oder Kirsche?«

»Erdbeere. Aber wenn es um Eis geht, am liebsten Schokolade.«

»Fußball oder Eishockey?«

»Definitiv Eishockey. Dafür war ich zu lange in Berlin. Die wissen dort gar nicht, was Fußball ist.«

»Audi oder BMW?«

»Aktuell fahre ich Audi. Aber eigentlich ist mein Traumauto ein Ford Mustang. So wie der, der da vorne steht, auf dem Parkpl- »

Im selben Moment hatte Victoria auf den Autoschlüssel gedrückt, die Lichter des Wagens leuchteten auf und sie sah zu ihm hoch. Magnus war, trotz ihrer schwindelerregend hohen Schuhe, noch gut einen Kopf größer als sie.

 

Sie blieb stehen, hielt ihn an der Knopfleiste seines Hemdes fest und zog ihn näher zu sich heran. »Duplo, Erdbeeren, Schokoladeneis, Eishockey und Audi. Ford Mustang Shelby GT 500. Ich hab langsam wirklich Angst.«

»Angst?«, fragte er und lehnte seine Stirn gegen ihre, sah ihr direkter denn je in die Augen und legte schüchtern seine Arme um ihre Taille.

»Angst!«, antwortete sie und stupste seine Nase mit ihrer an. »Aber das ist nichts, was wir hier und heute angehen sollten.«

»Schon okay«, flüsterte er, stupste ihre Nase zurück und verlor sich im Funkeln der kleinen goldenen Sprenkel ihrer braunen Augen.

In der Sekunde, als sie einander losließen, wurde beiden klar, dass sie gerade einen dieser One-in-a-million-Momente erlebt hatten und es für den Augenblick keiner weiteren Worte bedurfte.

»Wo kann ich dich absetzen? Oder willst du selber fahren?«

»Das ist tatsächlich deiner ... Für eine Sekunde hab ich noch an einen Zufall geglaubt, aber klar. Muscle-Car ...« Er betrachtete prüfend den schwarzen Mustang. »V8, 5,8 l, 325 km/h Spitze!?«

»Exakt. Nur das beantwortet meine Frage nicht«, tadelte sie ihn gespielt.

»Hm. Also, ich wäre sehr glücklich, wenn du mich am Gericht absetzt, ich hoffe, dass mein Auto wieder dort steht. Auch wenn der Mustang echt ein Traum ist, ich bin definitiv zu müde, mich jetzt darauf einzulassen.«

»Kein Problem. Steig ein, ich lass dich am Gericht raus.«

Magnus ließ sich in den schwarzen Ledersitz auf der Beifahrerseite fallen und sah sich in dem Auto um. Als sie den Motor anließ, machte sich ein seliges Lächeln in seinem Gesicht breit, der Sound und die Vibrationen übertrugen sich fast 1:1 in den Innenraum.

»So fühlen sich also 662 PS an? Wow.«

»Mhm ...«, nickte Victoria lachend und fuhr los.

Es waren nur wenige Straßen bis zum Gerichtsgebäude und schon aus der Entfernung sah Magnus den weißen A4 wieder an Ort und Stelle stehen. Er atmete auf.

»Einerseits bin ich ja froh, dass der Wagen wieder zurückgebracht wurde, andererseits ...« Er schmollte und hielt Victorias Hand fest, küsste sie darauf und strich mit den Fingern seiner anderen Hand darüber. »Morgen?«

»Morgen. Versprochen.«

»Schreibst du mir noch, wenn du heil zu Hause angekommen bist?«

»Ja, natürlich.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Jetzt aber raus, bevor ich dich doch noch für eine Spritztour kidnappe ...«

»Kidnappen? § 239 Strafgesetzbuch. Freiheitsberaubung. Absatz eins: Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Absatz zwei: Der Versuch ist strafbar«, entgegnete Magnus trocken.

»Ooooooh raus mit dir, Herr Doktor. Du redest Blödsinn ...«, lachte sie und knuffte ihn in die Seite. »Bevor du mir jetzt mit Körperverletzung wegen des Knuffens kommst –« Sie hielt inne und küsste ihn abermals flüchtig auf die Wange: »Abmarsch!«

Lachend und kopfschüttelnd verließ Magnus das Auto, warf ihr eine Kusshand zu und ging zu seinem Auto.

Im Rückspiegel sah Victoria ihn in die andere Richtung abbiegen. Ihr fiel auf, dass sie gar nicht gefragt hatte, wo er wohnte. Vielleicht war es besser so, sie hatte zunächst auch wenig Interesse, ihre Adresse preiszugeben. Aber warum eigentlich? Magnus machte den Eindruck, als interessierte er sich tatsächlich für ihre Person, nicht für ihren Lebensstandard. Ihr war das Funkeln in den Augen beim Anblick des Ford Shelby zwar aufgefallen, aber ihr ging es nicht anders, wenn sie ihr »Baby« sah. Der Sportwagen war zwar nicht ihr einziges Auto, aber hatte es Sinn, das zu erzählen? So weit wollte sie beim ersten, ungeplanten Date dann doch nicht gehen. Auch wenn sie Magnus für selbständig und geerdet hielt, die Gefahr, dass er vor Victoria Berg zurückschrecken könnte, war noch nicht gebannt.

Sie sah auf den Darwin-Fisch an ihrem Schlüsselbund und schickte ein Stoßgebet zum Fliegenden Spaghettimonster, dass Magnus sie nicht googeln würde.

Magnus bog in die Talstraße ein, stellte den Wagen in Ermangelung eines Parkplatzes drei Häuser weiter ab und ging das letzte Stück zu Fuß. Er hatte Victoria gar nicht gefragt, wo sie wohnte. Na ja, überlegte er, dann fragt sie wenigstens auch nicht nach meiner Adresse.

Es bereitete ihm Unbehagen, wenn er daran dachte, dass sie ihn dort besuchen könnte. Erstens müsste er dringend vorher aufräumen. Und zweitens. Hm. Eigentlich wird selbst das Aufräumen nicht helfen. Die Wohnung erinnerte eher an eine Studentenbude als an ein Zuhause. Nervös hantierte Magnus mit dem Haustürschlüssel. Der Gedanke, wohin das alles führen würde, ließ ihn nicht los und bereitete ihm erneut Kopfschmerzen. Kaum zur Tür herein, zog er sich aus, stellte sich unter eine eiskalte Dusche und atmete tief durch. Wenig später sah er auf sein Handy. Victoria hatte sich noch nicht gemeldet. Siedend heiß fiel ihm ein, dass ja nur er ihre Nummer hatte, nicht umgekehrt.

Er öffnete WhatsApp und suchte in den Kontakten nach ihr. Zum ersten Mal sah er ihr Bild; er würde es herauskopieren und speichern. Sie trug dieses Lächeln, mit dem sie ihn verzaubert hatte. Verzaubert. Das war das Wort, nach dem er die ganze Zeit gesucht hatte.

🎓 Hey, das war vorhin nicht ganz so clever von mir; vielleicht hätte ich dir auch meine Nummer geben sollen, damit du mir sagen kannst, dass du gut angekommen bist ... Sorry!

Ein Häkchen. Zwei Häkchen. Zwei blaue Häkchen. Victoria Berg schreibt. Herzaussetzer.

💎 Ja, aber ich hab auch nicht dran gedacht ... Schlafentzug ist als Foltermethode anerkannt, hier sehen wir den Grund dafür ... Ich bin aber auch gerade erst zur Tür rein, habe doch noch schnell meinem Vater die Unterlagen gebracht, die ich versprochen hatte. Schon auf dem Weg ins Bett?