Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde

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13

Walter verschlug es die Sprache. Wie in Gottes Namen hätte Pfarrer Sailer fünfundzwanzig Tassen Kaffee trinken sollen? Er wusste doch, dass so viel Koffein für sein angeschlagenes Herz nicht gut war. Manni sah, wie die Gedanken in Walters Kopf kreisten.

„Ja, so ging es mir auch“, bestätigte er Walters Grübeln. „Ich hab dann mal nachgefragt, ob das denn nicht auf Fremdeinwirkung hindeutet, aber sie meinten nein. Das käme schon mal vor.“

Walter hatte gar nicht recht hingehört und musste nachfragen. „Fremdeinwirkung? Was soll das denn sein?“ Manni rutschte noch etwas näher und erklärte in verschwörerischem Flüsterton:

„Na, Fremdeinwirkung halt. Jemand anders war dran schuld. Jetzt stell dich nicht so blöd! Ich mein, vielleicht hat ja jemand Pfarrer Sailer das Zeug irgendwie untergejubelt und damit den Herzinfarkt ausgelöst!“

Walter begriff immer noch nicht. „Aber wenn ihm das jemand anders absichtlich angetan hätte, dann wäre das ja … also, ja … äh … das wäre … Mord?“ Das letzte Wort war Walter deutlich lauter über die Lippen gekommen als beabsichtig und Manni legte sofort einen Finger auf die Lippen.

„Pscht! Das muss ja nicht jeder mitkriegen!“ Besorgt schaute er sich um, doch alle Gäste in der Nähe waren in Gespräche vertieft und hatten nichts mit bekommen. Ohnehin war der Lärmpegel so hoch, dass man Arien hätte furzen können ohne aufzufallen.

„Ich dachte mir, vielleicht weiß einer von euch hier irgendwas. Hatte der Pfarrer Feinde? Hatte er Probleme? War er in irgendwas verwickelt? Fällt dir irgendwas ein?“

Walters Gedanken schwirrten in seinem Kopf wie ein Schwarm Bienen. Die neue Sicht auf Pfarrer Sailers Tod überforderte ihn. Er hatte das Gesicht des Mannes vor Augen, wie er lächelnd auf der Kanzel stand und seinen Segen gab. Er erinnerte sich an so viele Begebenheiten, bei denen er in der Gemeinde geholfen hatte oder einfach auch nur gesellig mit am Stammtisch gesessen hatte. Niemand konnte ernsthaft seinen Tod gewollt haben.

„Nein, da fällt mir nichts ein. Er war mit Sicherheit einer der beliebtesten Menschen in der Gemeinde.“

Manni schüttelte resigniert den Kopf. „Das dachte ich mir schon, aber irgendwie glaube ich nicht an einen einfachen Herzinfarkt.“

Walter war überrascht. „Gibt es denn keine weitere Untersuchung? Ermittlungen oder so?“

„Nein. Wie gesagt, die halten den Koffeinwert für nicht so wichtig. Der Pfarrer hätte das ja auch selber hinbekommen können. Mit viel Kaffee oder mehreren von diesen neumodischen Energydrinks. Außerdem kommt es wohl bei Menschen in seinem Alter gern mal zu irgendwelchen unnormalen Werten. Da spielt der Körper hin und wieder verrückt. Hinzu kommt, dass er schon einen schweren Infarkt hatte und deshalb schon angeschlagen war. Und wenn wir ehrlich sind, Walter, ist das auch das Wahrscheinlichste. Es gibt ja nicht das geringste Motiv und das ist das eigentlich Wichtige. Jeder mochte ihn, keine Streitereien oder irgendwas … kann sein, ich verrenne mich da in irgendwas, aber ich habe mit ein paar Kollegen darüber geredet und die waren auch skeptisch.“

Manni lehnte sich zurück und leerte sein Bier. Walters Gefühle gingen in zwei Richtungen. Zum einen war er schockiert über Mannis Idee, jemand könnte Pfarrer Sailer ermordet haben, zum anderen war er erleichtert, dass dem wohl nicht so war. Kein Motiv. Nur ein erhöhter Wert. Also ist an allem nichts dran?

„Was sind denn das für Kollegen mit denen du darüber geredet hast?“

Manni überlegte kurz. „Wir sind Freunde, treffen uns immer mal auf einen Kaffee oder ein Bier. Hans da hinten“, Manni zeigte auf seinen Kollegen, „gehört auch dazu. Einer von der Kripo ist dabei und auch ein Mädel aus der Pathologie. Eigentlich eine buntgewürfelte Truppe. Wir treffen uns, weil wir unseren Job mögen und auch gerne darüber reden, aber das kannst du ja mit den meisten Leuten nicht. Und da kam uns die Idee, ob wir nicht selber ein bisschen ermitteln sollen. Ist ja das, was wir gelernt haben. Nur kennen wir niemanden von hier … außer dir. Könntest du dir vorstellen bei uns mitzumachen?“

Manni sah Walters überraschtes Gesicht und ruderte sofort zurück. „Ich weiß, das klingt verrückt, aber denk doch einfach mal drüber nach. Schlaf eine Nacht drüber und dann triff dich mit uns. Wir sind samstags immer auf dem Markt an Francescos Kaffeewagen. Wird dir gefallen!“ Manni trank seinen letzten Schluck Bier.

„So Walter“, raffte er sich auf, „ich geh noch zu Marie bezahlen und dann fahre ich heim. Der Kollege will auch nach Hause.“

Als hätte Marie seine Absicht erraten, stand sie plötzlich neben ihm und er beglich die Rechnung für sich und seinen Kollegen. „Jeder muss bloß oi Bier zahla. S’andre gaht aufs Haus. Aber sinder mir blos vorsichtig am Hoim fahra – it dass r blosa missat und d’Deckel isch futt!!“

Alle, die in der Nähe saßen, lachten herzhaft und verabschiedeten die zwei Ordnungshüter lautstark. Manni machte kurz vor der Tür kehrt und kam noch einmal zurück.

„Ich verlasse mich auf dich! Bis morgen!“ Manni klopfte Walter freundschaftlich auf die Schulter und verließ die Gaststube.

Walter schaute sich nach seinen Freunden um. Da Max sich immer noch mit der Blonden unterhielt (die jetzt, dank der vier Bier die Max getrunken hatte, fast gar nichts mehr verstand) und Elmar friedlich auf dem Tisch schlief, beglich Walter seine Rechnung und machte sich mit Balu auf den Heimweg. Ja, er würde morgen früh auf den Ravensburger Markt gehen.

14

Walter war um kurz nach sieben aufgewacht und nach einer Tasse Kaffee mit seinem altersschwachen Peugeot 205 nach Ravensburg gefahren. Balu hatte er, mit dem Auftrag das Haus zu bewachen, in der Küche zurück gelassen. Zu seinem großen Ärger war das Parkhaus am Marienplatz schon belegt gewesen und er hatte ins Bahnstadt Parkhaus ausweichen müssen. Nach einem zehnminütigen Spaziergang trippelte er jetzt aber doch im Strom der Menschenmassen zwischen den Ständen hindurch. Der Markt in Ravensburg war immer gut besucht. Sogar bei schlechtem Wetter. An einem sonnigen Frühlingssamstag wie diesem waren die schmalen Gassen gefüllt wie ein Fußballstadion beim Endspiel. Es waren an die hundert Händler, die ihre Stände in der Marktstraße und am Gespinstmarkt aufgebaut hatten. Walter ließ sich einfach mit der Masse treiben und bewunderte die Auslagen auf den Tischen. Obst und Gemüse dominierten eindeutig, und Walter fragte sich, wie das alles schon jetzt aus der Region kommen konnte. Mehrere Verkaufswagen mit Spezialitäten aus Italien und Griechenland lockten ihre Kundschaft mit dem Duft von Knoblauch und Olivenöl an. An einer Stelle stockte der Strom, da sich vor einer Gruppe peruanischer Musikanten eine kleine Traube gebildet hatte. Mit Felltrommeln, Gitarren und einer Panflöte gaben die sechs Männer in ihren bunten Ponchos mit riesigen Strohhüten auf dem Kopf ihr Bestes und hofften im Gegenzug auf eine kleine Spende. Gerade spielten sie „Der einsame Hirte“ auf der Panflöte und die meisten Zuhörer glaubten, es handele sich um ein peruanisches Volkslied. Tatsächlich war es ein Klassiker von James Last aus dem Jahr 1977. Walter mochte diese Art von Kapellen nicht. Inkas gehörten nicht auf den Ravensburger Markt. Er selbst hatte früher Posaune gespielt und fragte sich, wie wohl die Peruaner reagieren würden, würde er sich vor eine ihrer Maja-Pyramiden setzen und den Defiliermarsch blasen. Bei dem Gedanken musste er grinsen.

Ein paar Meter weiter stieg ihm der Duft von frischem Kaffee in die Nase und zeigte ihm, dass sein Ziel nicht mehr weit war. Francescos Kaffeestand. Sein Besitzer: Francesco, ein herzlicher, über die Jahre etwas rund gewordener Barista aus Süditalien. Mit seiner fahrenden Kaffeebar war er vom Ravensburger Markt nicht wegzudenken. Er hatte auf der Ladefläche seines roten italienischen Dreirads eine professionelle Kaffeemaschine montiert und machte damit alle Marktbesucher glücklich, die mal eine kleine Pause brauchten.

Walter sah Manni schon von weitem, der ihm mit seiner roten Stoffmütze zuwinkte. An einem Stehtisch standen außer Manni noch zwei weitere Männer und eine junge Frau. Den einen der Männer hatte Walter schon mit Manni bei der Goschamarie gesehen. Alle hielten ihre Kaffeebecher mit beiden Händen fest umschlossen, um die Finger aufzuwärmen. Manni stellte seinen Becher ab und lief ein paar Meter auf Walter zu, um ihn zu begrüßen. Dann nahm er Walter am Arm und schob ihn zu den anderen.

„Das ist mein alter Freund Walter. Wir kennen uns noch aus der Grundschule in Taldorf.“

Alle lächelten und nickten freundlich.

„Walter – das ist mein Kollege Hans, mit dem ich meistens auf Streife bin. Das da ist der Hubert von der Kripo und unser Küken hier ist die Anne aus der Pathologie. Da hat sie eine Assistenzstelle bei Dr. Vorn-Lang.“

Walter schüttelte jedem die Hand und versuchte sich die Namen zu merken. Anne war eindeutig die jüngste in der Runde und hatte die Ausstrahlung von Weihnachten. Sie strahlte und lachte, wobei ihre Augen leuchteten wie Kinderaugen bei der Bescherung. Walter mochte sie auf Anhieb und stellte sich neben sie.

„So, Sie sind also in der Pathologie? Sicher spannend!“, versuchte Walter sich unbeholfen in Smalltalk. Die strahlende Anne machte einen Schmollmund und piekte ihn in die Seite, so dass Walter zusammen zuckte und einen überraschten Quieklaut von sich gab.

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, dass du „Sie“ zu mir sagst? Ich mache dir nen Vorschlag: ich hole uns beiden jetzt nen Kaffee und mit dem stoßen wir dann aufs „Du“ an, okay?“

Walter fehlten die Worte und nickte deshalb nur, wohlwissend, dass er gerade ziemlich verdattert aussah. Während Anne ihren leeren Kaffeebecher in eine Mülltonne pfefferte und sich auf den Weg zu Francesco machte, hatten Streifenkollege Hans und Kripo-Hubert Mühe nicht laut los zu lachen.

„So ist unser Küken – immer gute Laune und immer Vollgas. Man muss sie einfach lieben!“

 

Walter brummte zustimmend und schob sich etwas dichter an Manni heran.

„Sag mal, was passiert denn jetzt hier in dieser Runde?“

Während Walter gerade fast geflüstert hatte, gab sich Manni ganz offen.

„Na – wir kriegen raus, was dem alten Pfarrer wirklich passiert ist. Ich habe den anderen hier“, er schwenkte seinen Arm über die Runde, „schon erzählt, worum es geht. Und ehrlich gesagt, glaubt keiner an einen natürlichen Tod. Wir wollen selber Nachforschungen anstellen und dafür sind wir ja eigentlich ganz gut aufgestellt. Was uns bisher fehlt, ist jemand vor Ort. Einer der Pfarrer Sailers Umfeld kennt und im Auge behalten kann. Einer, der die Leute kennt und auch mal unauffällig nachfragen kann. Und da kommst du ins Spiel – hättest du Lust?“

Walter kam sich vor wie in einer Franz-Josef-Wanninger-Parodie. Was konnte diese zusammengewürfelte Truppe denn erreichen? Erwarteten sie von ihm etwa, dass er in Taldorf und Alberskirch für sie spionierte, die Nachbarn aushorchte und heimlich lauschte, wenn irgendwo getuschelt wurde? Walter sah sich schon um Hausecken schleichen und auf Bäume klettern, um irgendwen zu beobachten. Kindheitserinnerungen wurden wach und er erinnerte sich, wie er mit seinen Freunden damals „Detektiv“ gespielt hatte. Nachdem er zur Kommunion die gesammelten Werke von Sir Arthur Conan Doyle geschenkt bekommen hatte, war die ganze Clique für einige Zeit im Sherlock-Holmes-Fieber gewesen. Dabei wurden die Rollen nie eindeutig vergeben. Jeder von ihnen war mal Sherlock Holmes, mal Dr. Watson, manchmal auch beides, und sie machten Jagd auf alles, was in Taldorf geheimnisvoll oder gar kriminell erschien – also auf nichts. Es dauerte ein gutes halbes Jahr, bis sie resigniert feststellten, dass sie im langweiligsten, dafür aber wohl auch sichersten Ort der Welt lebten.

„Sorry, hat gedauert …“

Anne stellte die zwei Kaffeebecher auf den Tisch und nestelte an ihrer Jacke herum, um ihren Geldbeutel wieder in der Innentasche zu verstauen. Sie gab Walter den einen Becher und nahm selbst den anderen, um mit ihm anzustoßen.

„Also Walter – ich bin die Anne! Freut mich, dich kennenzu- lernen.“ Sie nahm einen Schluck Kaffee und signalisierte Walter mit hochgezogenen Augenbrauen das Gleiche zu tun. Dann umarmte sie ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Backe, wobei Walter instinktiv zurückschreckte. Er war körperliche Nähe einfach nicht mehr gewohnt. Anne bemerkte seine Reaktion, winkte aber grinsend ab.

„Keine Angst, Walter! Wir sind jetzt nicht verlobt! Aber befreundet … hoffe ich doch?“

Walter schoss das Blut in den Kopf und er ärgerte sich selbst über seine Verlegenheit.

„Äh ja, das … äh … geht, glaube ich, in Ordnung.“

Manni bewahrte Walter vor noch mehr Peinlichkeiten. „Wie sieht’s denn jetzt aus, Walter? Machst du mit? Das ist ja auch kein „Muss“! Wir hören uns einfach um, ermitteln ein bisschen, tragen alles zusammen und schauen, wo es uns hinführt. Du musst nichts tun, was du nicht tun möchtest.“

Eigentlich gefiel Walter die Idee ja. Er hatte selbst ein komisches Gefühl, was Pfarrer Sailers Tod anging und würde sich gern ein wenig umhören. Aber was würde passieren wenn er tatsächlich etwas herausfinden würde, etwas, das vielleicht auch gefährlich war? Immerhin würden sie nach einem Mörder suchen.

„Grundsätzlich würde ich gerne mitmachen, aber was passiert denn, wenn ich dadurch selbst in Gefahr gerate? Wenn wirklich jemand den Pfarrer ermordet hat, wird es demjenigen nicht gefallen, wenn wir versuchen das herauszufinden.“

Für einen Augenblick war es still und alle schauten sich an. Kripo-Hubert, der mit seinem fast kahlen Kopf und den tiefliegenden Augen ein wenig Ähnlichkeit mit Yul Brynner in dem Film „Westworld“ hatte, hob beschwichtigend die Hände.

„So weit wird es gar nicht kommen, Walter. Du bist nur aufmerksam und schaust gut hin. Wenn dir etwas komisch vorkommt, berichtest du uns davon und wir kümmern uns dann darum. Ich bin bei der Kripo, Manni und Hans bei der Bereitschaftspolizei und mit unserer süßen Anne haben wir eine Spezialistin für Medizin und Pathologie. Wenn du auch dabei bist, sind wir ein richtig gutes Team!“

Alle schauten erwartungsvoll auf Walter, der sich immer noch nicht recht entscheiden konnte. Da kuschelte sich Anne von der Seite an ihn heran und strahlte ihn mit ihren Funkelaugen direkt an.

„Ohne dich geht’s doch nicht, Walter.“

Hypnotisiert, wie das Kaninchen vor der Schlange, nickte Walter langsam mit dem Kopf.

„Ist okay. Ich mache mit!“ Wie um es zu besiegeln, schüttelte jeder Walters Hand und klopfte ihm auf die Schulter.

„Die nächste Runde Kaffee geht auf mich!“, rief Manni lachend und signalisierte Francesco mit fünf gestreckten Fingern, dass er noch eine Runde einschenken sollte.

Sofort machten sie sich daran zusammenzutragen, was sie bisher wussten, was leider nicht viel war. Schließlich vereinbarten sie, sich nächsten Samstag wieder auf dem Markt zu treffen. Für ein „Update“, wie Kripo-Hubert es nannte.

„Was mache ich denn, wenn vor Samstag schon etwas passiert?“, wollte Walter wissen.

„Gute Frage“, stimmte Streifenpolizist Hans zu, „aber ich hab da ne Idee. Wir tauschen alle unsere Handynummern aus und machen eine eigene Whatsapp-Gruppe auf!“

Sofort griff jeder zu seinem Handy und schaltete es ein. Auch Walter, der wie immer zwei Versuche brauchte, bis die PIN akzeptiert wurde. Dann erst bemerkte er, wie ihn die anderen anstarrten.

„Was ist denn los?“, fragte Walter verwirrt. Annes Lächeln war auf einmal verschwunden, stattdessen starrte sie mit großen Augen auf sein Handy.

„Was – ist – das – denn???“, stammelte sie.

Walter lächelte zufrieden, denn offensichtlich waren die anderen beeindruckt, dass er technisch so auf dem Laufenden war.

„Das ist mein Handy. Mein Siemens S4. Ist ein super Gerät!“

Kripo-Hubert war der erste, der nicht mehr an sich halten konnte. Er schlug die Hände vors Gesicht und prustete durch die Finger. Einer nach dem anderen prustete ebenfalls los und kurz darauf hielten sich alle die Bäuche vor Lachen. Anne musste sich die Tränen aus den Augen wischen und zeigte auf das Handy in Walters Hand.

„Das ist doch sicher zehn Jahre alt?“, fragte sie mit gepresster Stimme.

„Zwanzig. Es ist fast zwanzig Jahre alt und leistet mir treue Dienste.“

Walter steckte sein S4 wieder in die Tasche und wandte sich leicht mürrisch an Streifenkollege Hans.

“Was ist denn nun mit dieser Watt-Sepp-Gruppe?“

Wieder prusteten alle los und klopften sich auf die Schenkel. Halb erstickt winkte Streifenkollege Hans ab.

„Lass nur Walter. SMS tut’s auch!“

Was zum Teufel war SMS?

15

Auf dem Heimweg versuchte Walter seine Gedanken zu ordnen. Er fühlte sich von der neuen Situation überfordert. Seit Jahren war sein Leben bestenfalls langweilig. Nicht dass er unzufrieden wäre, es war nur einfach ziemlich ereignislos und jetzt schien sich auf einmal alles zu überschlagen. Auf was hatte er sich da eingelassen? Wieso hatte er sich von der kleinen Gruppe um seinen alten Freund Manni überreden lassen bei dieser aberwitzigen Aktion mitzumachen? Walter schüttelte den Kopf. Ganz in Gedanken war er bereits bis Bavendorf gekommen, als ihm einfiel, dass er noch tanken wollte. 1,24 €. Das konnte nicht wahr sein. Heute Morgen hatte der Liter Diesel noch 1,13 € gekostet. Zwar leuchtete schon die rote Zapfsäule im Armaturenbrett, doch er biss wütend die Zähne zusammen und fuhr an der Tankstelle vorbei. Ohnehin wurde er allmählich nervös. Balu war schon seit heute früh allein im Haus. Da ihn der Wolfsspitz sonst ständig begleitete, wusste Walter nicht, wie der Hund darauf reagieren würde. Hatte er in seiner Abwesenheit die Wohnung verwüstet? Gardinen herabgerissen, Regale umgekippt? Oder hatte er gar sein Geschäft in irgendeinem Winkel verrichtet? Unbewusst beschleunigte Walter seinen alten Peugeot. Wuuuuusch! Scheiße! Als er den roten Blitz sah, war es zu spät. Die mobile Radarfalle hatte ihn erwischt. Auch das reflexartige Bremsen half nichts mehr. Die Tachonadel war bei ungefähr fünfundachtzig gewesen. Hier, auf Höhe von Wernsreute, waren auf der Bundesstraße aber nur siebzig erlaubt. Frustriert hämmerte Walter ein paarmal aufs Lenkrad und versuchte sich zu beruhigen und achtete darauf, die vorgeschriebene Geschwindigkeit einzuhalten.

Als er den Peugeot in die Garage fuhr, erwartete er Balus Gebell zu hören, wütend oder gar verzweifelt, doch alles war ruhig. Misstrauisch öffnete er die Haustür und schaute vorsichtig in den Gang. Doch da war nichts. Kein Laut. Kein Hund. Er hängte seine Jacke an den Garderobenhaken und öffnete die Tür zur Küche. Er hatte vieles erwartet, das jedoch nicht. Balu lag eingerollt, scheinbar schlafend, in seinem Hundekorb. In seiner Bauchkuhle schlummerte, fast auf dem Rücken liegend, Kitty. Walter beugte sich zu den beiden hinab und streichelte erst vorsichtig Balu, dann Kitty, die sich unter seiner Berührung wohlig streckte und ihre Vorderpfoten genießerisch an Balus Nase drückte. Balu öffnete ein Auge nur einen Spalt breit. „Er darf nie erfahren, wie du hier rein gekommen bist!“ Auch Kitty öffnete an einem Auge einen schmalen Schlitz. „Natürlich nicht!“

Kopfschüttelnd ließ Walter die Tiere weiter schlummern und öffnete die Tür zur Terrasse, nicht ohne sich zu wundern, dass sie unverschlossen war. Die Sonne schien noch, doch er musste seinen Gartenstuhl ganz an den Rand der Terrasse schieben, um ein paar Strahlen zu erwischen, da der Schatten des Hauses schon weit vorgerückt war. Er versuchte erneut seine Gedanken zu ordnen, eine Struktur in die ganzen Ereignisse der letzten Tage zu bringen. Für den Anfang sei das das Wichtigste, hatte ihm Kripo-Hubert erklärt. Doch wo sollte er anfangen? Walter beschloss, da zu beginnen, als er Pfarrer Sailer das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte sich ein kleines Notizbuch aus der Kommode im Flur geholt und machte einen ersten Eintrag. Er hatte den Pfarrer zuletzt am Freitag vor zwei Wochen bei der Goschamarie gesehen. Was war da passiert? Er wirkte recht aufgeregt, als er sich zu den Kartenspielern an den Tisch gesetzt hatte. Was dort gesprochen wurde, hatte Walter nicht mitbekommen, aber irgendwie gab es dann Streit und einer der Kartenspieler war wütend aufgestanden und gegangen. Josef aus Herrgottsfeld. Kurz darauf hatte auch Pfarrer Sailer die Wirtschaft verlassen. Danach hatte Walter ihn nicht mehr gesehen. Walter schaute auf die einzelnen Punkte, die er notiert hatte und wusste, was er tun musste. Er würde heute bei der Goschamarie in Erfahrung bringen, um was es in dem Streit zwischen Pfarrer Sailer und Josef gegangen war. Vielleicht brachte ihn das irgendwie weiter. Zufrieden klappte er sein Notizbuch zu und schob sich den Bleistift hinters Ohr. Er fingerte sein Handy aus der Hosentasche und schrieb die erste SMS seines Lebens. Streifenkollege Hans hatte ihm auf dem Markt noch eine kurze Einweisung gegeben, und so drückte Walter mutig auf das kleine Briefsymbol. Sofort öffnete sich das Eingabefeld. Mit viel Mühe tippte er Buchstabe für Buchstabe ein und teilte Manni mit, was er vorhatte. Außerdem erzählte er ihm, dass er auf Höhe Wernsreute geblitzt worden war. Die Autokorrektur des Handys half ihm bei der Eingabe. Nachdem das Handy mit einem kurzen „Plopp“ den Versand der SMS bestätigt hatte, schaltete er es aus und schob es in seine Hosentasche. Dann schloss er die Augen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

Nur zehn Kilometer entfernt piepte Mannis Handy. Er wischte kurz über das Display, um es zu entsperren, und sah, dass Walter ihm eine SMS geschickt hatte. Mit einem Fingertip öffnete er die App und las kopfschüttelnd die kurze Nachricht:

„Liebste Manni,

ich gehe heute abend Gesund Maria. Habe ideen. Schreibe morgen Meer. Habe übrigens Strafzoll in Wünschelrute bekommen. Blöd. Tschüss Walter“