Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde

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16

Während Walter sich um den Wäscheberg vor seiner Waschmaschine kümmerte, zog es Balu und Kitty nach draußen. Zwar dämmerte es bereits, doch die vielen Sonnenstunden sorgten dafür, dass es abends nicht mehr so schnell abkühlte. Sie entdeckten Seppi, der gerade einen dicken Regenwurm zwischen ein paar Schneeglöckchen herauszog. Der Wurm wusste, dass es um Leben und Tod ging, und kringelte sich in Todesangst trotzig um Seppis Nase. Balu verzog angeekelt die Lefzen.

„Das ist doch widerlich. Wie kannst du so was essen?“ Seppi streifte den Wurm geübt mit seiner rechten Vorderpfote von der Nase und hielt ihn damit fest, so dass er genussvoll auf dem anderen Ende herumkauen konnte. „Das ist ein Leckerbissen“, schmatzte er undeutlich, „die großen machen richtig satt. Viel Eiweiß!“ Kitty stupste den kleinen Igel mit ihrer Nase leicht unterhalb seiner Stacheln an. „Dann brauchst du das Katzenfutter also nicht mehr?“ Seppi verschluckte sich fast und blickte schuldbewusst zu der Katze auf. „Eigentlich brauche ich alles, was ich kriegen kann. Ich habe immer noch nicht genug auf den Rippen für die Paarungszeit. Die kommt ja bald und da muss ich fit sein.“ Kitty konnte und wollte sich nicht vorstellen wie die Paarung bei Igeln vor sich ging. Trotzdem war sie neugierig. „Wie macht ihr Igel das eigentlich bei der Paarung? Also, ich meine … wegen der ganzen Stacheln.“ Seppi hörte für einen kurzen Moment auf zu kauen und sah Kitty mit seinen Knopfaugen schelmisch an. Dann legte er einen Hauch Erotik in seine Stimme und säuselte: „Wie wir das machen? Na … gaaaaaanz vorsichtig!!!“ Alle drei brachen in lautes Gelächter aus und Seppi verlor das letzte Stück des Wurms, das schwach zuckend vor ihm im Gras liegen blieb. Der Igel beruhigte sich als erster. „Was macht ihr denn heute Abend?“ Balu wusste das selbst noch nicht genau. „Wenn mich nicht alles täuscht, gehen wir später noch zur Goschamarie. Walter hat zwar nichts gesagt, aber die Lederhose hängt am Schrank – eigentlich ein untrügliches Zeichen.“ Im selben Moment trat Walter auf die Terrasse und rief nach seinem Wolfsspitz. Balu reagierte sofort und verabschiedete sich im Rennen flüchtig von dem kleinen Igel, der bereits den nächsten Wurm am Kragen hatte. Walter klopfte seinem Hund auf die Flanke und streichelte einmal kurz über Kittys Fell. „Dann sind wir ja komplett. Kommt mit ihr zwei. Heute haben wir bei der Goschamarie eine ganz besondere Mission.“ Auf dem kurzen Weg zur Goschamarie erzählte Walter den Tieren, was er mit seinen neuen Freunden auf dem Markt besprochen und vereinbart hatte. Eigentlich erzählte Walter es sich selbst, aber die Tiere hörten aufmerksam zu. Balu war besorgt. „Was denkt er sich denn dabei? Glaubt er das sei ein nettes kleines Abenteuer und am Ende ist er der große Held? Was da alles passieren kann!“ Kitty verstand die Besorgnis ihres Freundes und streifte beruhigend seine Flanke. „Darum ist es umso wichtiger, dass wir auf ihn aufpassen. Auch wir halten unsere Augen und Ohren offen und wenn es eng wird, sind wir zur Stelle!“

Obwohl es Samstag war, standen auf dem Parkplatz vor der Goschamarie nur wenige Autos. Walter war enttäuscht, denn dann war auch die Wahrscheinlichkeit gering, die Leute zu treffen, auf die er gehofft hatte. Als er die Gaststube betrat, war er überrascht, wie gut die Tische trotzdem belegt waren. Offensichtlich waren viele der Gäste zu Fuß gekommen. Am Stammtisch waren noch viele Stühle frei. Peter saß alleine vor seinem Vesper und zwei Flaschen Bier.

„Ja Walter! Kommst du jetzt jeden Abend her? Aber das passt gut. Siehst ja: von den anderen hat’s noch keiner geschafft.“

Walter hängte seine Jacke auf und setzte sich auf seinen Platz, während Balu und Kitty es sich unter der Bank gemütlich machten. „Ach, bei dem schönen Wetter wollt ich einfach nicht zu Hause rumsitzen. Außerdem muss ich noch was für meine Figur tun!“ Walter lachte und streichelte über seinen Bauch.

Marie kam aus der Küche und stellte zwei Vesperteller am Nachbartisch ab. „Ja Walter. Scho wieder do? Hosch a Sehnsucht kett noch mer, hä? Oder ischs blos der Hunger?“

Walter grinste die Wirtin schelmisch an und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. „Die Sehnsucht natürlich, die Sehnsucht nach dir, Marie! Aber ein Vesper nehme ich trotzdem!“

Marie streifte seine Hand ab und stemmte die Arme in die Hüfte. „Ha! Verarscha ka i mi selber, Freindle! Kennt ja dei Mutter sei. Aber d’Mama lueget nach ihre Kind … und drum bring i dir glei dei Veschper!“ Marie klang bei diesen Worten recht streng und nur wer sie gut kannte, konnte um ihren Mund den Ansatz eines Lächelns entdecken.

Walter versuchte unauffällig an die anderen Tische zu schauen. Hinten im Eck saß s’Dieterle und baute aus Bierdeckeln ein Kartenhaus, das just in diesem Moment zusammenbrach. Daneben saßen vier Männer, die Walter nicht kannte, schweigend vor ihrem Bier. Dahinter ein älteres Ehepaar aus Taldorf beim Abendessen und gegenüber zwei Landwirte aus der Umgebung. Einer davon, Georg, war einer der Kartenspieler gewesen, als der Pfarrer den Streit mit Josef hatte. Walter kannte ihn eher beiläufig, aber doch gut genug um „hallo“ zu sagen. Er entschuldigte sich bei Peter, der gerade mit seinem Rauchfleisch kämpfte, und setzte sich an den Tisch der beiden.

„Hallo Georg! Was ist los bei euch? Heute keine Skatrunde?“ Die beiden schienen nicht sonderlich überrascht über Walters Besuch, wenn doch, dann zeigten sie es nicht.

„Geht nicht zu zweit. Kannst du Skat, Walter?“ Walter konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Karten gespielt hatte. Zwar glaubte er sich zu erinnern, wie das Reizen funktionierte, aber mehr auch nicht.

„Ach, das wird glaub ich nichts. Hab’s schon seit Jahren nicht mehr probiert. Aber wo sind denn eure Skatbrüder?“, lenkte Walter das Gespräch in die beabsichtigte Richtung. Georg zuckte müde mit den Schultern und spielte am Etikett seiner Bierflasche, das sich schon halb gelöst hatte.

„Wir sind ja nur noch zu dritt, seit letztes Jahr der Renn Willy gestorben ist. Der Anton, der sonst manchmal einspringt, ist krank, und Josef hat sich schon seit zwei Wochen nicht mehr blicken lassen.“

Damit hatte Walter gerechnet. „Ach, seit dem Streit mit dem Pfarrer?“

Georg überlegte kurz und schüttelte den Kopf. „Weiß nicht, ob es daran lag. Wohl eher nicht. War ja auch nichts Wichtiges. Hat wahrscheinlich gerade viel auf dem Hof zu tun. Mitte März, da geht es dagegen.“

Walter hatte Angst weiter nachzufragen ohne allzu neugierig zu wirken und schaute gespielt gleichgültig zum Stammtisch, an dem Peter immer noch allein sein Vesper aß. Als er gerade aufstehen und sich verabschieden wollte, hielt Georg ihn mit einer Hand am Arm zurück.

„Die hatten ja keinen Streit. Pfarrer Sailer hat Josef nur gesagt, er solle auf seine Gesundheit achten und mal wieder zum Arzt gehen. Er hätte in irgendwelchen alten Unterlagen etwas gefunden, was darauf hindeutet, dass es in seiner Familie eine Krankheit gibt, die sich weiter vererbt. Und da ist der Josef sauer geworden – jeder weiß doch, wie ungern der zum Arzt geht. Und das war’s dann auch schon. Josef ist aufgestanden und gegangen. Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.“

„Ach, so genau hab ich’s gar nicht wissen wollen“, log Walter, aber er konnte Georg ansehen, dass er ihm das nicht abnahm. „Ich muss dann auch mal wieder rüber. Der Peter sitzt da ganz allein. Wollte ja eh nur kurz hallo sagen.“

Walter merkte selbst, wie blöd sich das anhörte, stand aber auf und ging zurück zum Stammtisch. Er drehte sich nicht mehr um, da er befürchtete Georg müsste ihm seine kleine Flunkerei im Gesicht ansehen. Er glaubte nicht, wie seine Mutter früher immer gesagt hatte, dass beim Lügen seine Nase länger wurde, aber er spürte die Hitze in seinen Wangen, als das Blut in sein Gesicht stieg.

„Geht’s dir nicht gut Walter?“, fragte Peter als er sich auf seinen Stuhl fallen ließ. „Bist ganz rot im Gesicht und schwitzt ja richtig.“

Walter wollte irgendetwas Sinnvolles antworten, fand aber nichts, was irgendwie glaubhaft geklungen hätte. In diesem Moment kam Marie zum Stammtisch und rettete ihn aus dieser Zwickmühle.

„Dei Bier und dei Veschper. Loss dir schmecka, Walter!“ Ohne ein Wort setzte Walter die Flasche Bier an den Mund und trank sie, ohne abzusetzen, halb leer. Das Glühen auf seinen Wangen ließ etwas nach und sofort spürte er die entspannende Wirkung des Alkohols. Mit einem befreiten Seufzer lehnte er sich zurück, griff dann nach dem Besteck und machte sich über sein Vesper her.

„Das war so ziemlich das Plumpeste, was ich je gesehen habe!“, lästerte Kitty mit einem leichten Kopfschütteln. „Wenn er so weiter macht, wird er unsere Hilfe schon bald dringend brauchen!“ Auch Balu hatte plötzlich ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache, bemühte sich aber nicht allzu besorgt zu klingen. „Vielleicht lernt er ja noch dazu? Von Georg hat er auf jeden Fall nichts zu befürchten. Der hat nichts damit zu tun. Das spüre ich.“ Kitty nickte. Sie hatte Georg die ganze Zeit beobachtet und war mit Balu einer Meinung. „Aber irgendwer HAT damit zu tun und der wird nicht so ruhig bleiben.“

17

Als Walter am Sonntag aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er hatte gestern mehr Bier getrunken als sonst, und auch um den abschließenden Schnaps war er nicht herumgekommen. Zwar war er um kurz nach zehn zu Hause gewesen, doch die Menge Alkohol forderte jetzt ihren Tribut. Er hasste dieses Gefühl, den halben Tag verschlafen zu haben, und spürte, dass der Alkohol ihn noch immer lähmte. Für den Frühschoppen war es zu spät und er hätte ihm vermutlich auch nicht gut getan. In der Küche wartete Balu schon winselnd an der Tür und stürmte nach draußen, als Walter sie öffnete. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Den Detektiv spielen zu wollen. Gerade er. Jeder Idiot musste gestern gemerkt haben, dass er Georg nur hatte ausfragen wollen. Nach Josef. Doch er hatte tatsächlich etwas erfahren. Hatte er sich vielleicht doch nicht so blöd angestellt? Walter schüttelte den Kopf und sortierte seine Gedanken. Er holte das kleine Notizbuch und versuchte, sich so genau wie möglich an das Gespräch mit Georg zu erinnern, aber immer wieder wurde er unsicher wie es wirklich gewesen war. Er pfefferte das Notizbuch unbenutzt auf die Küchenanrichte und setzte Kaffeewasser auf. Bevor er nicht klar denken konnte, würde er damit nicht weiter kommen und eine Tasse Kaffee schien ihm erst mal die beste Hilfe zu sein. Er füllte gerade das Pulver in die Kanne, als es an der Tür klingelte. Walter bekam zu Hause nur selten Besuch. Nicht weil er keine Freunde hatte - im Gegenteil: es gab viele Menschen in seinem Leben, die er schätzte und denen er vertraute und einige davon waren richtig gute Freunde. Aber man besuchte sich nur selten, meist traf man sich irgendwo, häufig natürlich bei der Goschamarie. Er konnte sich nicht vorstellen, wer an einem späten Sonntagvormittag bei ihm klingelte. Als er die Tür öffnete, blieb sein Gehirn in einer Art Leerlauf stecken. Hatte er bisher gedacht, dieser Tag konnte nicht viel schlimmer werden, so wurde er nun eines besseren belehrt.

 

„Na, mein Freund, um die Uhrzeit noch im Bademantel unterwegs? Da lässt sich einer aber ganz schön gehen!“ Eugen Heesterkamp sprühte geradezu vor guter Laune und schob sich ungefragt an Walter vorbei. Er ließ eine gigantische Einkaufstüte mit Werbeaufdruck auf den Küchentisch fallen und baute sich mit einem breiten Verkäuferlächeln daneben auf.

„Das, mein lieber Walter, ist der Start in ihr neues Leben!“ Walter schaute Eugen verständnislos an, sah zum Tisch mit der Tüte, dann wieder zu Eugen.

„Ich … ich … also ich weiß nicht, was …“, stammelte Walter und hob dabei unbeholfen die Arme.

„Natürlich wissen sie nicht, was das ist. Das ist ja auch eine Überraschung.“ Freudestrahlend griff Eugen in die Tüte und holte einen Karton heraus. Einen Schuhkarton. Er platzierte ihn bedeutungsvoll neben der Tüte.

„Wir hatten uns doch neulich darüber unterhalten, wie wir sie … na sagen wir mal, wieder ein bisschen in Schwung bringen. Ich habe gleich gemerkt, dass sie nicht der Typ sind, der sofort die Initiative ergreift und habe daher selbst das Zepter in die Hand genommen.“ Eugen trat hinter den Tisch und hob mit nur zwei Fingern jeder Hand behutsam den Deckel des Schuhkartons an.

„Das … sind … ihre … neuen … … … LAUFSCHUHE!!!“ Das letzte Wort hatte Eugen herausgeschrien, wie der Ansager der Profiboxkämpfe im Fernsehen, und Walter war erschrocken zwei Schritte zurückgewichen. Jetzt starrte er auf ein Paar neongrüne Plastikschuhe, während seine Nase den starken Geruch purer Chemie wahrnahm. Walter hasste Schuhe aus Kunststoff. Doch Box-Ansager Heesterkamp war noch nicht fertig.

„Zu den neuen Schuhen gehört … natürlich … auch … eine … richtige … … … LAUFHOSE!!!“ Bei diesen Worten zog er ein kleines Knäuel Stoff aus der Tüte und ließ es voller Stolz zwischen zwei Fingern schlaff herabbaumeln. Walter kniff die Augen zusammen um das kleine Fetzchen besser sehen zu können. Wie um Himmels willen sollte er da hinein passen? Der Anblick erinnerte Walter eher an ein gebrauchtes Kondom als an eine Hose. Doch Eugen war in Hochform, legte die Hose auf den Schuhkarton und griff ein letztes Mal in die Einkaufstüte.

„Und zum Schluss … noch … ein … topmodisches … … … LAUFSHIRT!!!“ Wieder riss er den Arm in die Höhe und präsentierte erneut einen Stofffetzen, der zwar etwas größer zu sein schien als die Hose, aber immer noch weit von dem entfernt war, was Walter im Schrank hängen hatte. Eugen, der zweifelsohne Konfettiregen und Dankesreden erwartet hatte, bemerkte Walters skeptischen Blick. „Was ist denn, Walter? Gefallen ihnen die Sachen nicht?“

Walters Mutter hatte ihm schon von Kindesbeinen an eingebläut, dass man immer die Wahrheit sagen muss. Doch das ging hier nicht, denn Walter hatte keine passenden Worte hierfür. Er war einfach nur entsetzt. Er entschied sich für ein Hintertürchen.

„Das … ähm … das ist mir, glaube ich, alles zu klein. Viel zu klein! Bis auf die Schuhe. Die könnten passen.“ Eugen erkannte Walters Ahnungslosigkeit und legte ihm jovial die Hand auf die Schulter.

„Aber nicht doch. Die Hose und das Shirt sind aus ultramodernem Stretch-Stoff. Die passen sich ihrem Körper an und betonen ihre Linie … oder ihre Kurven. Wollen sie nicht mal reinschlüpfen?“

Nie im Leben würde Walter vor Eugen eine Stretch-Stoff-Modenschau hinlegen, er würde diese seltsamen Dinger überhaupt niemals anziehen. Jetzt sah er nur noch einen Ausweg.

„Das ist ja sehr nett von ihnen, Eugen, aber das ist doch alles so neumodisch teuer. Das kann ich mir beim besten Willen nicht leisten!“

Wieder lächelte Eugen überheblich, schlug aber einen versöhnlichen Ton an.

„Das dachte ich mir schon. Aber wie es der Zufall wollte, hatte ich noch einen Gutschein für Sport-Discount-24-de übrig. Bei denen kaufe ich persönlich natürlich nicht ein, aber für den Einstieg ist das genau die richtige Ausrüstung. Kostet fast nichts, nur die Versandkosten, und die schenke ich ihnen!“ Eugen verstummte und blickte Walter erwartungsvoll mit großen Augen an.

Musste er jetzt etwas sagen? Wahrscheinlich ja. Vielleicht etwas Nettes? Ja, etwas Nettes – aber nicht zu nett. Walter überlegte, legte den Kopf leicht schräg, rieb sich mit der Hand am Kinn und schob die Unterlippe nach vorne.

„Hmmm …“, brummte er. Eugen hing noch immer an seinen Lippen. „Hmmm … ja … schön.“

Der Wasserkessel auf dem Herd begann zu pfeifen und Walter dankte Gott für diese Ablenkung.

„Das ist ja prima! Kommen sie Eugen, als kleines Vergelts-Gott spendiere ich einen Kaffee!“

Während Walter den Kaffee einschenkte, sagte Eugen kein Wort. Er schob seine Geschenke etwas zur Seite um Platz für die Kaffeetassen zu machen.

„Es gefällt ihnen nicht.“

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Walter sah die Enttäuschung in Eugens Blick und hatte tatsächlich Mitleid.

„Es ist halt so, dass ich solche Sachen noch nie anprobiert habe“, erklärte Walter. „Aber ich werde sie natürlich ausprobieren und dann sag ich ihnen Bescheid, wie es war. Aber nicht heute. Ich habe heute noch … ähm … zu tun. Ja, etwas Wichtiges.“

Eugen schien mit dieser Erklärung für den Moment zufrieden zu sein und rührte gedankenverloren in seiner Tasse.

In der noch immer geöffneten Küchentür tauchte Balu auf und verzog angewidert die Lefzen.

„Boah – was stinkt denn hier nach Chemieabfällen?“

Eugen interpretierte Balus Grunzen als Begrüßung und tätschelte dem Wolfsspitz die haarige Flanke. Doch schon nach dem zweiten Klopfer zog er seine Hand erschreckt zurück und hielt sie angeekelt von sich gestreckt.

„Was ist denn mit dem Hund los? Total nass und dreckig!“

„Gewälzt!“, sagte Balu.

„Er hat sich gewälzt“, sagte Walter. „Dafür darf er jetzt unter die Dusche.“

Balu wusste, dass er da nicht drumrum kommen würde, nur hatte er einfach nicht widerstehen können, sich in der feuchten Wiese zu wälzen und seinen Geruch unauslöschlich in den Boden zu übertragen. Außerdem hatte es sich wundervoll angefühlt.

Eugen wusch sich die Hand am Waschbecken, bevor er seinen Kaffee in einem Zug leer trank, und sich von Walter verabschiedete. „Probieren sie die Sachen an. Sie werden es nicht bereuen!“

Walter war da anderer Meinung, lächelte aber trotzdem und winkte Eugen noch nach, als dieser den Heimweg antrat.

Das war gerade noch mal gut gegangen. Aber er wusste, dass Eugen in dieser Sache keine Ruhe geben würde.

Walter schloss die Eingangstür und machte sich auf die Suche nach Balu, der sich natürlich versteckt hatte, um der angekündigten Dusche vielleicht doch noch irgendwie zu entgehen.

18

Josef war an diesem Sonntag nicht in der Kirche gewesen. Auch nicht beim anschließenden Frühschoppen bei der Goschamarie. Er hatte die Tiere gefüttert und dann ausgiebig gemistet. Seit Pfarrer Sailers Tot war er nicht mehr in Taldorf gewesen. Wenn er sich unter Leute begab, hatte er einfach ein schlechtes Gefühl, wegen der Auseinandersetzung, die er mit dem Pfarrer gehabt hatte. Er fühlte die verstohlenen Blicke der Anderen und meinte sie hinter seinem Rücken flüstern zu hören. Aber warum? Der Pfarrer war an einem Herzinfarkt gestorben. Das wusste mittlerweile jeder. Machten sie ihn dafür verantwortlich, weil er Streit mit ihm gehabt hatte? Dabei war es nicht mal ein richtiger Streit gewesen. Der Pfarrer hatte das, was er gesagt hatte, gut gemeint, doch konnte er nicht wissen, dass er damit an etwas rührte, das Josef seit vielen Jahren verdrängte. Plötzlich wieder daran erinnert zu werden, hatte heftige Gefühle in ihm geweckt, und er war davongelaufen. Wie ein Schuldiger. War er denn schuldig? Josef fühlte sich schuldig, das war sein Problem.

Er fuhr den letzten Hänger Mist auf den Haufen und hängte ihn ab. Der Traktor tuckerte derweil monoton im Leerlauf weiter. Josef öffnete die große Garage, die gleichzeitig auch seine Werkstatt war, und fuhr den Deutz auf seinen Parkplatz. Zur Kontrolle lief er um den Traktor herum und fluchte, als er die Tropfen sah, die aus der Fronthydraulik herausdrückten und auf dem gefliesten Boden eine schimmernde Lache bildeten. In einer Ecke der Werkstatt bewahrte er alte Planen auf, die er durchwühlte, um eine zu finden, die nicht allzu viele Löcher hatte. Eine sah ganz gut aus, fühlte sich aber schwerer an als die anderen, als wäre etwas darin eingewickelt. Er zog sie heraus und entfaltete sie auf der Werkbank. Vor ihm lagen alte, in Leder gebundene Bücher. Wer hatte die hier versteckt? Er schlug das oberste auf und überflog ein paar Seiten, ohne wirklich etwas entziffern zu können. Diese alte Handschrift war schwer zu lesen, da er seine Lesebrille nicht dabei hatte sogar fast unmöglich. Josef ahnte, dass dies die Bücher waren, von denen Pfarrer Sailer gesprochen hatte. Doch wie kamen die hierher? Hatte seine Frau sie mitgebracht? Und wenn ja: warum? Er klappte das Buch zu und wickelte es, zusammen mit den anderen, wieder in die Plane, und legte sie dahin zurück, wo er sie gefunden hatte. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Bücher einfach in den Müll zu werfen, doch es schien ihm nicht richtig. Er musste mit irgendwem über diese ganze Geschichte reden. Er schlug sich mit Schuldgefühlen herum, die – seiner Meinung nach – völlig unberechtigt waren. Aber wem sollte er sich anvertrauen? Seine Frau Annemarie war dafür leider nicht die Richtige. Er liebte sie – natürlich – doch sie war in all den Jahren niemals seine Vertraute gewesen, nur seine Angetraute. Sie hatte sich um Haus und Herd gekümmert, die Kinder versorgt und die Einkäufe getätigt, während er den Hof am Laufen hielt. Sie ergänzten sich in ihrer Art und in ihren Aufgaben und waren so die perfekten Partner. Sie schliefen sogar noch regelmäßig miteinander, was nicht selbstverständlich war, wenn man dem Getratsche der anderen Männer bei der Goschamarie glauben wollte. Dennoch war sie nicht die Person, der er sich anvertrauen wollte.

Als er über den Hof zum Wohnhaus ging grübelte er noch immer, und stellte dabei traurig fest, wie wenig echte Freunde er hatte. Eigentlich hatte er gar keine. Der, der einem Freund am nächsten kam war Georg, aber er war sich nicht sicher, ob er mit ihm offen würde reden können. Er beschloss das Schicksal entscheiden zu lassen: wenn Georg an diesem Abend bei der Goschamarie auftauchte, würde er ihn um ein Treffen unter vier Augen bitten, wenn nicht … dann eben nicht.

In dem Moment als er die Haustür aufschloss, schoss eine winzige Spitzmaus unter dem Stiefelzieher hervor und versuchte in den Hausflur zu flitzen. Ohne darüber nachzudenken, beendete Josef mit einem Tritt seines rechten Stiefels, alle Zukunftspläne des kleinen Nagers.

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