Zauberhaft - Victoria

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»Ja, das ist wohl wahr. Hast du es noch weit? Siehst schon ziemlich k. o. aus ...«

»Ganz ehrlich? Ich hab keine Ahnung, wie weit ich gelaufen bin, ich müsste in die App gucken. Und wie weit es nach Hause ist, weiß ich auch nicht ganz genau.«

»Na, dann wurde das mit dem Laufen aber höchste Zeit. So vernebelt?«

»O ja ... Aber nicht nur wegen Victoria.«

Sie hielten auf dem Weg neben dem Schotterparkplatz an. Moritz stoppte seine Aufzeichnung am Handy, Magnus blickte irritiert auf sein Display.

»Okay. 18 Kilometer. Hätte ich nicht gedacht.«

»Runner’s High?« Moritz grinste.

»Wahrscheinlich.«

»Hey, was hältst du davon, wenn wir bei mir schnell was trinken und ich bring dich eben mit dem Auto nach Hause?«

»Hm.« Magnus stutzte.

»Komm, ein alkoholfreies Weizen geht immer ...«

»Da kann ich schlecht nein sagen. Wecken wir Elisabeth nicht?«

»Selbst wenn, dann schleppt sie sich höchstens von der Couch ins Bett. Oder lässt sich tragen.«

»Na gut. Auf deine Verantwortung.«

Wider Erwarten gingen sie nicht ins Schloss, sondern bogen in einen Privatweg ein, an dessen Ende sich eine dezent beleuchtete Villa im Landhausstil auftat. Moritz hielt eine Schlüsselkarte vor die Tür und ließ Magnus ein. Elisabeth stand in der Küche und löffelte einen Becher Ben & Jerry’s leer, grinste und winkte ihm. »Hiiii ...«

Moritz trat hinter ihm in den Flur. »Ich hab jemanden mitgebracht ...«

»Ich seh schon!« Elisabeth kam ihnen entgegen, fiel Moritz um den Hals und küsste ihn. »Wenn du geschrieben hättest, dass du mit Magnus unterwegs bist, hätte ich mir weniger Sorgen gemacht.«

»Ja, Mama ...«, frotzelte Moritz. »Ich hab ihn gerade erst getroffen. Er hat sich quasi verlaufen.«

»Oh. Na dann bring ihn gleich mal heim ... Trinkt ihr noch einen Absacker?«

»Ja, hatten wir vor.«

»Mein Auto steht noch draußen, wenn du magst. Ich geh jetzt ins Bett. Viel Spaß noch euch zweien und Schuhe aus!«, rief sie lachend, umarmte beide und machte sich auf den Weg nach oben.

»Du hast es gehört!«, zwinkerte Moritz Magnus zu und stellte seine Schuhe in den Flur. Er schob Magnus ein Paar Hausschuhe zu und deutete ins Wohnzimmer. »Setz dich schon mal, ich komm sofort.«

»So ungeduscht auf die Couch?«

»Kein Ding. Wenn hier erst mal der Nachwuchs Einzug gehalten hat, nimmt darauf auch niemand mehr Rücksicht.« Moritz lachte, nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank und ließ sie nacheinander waagerecht in die Gläser laufen. »Jetzt wo ich Elisabeth mit dem Eis gesehen habe ... Willst du auch eins?«

»Eis und Bier? Nee, lass mal. Danke.« Magnus winkte ab. »Bist du mitschwanger?«

»Ich befürchte es ...« Moritz hielt ihm das erste Glas hin. »Ich steh teilweise mitten in der Nacht mit ihr auf und sehe ihr dabei zu, wie sie Selleriesalat aus dem Glas isst.«

»Iiiih.«

»Mhm. Ich muss dazu sagen: Sie ist eine begnadete Köchin, dass sie so was überhaupt anrührt, ist schon seltsam. Aber mitten in der Nacht ... Bedenklich ...«

»Geht sicherlich auch vorbei ... Wievielte Woche?«

»Elfte. 29 weeks to go.« Moritz rollte mit den Augen.

»Denn man tau ...«, stießen sie die Gläser an und Stille legte sich über den Raum.

Einen Moment später ließ Magnus vor Schreck fast das Glas fallen und Moritz prustete vor Lachen. Gringer hatte sich angeschlichen und vor Magnus‹ Füßen saß er nun schwanzwedelnd und bettelnd: »Miau?«

»Fuck, was hab ich mich erschreckt!«

»Sorry, ich hab an den Dicken nicht gedacht. Das ist Gringer.«

»Der aus He-Man?« Magnus grinste und bestaunte den riesigen Kater.

»Ich seh schon, wir verstehen uns ...« Moritz war zum Küchenschrank gegangen und raschelte mit einer kleinen Box. »Komm her, Dicker.«

Gringer tapste auf ihn zu und sah ihn erwartungsvoll an. »Peng, tote Katze!«

Gringer fiel um, alle Viere von sich und verharrte so.

»Fein hat er das gemacht.« Moritz warf ihm ein Leckerli hin und wandte sich breit grinsend zu Magnus. »Hat Elisabeth ihm beigebracht ...«

»Cool. Norwegische Waldkatze?«

»Mhm. Anhänglich wie ein kleines Kind. Er liebt sie abgöttisch ... Und leidet total darunter, dass sie momentan nicht so viel mit ihm kuschelt.«

»Angst vor Toxoplasmose? Kann ich verstehen. Ist ja auch nicht ungefährlich.«

Moritz neigte den Kopf und sah Magnus fragend an. »Hast du selber Kinder?«

»Ich? Nein. Wie kommst du darauf?«

»Du fragst nach der Schwangerschaftswoche, nicht nach dem Monat. Toxoplasmose ist dir ein Begriff ... Ich musste mich dafür erst durch so ein quietschiges Schwangerschaftsbuch quälen ...«

»Lass mich raten, so ein rosafarbenes, Comicstil, Sanssouci-Verlag. Schwangerschaft und Geburt.«

»Exakt ... Also, raus mit der Sprache ... Wieso hast du das gelesen?«

»Meine Schwester hat ein Kind, Henry. Fast vier inzwischen. Sie hat es damals in der Schwangerschaft bei mir und –«

»Und?« Moritz schaute aufmerksam.

»Bei mir und Ilona liegen lassen.«

»Ilona, deine Ex?«

»Ilona meine noch.«

»Hey, stopp. Was meinst du genau?« Moritz‹ Ton hatte sich ein wenig verschärft.

»Nicht, was du jetzt denken könntest. Ich fahr nicht zweigleisig.«

»Sorry, wollte nichts unterstellen. Klang nur so seltsam«, ruderte Moritz zurück.

»Ja, deswegen hab ich auch einen Moment gezögert. Ilona und ich sind offiziell noch verheiratet, aber der Termin für die Scheidung müsste jetzt bald anberaumt werden. Und bevor du fragst: Nein, Victoria weiß davon noch nichts.«

»Autsch.«

»Exakt. Und ich hab auch noch keine Ahnung, wie ich ihr das beibringen soll. Eigentlich ist alles in trockenen Tüchern.«

»Eigentlich?«

»Herrje, du hörst echt zu gut zu ...«

»Hab ich von Elisabeth.«

»Bester Einfluss ...«

Beide lachten. Magnus sah in sein Glas. »Nichts, was sich nicht in den nächsten Tagen klären wird. Wir kommunizieren nur noch über unsere Anwälte.«

»Ein Richter, der einen Anwalt braucht?«

»Ja, das hört sich bescheuert an, ich weiß. Aber Tobias und ich haben zusammen studiert und ich vertraue ihm voll und ganz. Es ist schon besser, wenn sich jemand der Sache annimmt, der emotional nicht so involviert ist. Außerdem ist es so vorgeschrieben ...«

»Klingt logisch. Und verdammt traurig.«

»Na ja, Scheidungen gehören bei mir ja indirekt auch zum Geschäft, ich mach zwar eigentlich Strafrecht, aber muss mich halt auch im Zivilrecht sicher bewegen. Insofern nichts, was mir von der Sache her fremd ist. Wie die Eheschließung an sich auch nur ein formaljuristischer Akt.«

»So nüchtern, wie du das betrachtest, bist du echt drüber hinweg, oder?«

»Aber so was von. Sonst hätte ich mich auch gar nicht auf Victoria eingelassen. Das kannst du mir glauben.«

»Tue ich. Ohne Zweifel. Noch eins?« Moritz deutete auf das Bier.

»Hm. Nur wenn du noch Zeit hast und auch eins mittrinkst.«

»Sonst würde ich kaum fragen ...«

Mit den frisch befüllten Gläsern in der Hand steuerte Moritz auf den Wohnzimmertisch zu. Gringer hatte es sich inzwischen neben Magnus bequem gemacht und miaute.

»Wenn du magst, kannst du ihn kraulen. Der stirbt sonst vor Verzweiflung ...«, lachte Moritz und Magnus fing an, dem Kater vorsichtig über das Fell zu streichen. Das Miauen verstummte und Gringer fing leise an zu schnurren.

»Wenn ich das jetzt alles richtig zusammenfüge, war Victoria früher eure Chefin?«, fragte Magnus. Moritz grinste.

»Ja, das stimmt wohl. Elisabeth und ich haben beide in der Firma angefangen, als ihr Vater sie noch geführt hat. Hast du Wilhelm schon kennengelernt?«

»Nein. Morgen.«

»Ohne Victoria?«

»Sieht so aus ... Er hat mich vorhin angerufen und zum Abendessen eingeladen. Einer der Gründe, warum ich vorhin unbedingt vor die Tür wollte.«

»Mach dir mal keinen Kopf. Wilhelm ist im Prinzip eine Blaupause von Victoria. Er wird dich schon nicht fressen.«

»Das sagst du so ...«

»Im Ernst. Ich bin mir sicher, dass er dich einfach nur kennenlernen will. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dass Victoria nicht dabei ist. So ein Gespräch unter Männern hat ja manchmal was für sich.«

»Auch wieder wahr. Nur, jetzt mal unter uns, in unserem Männergespräch ...« Magnus zögerte.

»Schieß los ...«

»Mir behagt das alles irgendwie nicht. Nur damit wir uns richtig verstehen, in Relation zu dem, was ich über Victoria weiß und bisher hier in Eschberg und Düsseldorf erlebt und gesehen habe, komme ich aus sehr einfachen Verhältnissen. Und auf gut Deutsch gesagt, geht mir gerade echt die Flatter. Ich hab keinen Plan, wie ich neben einer Frau bestehen soll, die eine schwarze American Express besitzt und Angela Merkel für mich warten lässt.«

»Was, das hat sie echt getan? Cool.« Moritz lachte laut.

»Hat sie. Zwar nur am Telefon, aber sie meinte nur ganz trocken ›Ich ruf zurück.‹.«

»Und wieso hast du da jetzt noch Zweifel?«

»Das ist irgendwie nicht meine Welt. Wie gesagt, ich bin in einem bescheidenen Umfeld groß geworden, mein Studium kreditfinanziert. Und irgendwie von einer Misere in die nächste geschlittert, die Scheidung ist finanziell gerade relativ ungünstig, deswegen habe ich hier auch erst mal nur eine Mini-Wohnung Downtown genommen ...«

»Verstehe. Und davon weiß Victoria auch noch nichts!?«

»Nein. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn das auch erst mal so bliebe.«

»Kein Ding. Ich muss mich zwar zusammenreißen, das nicht Elisabeth zu erzählen, weil Victoria es sonst sofort weiß, aber ich denke, dass ich das vertreten kann.« Moritz dachte an seine eigene Situation und seinen Freund Markus, der ihn immer gedeckt hatte. Er nickte Magnus aufmunternd zu, der aber rollte nur mit den Augen.

 

»Mann, Mann, Mann ... Du steckst echt in der Klemme, was?«, seufzte Moritz.

»Gefühlt zumindest. Aber ich bin wirklich froh, dass du mich noch überredet hast, mitzukommen.«

»Weißt du, ich glaube, du solltest dich mal mit Elisabeth unterhalten. Die hatte am Anfang auch ein paar – nennen wir es mal – Akklimatisierungsschwierigkeiten. Ich meine das nicht despektierlich, auf keinen Fall. Ihr war halt auch nur das alles hier nicht sonderlich geheuer und ich hab es leider alles andere als gut verstanden, ihr das Schloss, die Holding und meine, beziehungsweise ihre Rolle, hier nahezubringen. Mein Vater hat großen Anteil daran, dass sie und ich glücklich miteinander sind. Geworden sind. Er hat sich übrigens auch ungebeten eingemischt. Und er ist ein Freund von Wilhelm.«

»Nachtigall ick hör dir trapsen ... Du meinst also, ich soll das alles auf mich zukommen lassen und wenn ich dann erst mal so weit involviert bin, dass ich einen Überblick habe, will ich auch gar nichts anderes mehr?«

»Wunderbar auf den Punkt gebracht.«

Mit dem letzten Rest Bier stießen sie an und ergingen sich in Schweigen. Gringer rieb seinen Kopf an Magnus‹ Hand und als es auf Mitternacht zuging, erlosch die Außenbeleuchtung.

Magnus richtete sich auf: »Ich werd dann mal langsam ...«

»Hey, ich hab gesagt, ich fahr dich, also fahr ich dich. War ja alkoholfrei.«

»Quatsch, bleib hier, ich lauf ...«

»Keine Widerrede. Ich krieg sonst obendrein Ärger mit Elisabeth. Und ganz ehrlich ... Mir ist egal wo und wie du wohnst, wenn du wüsstest, wie ich in meiner Studentenzeit gehaust habe ...«

»Wie meinen?«

»Erzähl ich dir Dienstag, nach dem Boxen.«

»Na dann ...«

Sie schlüpften in ihre Trainingsschuhe und Moritz schloss leise die Tür hinter ihnen. Mit wenigen Schritten waren sie halb um das Haus herumgelaufen und Moritz drückte auf die Fernbedienung von Elisabeths Jaguar.

»Nett«, entfuhr es Magnus. »F-Type R, V8, 550 PS?«

»Ich sehe, du bist im Bilde. Elisabeth trauert dem Wagen jetzt schon hinterher. Wenn die Kids erst mal da sind, wird sie ihn nur noch selten fahren können und bisher hat sie immer einen Riesenspaß damit gehabt. Haben wir immer einen Riesenspaß damit gehabt.«

»Glaub ich gern ...«

Sie stiegen ein, Moritz fuhr los.

»Ganz offen gesprochen: Ich sitze jetzt zum zweiten Mal innerhalb einer Woche in einem meiner Traumautos. Langsam kommt mir Eschberg vor, wie das Land in dem Milch und Honig fließen.«

»Ein bisschen ist es auch so ... Aber lass dich davon nicht überfahren. Wir kochen alle nur mit Wasser. Außer Elisabeth. Die hat noch irgendwelche Geheimzutaten, mit denen sie selbst unseren Sternekoch hin und wieder neidisch macht.«

»Okaaaayyy ...Ich lass das jetzt mal so stehen. Wenn du mir dann nur noch eine Sache verrätst: wer ist Frederik Stein?«

Donnerstag, 18.07.

Victoria schlug die Augen auf. Ein Luftloch. Sie hasste Turbulenzen. Es war zwei Uhr in der Nacht, MESZ. Dubai war zwei Stunden weiter. Wieder ein Luftloch. Die Anschnallzeichen leuchteten auf. Na, danke. Sie legte den Gurt um und brachte den Sitz in eine aufrechte Position.

Magnus. Wenn sie jetzt abstürzen würde – unwahrscheinlich, aber immerhin möglich, Elisabeths Mann war schließlich auch bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen – Magnus würde nie erfahren, dass sie ihn liebte. Ein Moment freier Fall. Ein Aufschrei ging durch die Kabine.

Sie kämpfte mit den Tränen. Sollte sie ihm eine Videobotschaft aufnehmen? Vielleicht würde man ihr Handy im Trümmerfeld finden und so könnte sie ihm wenigstens mitteilen, was ihr auf dem Herzen lag.

Ein Moment Ruhe.

Eine Minute Ruhe.

Victoria atmete durch und lachte über sich selbst. Sie würde bei ihrer Rückkehr dringend mit Peter Knoll, dem Therapeuten bei ECG, reden müssen.

Als sie planmäßig um 5.50 Uhr in Dubai landete und aus dem Flugzeug stieg, war sie ermattet und die Hitze, die ihr mit schon über 30 Grad entgegenschlug, machte ihr alsbald zu schaffen. Das kurze Stück bis in den Terminal legte sie schnellen Fußes zurück, sie hoffte, dass ihr Koffer zeitnah auf dem Band vorbeikommen würde und der Tag besser verlief, als er angefangen hatte. Noch allerdings war das Transportband nicht angeschaltet. Sie zückte ihr Handy. In Deutschland war es noch mitten in der Nacht, aber sie hatte versprochen sich zu melden.

💎 Guten Morgen, mein Herz. Bin gelandet und stehend k. o. – furchtbarer Flug. Warte auf meinen Koffer und denke an dich. Habe die ganze Zeit an dich gedacht ... 💋

Was sollte sie ihm auch mehr mitteilen? Zumindest für den Anfang gab es nichts zu erzählen. Das Kofferband begann zu rotieren und bereits nach den ersten Gepäckstücken sah sie ihren silbernen Alutrolley, hievte ihn herunter und zog den Griff aus.

Ihr Handy piepste.

🏎 Hobbi, ich warte vor der Ankunftshalle. Bis gleich. H.

Hakim. Ihr Herz raste. Victoria hatte sich noch keine Gedanken gemacht, wann und wie sie ihm erklären wollte, dass es tatsächlich endgültig aus war. Als sie durch den Zoll und die Ankunftshalle lief, fühlte sie sich wie in Watte gehüllt, nahm kaum Notiz von den Dingen um sich herum. Im Flugzeug hatte sie Radio gehört. Und wie auf Bestellung lief das Lied, das sie seit vorgestern automatisch mit Magnus verband. Chicago – You’re the inspiration. Ein Ohrwurm. Bis zu dem Moment, in dem sie Hakim draußen durch die Glastür erspähte. Sie öffnete sich und die angezeigten 34 Grad schlugen Victoria wieder entgegen. Hakim hatte sie gesehen und lief auf sie zu. Er nahm sie bei der Hand und drehte Victoria einmal um ihre eigene Achse, als wollte er mit ihr tanzen.

»Schön dich zu sehen ...« Ein breites Lächeln huschte über sein gebräuntes Gesicht.

»Hi ...« Sie lächelte müde und schüchtern zurück. Er winkte einen seiner Bodyguards heran, deutete auf den Koffer und blickte Victoria an. Sie standen sich gegenüber, er hielt ihre Hand, aber war einen Schritt zurückgegangen. Seine goldbraunen Augen musterten sie, er legte die Stirn in Falten.

»Hobbi, was ist mit dir passiert? Du hast dich verändert.«

»Nein, alles wie immer: gleiche Größe, gleiches Gewicht, nicht mehr oder weniger Stress, keine neue Frisur ...«

»Ich sehe es in deinen Augen, deinem Blick ...«

»Ich weiß nicht, was du meinst ...«, log sie. Und sie wusste, dass er ihr ansah, wenn sie log.

»Victoria, wer hat dein Herz geraubt? In deinem Blick liegt plötzlich etwas, das ich sehr lange nicht gesehen habe ...«

»Hakim, können wir das später besprechen? Der Flug war nicht gerade arm an Turbulenzen und ich würde liebend gern erst frühstücken.« Das fängt ja gut an.

»Verzeih, Hobbi. Das war unhöflich von mir. Natürlich.« Er küsste sie auf die Stirn und deutete auf den Wagen, vor dem sie standen. »Komm!«

»Moooment.« Sie hielt die Luft an. »Das ist ein McLaren P1 GTR. Das ist unmöglich ...« Der weiße Supersportwagen glänzte in der noch tief stehenden Sonne und zog einige Blicke auf sich.

»Doch. Wie du siehst.«

»Wow.«

Hakim hielt ihr den Schlüssel hin. »Möchtest du?«

»Später, ich bin so müde, ich setz den Wagen vor die Wand, bevor sich überhaupt eine auftut.«

»Schon gut. Spring rein, mal sehen, ob und wie wir die Jungs abgehängt bekommen.« Er wusste, dass seine Leibwächter notwendig waren, es gab in diesen Tagen zu viele Verrückte auf der Welt und leider auch hin und wieder in seiner Nähe. Aber es konnte nicht schaden, sie ein bisschen auf die Probe zu stellen. Er bog auf die Autobahn ab, beschleunigte.

Victorias Herz schlug bis zum Hals. Sie wurde förmlich in den Sitz gepresst und hielt die Luft an. Hakim lachte laut und rief: »Von Null auf Hundert in 2,8 Sekunden, Null auf Dreihundert in 16,5. Ist das was für dich, Hobbi?«

Victoria schrie nur noch, halb aus Spaß, halb aus Panik. Hakim fuhr wie ein Irrer. Sie zweifelte nicht daran, dass er den Wagen unter Kontrolle hatte, aber nach dem unangenehmen Flug war ihr eigentlich nicht nach einer Schleuderfahrt auf der Autobahn in einem Geschoss, das ihrer Meinung nach auf die Rennstrecke gehörte und nicht in den Straßenverkehr.

Hakim drosselte die Geschwindigkeit und blickte zu ihr hinüber. »Du bist sooo tapfer.«

Er sah, wie blass sie geworden war und lächelte sie aufmunternd an. Im Rückspiegel versuchte er, seine Leibwächter auszumachen, aber von ihnen war weit und breit keine Spur.

»Und du bist so ein Kindskopf!«

Er kicherte. »Hey, werd nicht frech!«

»Ich war immer frech und ich werde immer frech bleiben ...«, gab sie zynisch zurück.

»Hobbi, was ist nur mit dir passiert ...?« In seinem Blick lag Sorge.

»Später.«

Als sie vor den Toren des Palastes ankamen, schwangen diese wie von Geisterhand auf. Die Leibwächter hatten sie vor ein paar Kilometern eingeholt und fuhren hinter ihnen auf das Gelände. Vor Victorias innerem Auge flammten beim Anblick des Arabischen Golfs plötzlich die Erinnerungen an ihren letzten Besuch auf. Sie sah den blauen Himmel, die Palmen, das kristallklare Wasser, schmeckte mit einem Mal das Salz in der Luft, grünen Tee und Granatapfel. Hakim und sie hatten im Sonnenuntergang am Strand gesessen, waren einander ein letztes Mal näher gekommen.

Victoria schüttelte sich. Es war keine unangenehme Erinnerung, aber eindeutig vorbei. Von der Seite lächelte sie Hakim an, er wiegte den Kopf und schwieg. Er schwieg auch, als sie vor dem Palast hielten, er ihr beim Aussteigen behilflich war, seine Angestellten ihn und Victoria begrüßten, er schwieg, als sie durch die kühle Eingangshalle kamen, an den Marmorsäulen vorbeigingen, durch das Portal zum Atrium ins Freie schritten und sich an den Tisch setzten, der bereits für sie gedeckt war. Hakim schüttete ihr einen Kaffee ein und lehnte sich mit seiner Tasse im Stuhl zurück. Und er schwieg.

Erst, als Victoria ihr Croissant aufgegessen und den Joghurt ausgelöffelt hatte, beugte er sich wieder vor, nahm ihre Hand und sah ihr tief in die Augen.

»Hobbi, wer ist es?«

Nun war sie es, die sich zurücklehnte, dabei seine Hand langsam losließ und sich hinter der Kaffeetasse verschanzte.

»Weißt du ... Wenn ich das so einfach sagen könnte. Natürlich hat er einen Namen. Magnus ... Aber das ist nicht, was du meinst. Ich weiß.«

»Also?«

»Er hat mich verzaubert. Völlig in seinen Bann gezogen. War plötzlich da und hat restlos Besitz von mir ergriffen. Einfach so. Und das, ohne es irgendwie zu forcieren. Du würdest sagen: Erwischt!«

Hakim lachte. Obwohl ihm eigentlich nicht zum Lachen zumute war. Das Spiel war aus, er sah Victoria an, dass er sie verloren hatte. Doch er konnte nicht böse mit ihr sein, wie auch? Sie hatten es lose gehandhabt, sich gegenseitig Zeit und Raum gelassen und keinerlei Ansprüche aneinander gestellt. Er hatte ihr Ultimatum verstreichen lassen. Bewusst? Vielleicht. Ärgerte er sich? Nein. War er traurig? Ja.

»Erzähl mir mehr, Hobbi. Oder möchtest du, dass ich aufhöre, dich so zu nennen, Victoria?«

»Du hast mich fast zehn Jahre so genannt, mein eigener Name klingt aus deinem Mund so fremd ...« Ihr war es kalt den Rücken hinunter gelaufen, als er »Victoria« gesagt hatte. »Wenn es dir gefällt, nenn mich gern weiter so.«

»Nichts lieber als das, Hobbi. Magnus also. Klingt so ›groß‹, wenn ich mich an meine spärlichen Lateinkenntnisse erinnere.«

»Du erinnerst dich richtig. Und ja, er ist groß. Und großartig.«

»Du vermisst ihn jetzt schon, hab ich recht?«

»Ja, hast du.«

»Hobbi, warum so verschwiegen?«

»Was soll ich sagen? Ich kenne ihn seit Montag. Aber es ist, als wäre er schon ewig da. Wir sind uns noch nicht einmal wirklich nahegekommen bisher und trotzdem übt er diese wahnsinnige Anziehungskraft auf mich aus. Er ist so zurückhaltend und überlegt. Trotzdem weiß ich, dass ich ihm vertrauen kann und ...«

»Dass du ihn liebst?«

»Ja.«

Hakim erhob sich aus dem Stuhl, ging um den Tisch und kniete vor Victoria nieder.

»Hobbi, dann soll es so sein.« Er küsste ihre Hand und sah ihr tief in die Augen.

Gerührt stand sie auf, zog ihn am Arm zu sich hoch und lehnte sich an ihn.

 

Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie dort so gestanden hatten, als sie sich jedoch voneinander lösten, war es gut. Hakim küsste sie auf die Stirn und strich über ihre Arme. »Hobbi, ich will jetzt nicht unromantisch werden ...«

»Aber?«

»Zwei Sachen: Die eine ist, dass ich möchte, dass du weiterhin meine Geschäfte betreust. Die andere ist der Grund, warum ich dich so dringend herbestellt habe.«

»Ad eins: Wenn das für dich in Ordnung ist, gern. Auch wenn ich mir bis heute nicht erklären kann, warum du, mit einem MBA aus Oxford und extrem fähigen Beratern an deiner Seite das nicht selber machst. Ad zwei: Ich habe mir Sorgen gemacht, als du was von dringend sagtest. Was ist passiert?«

»Ad eins: Ich will keine fähigen Berater, ich will die Beste. Und vor allem will ich das Risiko nicht selber tragen.« Das saß. Und Hakim lachte. Victoria verstand. Und grinste.

Hakim fuhr fort. »Ad zwei: Die Behörden haben nachträglich versucht, mir eine Kartellstrafe aufzubürden; sie meinen, ich hätte bei der Firmenübernahme falsche Zahlen vorgelegt. Entweder ich zahle oder die Sache geht vor Gericht.«

»Wie viel?«

»In Euro? Dreihundert Millionen.«

»Hm.« Sie überlegte kurz. In Hakims Welt eine überschaubare Summe. Für sie ein guter Teil ihres Vermögens. »Du willst aus Prinzip nicht zahlen. Oder?«

»Exakt. Vor allem, weil ich weiß, woher der Wind weht.«

Hakim begann bei einer Tasse Apfeltee zu erzählen. In den Emiraten lief vieles über »Gebühren«, kleinere Deals, Handschlaggeschäfte und Beziehungen. Nichts, was Victoria dort fremd war, aber wie er andeutete, steckten in diesem Fall eine kleinere Verschwörung, gekränkte Eitelkeit eines anderen Scheichs und eine verzwickte Interessenlage dahinter. Auf einen Wink hin brachte einer der Diener ein Tablet an den Tisch, via Bluetooth übertrug Hakim eine Menge Dokumente auf Victorias und gemeinsam verschafften sie sich einen groben Überblick.

»Ich werde dir Hasan zur Seite stellen, er wird dir die Sachen übersetzen, wenn ich gerade nicht greifbar sein sollte.«

»Ja, bitte.« Victoria kannte Hasan von den früheren Besuchen, er war einer der jüngeren Brüder von Hakim, hatte ebenfalls in Deutschland studiert und war Head of Accounting and Controlling in dessen Konglomerat. Auch er hatte eine heimliche Liebe zu Currywurst entwickelt, als er damals in Bochum studierte. Wenn Hasan Hakim nach Deutschland begleitete, führte ihr erster Weg nach dem Passieren des Zolls direkt zum Würstchenstand. Beide sprachen akzentfrei Deutsch, Verdienst ihres deutschen Kindermädchens Maria, die ihnen die westliche Kultur nahegebracht hatte und einer der Gründe für die Auslandssemester der beiden jungen Männer gewesen war. Maria war schon lange im Ruhestand, nachdem sie auch einige Nichten und Neffen der Familie großgezogen hatte, aber Hakim und Hasan pflegten einen engen Kontakt zu ihr, sorgten dafür, dass es ihr an nichts mangelte und sie ihren Lebensabend im Orient genießen konnte.

Als die Sonne in den Zenit schritt, legten beide eine Pause ein. Vom Golf her wehte ein leichter Wind, aber das Thermometer war auf knapp 40 Grad geklettert. Victoria bezog ein Zimmer im Westflügel des Palastes, wie jedes Mal, wenn sie Hakim besuchte. Nur, dass er sie dort nicht mehr besuchen würde.

In Deutschland war es gerade neun Uhr, also telefonierte sie kurz mit David, nur um zu hören, ob alles in Ordnung sei. Ihrem Vater hatte sie auf der Fahrt vom Flughafen eine kurze Nachricht geschickt, er würde sich aber ohnehin erst dann Sorgen um sie machen, wenn sie sich länger als zwei Tage nicht meldete. Sie öffnete den Nachrichteneingang.

🎓 Guten Morgen ... Ich hoffe, du hast dich inzwischen ein bisschen erholt. Arbeite nicht zu viel – ich denk an dich. 😚

💎 Hey, mache gerade eine Pause. Hier sind 40 Grad und mir steckt der Flug noch in den Knochen ... Würde dich jetzt zu gern sehen ...

Magnus war online. Ihr Herz tat einen Sprung.

🎓 Hast du Skype?

💎 Ja ... Warum bin ich da nicht selber drauf gekommen?

Und schon kündigte sich der Videoanruf an. Auf dem kleinen Display lugte ein verschlafener Magnus, offenbar in seinem Amtszimmer, in schwarzer Robe und mit kleinen Augen in die Kamera.

»Hi ...«, quiekte sie vergnügt und strich über das Display.

»Hi ... Sag mal, streichelst du gerade dein Handy???«

»Ich gestehe. Ja.«

»O je, das fängt ja gut an.«

»Ich vermisse dich halt ... Schlimm?«

»Nein, ich vermisse dich doch auch ... Muss ich mir eigentlich Sorgen machen oder kommst du wieder auf die Beine?«

»Du meinst wegen der Reise? Das wird schon wieder. Heute Abend bin ich wahrscheinlich wieder fit. Der Flug war nur sehr turbulent und ich konnte kaum schlafen. Hakim und ich haben schon ein bisschen gearbeitet und ich werde mich gleich ein Stündchen hinlegen ...«

»Hakim? Der geheimnisvolle Scheich?«

»Scheich ja, geheimnisvoll nein.« Sie zog einen Schmollmund. »Werd mir bloß nicht eifersüchtig, mein Herz!«

»Gibt es einen Grund?«

»Nicht mehr.«

Magnus zwinkerte und warf ihr einen Kuss zu. Victoria schloss die Augen und küsste Richtung Kamera zurück. »Du fehlst mir ...«

»Und du mir erst ... Ich werde mich mit Arbeit ablenken und mit Sport. Gestern Abend hab ich beim Joggen übrigens Moritz getroffen.«

»Oh, und?«

»Wir haben noch einen Absacker getrunken und er hat mich dann nach Hause gefahren. Haben uns nett unterhalten.«

»Grüß die beiden bitte ganz lieb, wenn du sie siehst. Elisabeth hat uns übrigens, erst mal ohne Termin, zum Essen eingeladen, ich hab gestern noch mit ihr telefoniert.«

»Ah, klingt fein. Apropos Essen ...« Magnus druckste herum.

»Ja?«

»Dein Vater hat mich für heute Abend eingeladen.«

»Bitte wie?«

»Mhm.«

»Interessant. Wie kam das denn zustande?«

»Keine Ahnung. Ich kam gestern aus dem Gericht und er hat mich angerufen. Heute Abend um 18 Uhr holt mich jemand ab.«

»Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzt das Mäusevolk auf dem Tisch. Wenn ich den in die Finger kriege ...«

»Soll ich ihm absagen?«

»Nein. Nicht, wenn du nicht willst. Den Hals werde ich ihm so oder so umdrehen.«

»Ich würde ihn gern kennenlernen.«

»Dann mach das ruhig. Es gibt eigentlich auch keinen Grund, warum du das nicht solltest. Ich wäre nur gern dabei gewesen. Aber mein alter Herr denkt sich sicherlich was dabei. Wenn ich nur wüsste was ...«

Der Abschied kam abrupt. Irene Scharnweber erinnerte Magnus an seinen nächsten Termin. Essen. Sie hatte Käsekuchen gebacken und verteilte ihn nun in der »kleinen Donnerstagsrunde«. Das hatte sich so eingebürgert und Magnus wollte gern daran festhalten. Die Richter, die auf dem Flur ihre Amtszimmer hatten, kamen auf einen Kaffee um die Mittagszeit vorbei und man aß in munterer Runde ein Stück Kuchen, plauderte ungezwungen. Für Magnus eine gute Gelegenheit, die allesamt älteren Kolleginnen und Kollegen besser kennenzulernen und ein Gespür für die heimliche Hierarchie zu bekommen. Man war hier weit entfernt von einem Duktus wie bei ECG, sich mal eben so zu duzen war undenkbar. Der Gedanke an Victoria wiederum zauberte ihm das Schmunzeln ins Gesicht, das Irene Scharnweber an ihm so mochte.

Sie hatte sich in ihm verschätzt, gestand sie sich ein. In den ersten zwei Tagen hatte sie ihn tatsächlich als arrogant und unsympathisch empfunden. Den »Herrn Doktor«. Mit Walther Hoffmann war sie immer gut zurechtgekommen, ein höflicher Mann, still, aber freundlich. Sie waren ein eingespieltes Team, es bedurfte nicht vieler Worte und die Rädchen im Getriebe der Direktion liefen. Als Dr. Brandt aufgetaucht war, kam jedoch der Motor ins Stocken, er war ihr nicht ganz geheuer und was man so über ihn gehört hatte noch viel weniger. Unangepasst, unkonventionell, ungerührt. Irene Scharnweber hatte tatsächlich Angst gehabt, als sie am Montagmorgen in das Büro gekommen war. Und dann war ihr dieser dumme Fehler passiert, sie hatte ihn ausgesperrt, ihm den falschen Schlüssel ausgehändigt. Er kam nach der Angelegenheit mit seinem Auto, über die er sich schon so aufgeregt hatte, nicht mehr in das Gerichtsgebäude und sie war kurz ins Rathaus geeilt, um etwas zu erledigen. Als sie zurückgekehrt war, spürte sie, dass zwischen ihm und ihr die Chemie einfach nicht stimmte. Als sie ihn abends mit Victoria Berg bei Mutti sah, traute sie ihren Augen nicht. Was wollte dieses nette Mädchen mit so einem? Seine ungehaltene Reaktion vom Mittag verursachte ihr eine schlaflose Nacht. Am Dienstag hatte sie ihn darauf ansprechen wollen, allein: Ihr fehlte die Gelegenheit dazu. Abends, als sie die letzte Runde mit ihrer Labradorhündin Luisa beendet hatte, setzte sie sich auf die Couch und weinte bitterlich. Das Bild ihres verstorbenen Mannes in den Händen haltend, dachte sie an ihren Sohn.