Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde

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8

Kaum war Walter im Schlafzimmer verschwunden, schlich Balu zur Küchentür. Sie war wie immer unverschlossen. Balu setzte sich direkt unter die Türklinke und machte „Männchen“, wie es die Menschen nannten. Dadurch hatte er beide Vorderpfoten frei, stützte sich mit der rechten am Türrahmen ab, um das Gleichgewicht zu halten, und legte die linke Pfote auf den Türdrücker (ja – Balu ist Linkspfotler – in der Familie der Wolfspitze ein häufiges Phänomen). Beim ersten Drückversuch rutschte er ab, beim zweiten gelang es ihm und er verlagerte sein Gewicht leicht nach hinten, um die Tür aufzuziehen. Dabei hatte er sorgfältig darauf geachtet, dass keine seiner Krallen Tür oder Wand berührten und dadurch verräterische Kratzspuren hinterließen. So gern er Walter auch mochte – dieser Trick sollte sein Geheimnis bleiben.

Nicht schlecht für einen Canis Lupus“, zog ihn Kitty auf, die bereits vor der Tür gewartet hatte. Sie saß aufrecht mit eng angelegtem Schwanz neben Seppi, der gerade schmatzend das Katzenfutter verschlang. „Das ist doch unfair“, schimpfte Balu. „Ich kenne zig Häuser mit einer Katzenklappe, damit ihr rein und raus könnt wie ihr wollt, aber ich kenne nicht ein einziges Haus mit Hundeklappe! Warum eigentlich?“ „Weil die Menschen wissen, dass sie uns Katzen eh nicht kontrollieren können. Wir kommen und gehen wann und wie wir wollen und wenn man uns darin hindert, machen wir Ärger. Zerfetzen Tapeten und Vorhänge oder verrichten unser Geschäft im Topf einer Yukka-Palme und das wollen sie eben nicht.“Hätte ich so ein schönes warmes zu Hause und genügend zu Fressen, würde ich gar nicht mehr raus gehen. Höchstens mal zur Paarungszeit!“ Für Seppi war eben alles einfacher. Balu und Kitty liefen querfeldein den kürzesten Weg nach Alberskirch. Hinter der Goschamarie den Hügel hinauf, durch den Taldorfer Weinberg, an einem Bauernhof und dem Dürnaster Spielplatz vorbei, durch zwei Obstplantagen und schon standen sie vor Pfarrer Sailers Haus. Soweit Balu sehen konnte, hatte sich seit heute Nacht nichts verändert. Wieder sprang er auf den Holzstapel, um in die Küche sehen zu können. Nirgends eine Spur von Eglon. Doch irgendetwas war anders. Balu wusste erst nicht recht was es war, doch dann viel ihm der freie Platz auf dem Küchentisch auf. Die alten Bücher waren verschwunden. Auch die Kaffeetasse und die beiden Teller in der Spüle waren weg. „Jemand hat aufgeräumt“, sagte Balu und erklärte Kitty, wie es noch heute Nacht ausgesehen hatte. Plötzlich hatte die Katze eine Idee. „Natürlich! Ich weiß wo Eglon steckt: in Herrgottsfeld! Balu, wer würde denn bei dem toten Pfarrer aufräumen? Natürlich seine Haushälterin – die Annemarie! Sie hat einen Schlüssel und wohnt drüben in Herrgottsfeld. Die hat sicher mal vorbei geschaut und den armen Eglon mitgenommen, damit er nicht verhungert.“ „Oder schlank wird“, konnte sich Balu nicht verkneifen. „Ach du“, winkte Kitty mit unbekrallter Pfote ab. „Lass uns rüber laufen. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir das in zehn Minuten!“ Noch bevor Balu einwenden konnte, dass es doch eigentlich schon recht spät sei und Walter wohl demnächst aufwachen und merken würde, dass er nicht da war, war Kitty schon von dem Holzstapel heruntergesprungen und galoppierte in Richtung Herrgottsfeld. Balu bellte einmal laut und setzte ihr nach. Weiber!

9

Es passiert heutzutage recht häufig, dass sich ein Ehepaar bei der Hochzeit nicht auf einen Familiennamen einigen kann und deshalb einen Doppelnamen wählt. Das ist in vielen Fällen sinnvoll und vermeidet Streitigkeiten, entbehrt manchmal aber auch jeglicher Vernunft.

Dr. Michael Vorn-Lang hätte damals im Namensstreit klein beigeben sollen und einfach den Namen seiner Frau „Vorn“ annehmen sollen, doch jetzt war es zu spät. Als leitender Pathologe hatte er zwar meist mit Toten zu tun, aber hin und wieder eben auch mit grinsenden Lebenden.

„Anne – kommen Sie mal rüber und helfen mir mit diesem Kunden?“ Dr. Vorn-Lang nannte die Leichen gerne „Kunden“, um der Pathologie eben doch ein wenig Leben einzuhauchen. Anne, 23 Jahre alt, gelernte Krankenschwester, war ein überaus fleißiges und fröhliches Mädchen.

„Soll ich hier hinten lang gehen?“ fragte sie in freudiger Erwartung der Antwort.

„Nein … (tiefer Seufzer) … kommen sie ruhig vorn lang“, sagte Dr. Vorn-Lang resigniert, während sich Anne brüllend auf die Schenkel klopfte. Er machte sich erst gar nicht die Mühe darauf einzugehen und öffnete auf seinem Tablet PC die Akte.

„Tiberius Sailer. Weiß, männlich, 73 Jahre. Tot in einer Kirche aufgefunden worden. Pfarrer im Ruhestand. Hatte schon mal einen schweren Herzinfarkt. Keine äußere Gewalteinwirkung zu erkennen … hmmm … vermute mal, wieder ein Herzinfarkt. Was haben wir aus dem Labor?“

Die fröhliche Anne hatte ebenfalls einen Tablet PC in der Hand (wenn auch ein älteres Modell) und rief die Testergebnisse auf.

„Soweit alles im normalen Bereich. Es scheint, als hätte der Herr Pfarrer brav seine Medikamente genommen. Alle Werte passen. Nur … ha … da ist den Jungs im Labor ja was Blödes passiert … da ist denen wohl das Komma um eine Stelle verrutscht. Sehen sie hier – bei der Blutanalyse der Koffeingehalt?“ Sie hielt Dr. Vorn-Lang ihr Tablet direkt unter die Nase, so dass ihm der rot markierte Wert quasi ins Gesicht sprang.

„Oh“, war seine spontane Reaktion. „Müssen die nochmal checken. Rufen Sie diesen Remtsma an, der hier unterschrieben hat und sagen Sie wir brauchen den Wert nochmal … sofort!“

Die fröhliche Anne trippelte an der Pritsche mit dem toten Pfarrer vorbei (natürlich vorn lang), um zu telefonieren. Dr. Vorn-Lang machte derweil mit der Autopsie weiter.

Nur wenige Minuten später klingelte sein Telefon.

„Vorn-Lang?“

„Angeber!“, kam die Antwort aus dem Hörer. Der Doktor blickte resigniert zur Decke, bis sich die Stimme am anderen Ende der Leitung beruhigt hatte.

„Entschuldigung! Entschuldigung! Entschuldigung! Aber das war einfach zu verlockend!“ Dr. Vorn-Lang verzichtete auch jetzt auf einen Kommentar.

„Sind Sie dieser Remtsma, der die Blutuntersuchung von der Leiche Sailer gemacht hat?“

„Nein … “

„Sie sind nicht Remtsma?“

„Remtsma bin ich nicht … aber vermutlich sprechen Sie es nur falsch aus. Sie sprechen es „Remmmtsmaaa“ …“

„Und wie sprechen Sie es aus?“

„Natürlich „Reeeemtsma“ – sie verstehen? Hinten kurz und … vorn lang!“

Dr. Vorn-Lang ritzte mit einem Skalpell feine Schnitte in den Unterarm von Pfarrer Sailer, bis sich Remtsma von seinem neuerlichen Lachanfall erholt hatte.

„Geht’s wieder? Ich brauche nämlich was von Ihnen: der Koffeinwert bei meinem Kunden hier ist viel zu hoch – messen Sie doch bitte noch mal nach!“

„Brauch ich nicht.“

„Warum?“

„Hab ich schon! Weil er so hoch war, hab ich noch zweimal nachgemessen. Der Wert, der da steht, stimmt so.“

Dr. Vorn-Lang konnte sich nicht vorstellen, wie man einen solchen Wert erreichen konnte, erst recht nicht, wenn man schon einmal einen Herzinfarkt hatte.

„Wie viele Tassen Kaffee müsste der Kunde denn getrunken haben, um diesen Wert zu erreichen?“

„Das hab ich schon hochgerechnet. Grob müssten es zwanzig bis fünfundzwanzig Tassen sein – aber mit nem ordentlich starken Zeugs.“

„Irrtum ausgeschlossen?“

„Ausgeschlossen!“

„Dann danke!“

„Gerne!“

Dr. Vorn-Lang legte auf und begann mit der eigentlichen Autopsie. Mit seinen Gedanken war er jedoch schon bei einem Anwalt, der ihm half diesen bescheuerten Doppelnamen loszuwerden. Und wenn seine Frau gleich mitginge – dann wäre es halt so.

10

Balu und Kitty brauchten in lockerem Galopp nur fünf Minuten bis Herrgottsfeld. Der Ort war eigentlich keine richtige Ortschaft, denn er bestand nur aus einem einzigen Hof. Sie liefen zwischen Stallgebäude und Wohnhaus hindurch zur Eingangstür. Sie war verschlossen und niemand war zu sehen.

„Was sucht ihr denn hier?“, muhte es aus dem Stall. Eine gutgenährte braune Kuh musterte sie widerkäuend. Kitty lief mit erhobenem Schwanz zur Stalltür. „Hallo, wir suchen einen Freund. Eglon, ein rothaariger Kater – hast du ihn gesehen?“ Die Kuh ließ sich Zeit mit der Antwort, während sie im immer gleichen Rhythmus weiter kaute. „Du meinst den fetten Schmarotzer, den die Chefin heute Morgen angeschleppt hat? Der liegt auf der anderen Seite vom Haus in der Sonne. Wenn er nicht gerade beim Fressen ist …“ Kitty bedankte sich ohne weiter nachzufragen, warum die Kuh Eglon einen Schmarotzer genannt hatte. Zusammen mit Balu ging sie zwischen Stall und Wohnhaus wieder zurück und bog dann links zur Terrasse ab. Im Halbschatten eines Quittenbaumes entdeckten sie Eglon. Er lag halb auf dem Rücken, hatte die Beine weit von sich gestreckt und schnarchte leise. Seine Zunge hing ihm ein paar Millimeter aus dem Maul. Dass er Besuch hatte, merkte Eglon nicht einmal, als die beiden Tiere direkt vor ihm standen. Balu schaute Kitty mit einem schelmischen Grinsen an, die erwartungsvoll nickte. Als Balu Eglon direkt ins Ohr bellte, stellte dieser im Bruchteil einer Sekunde alle Haare und sprang aus dem Liegen einen halben Meter in die Luft (keine Ahnung, wie er das geschafft hatte). Dabei kreischte er sein fürchterlichstes Miau heraus und flüchtete mit nur einem Satz auf den Quittenbaum. Als Balu und Kitty sich mit erhobenen Köpfen unter den Baum setzten, war sein Fell immer noch aufgestellt und er hechelte wie nach einem Halbmarathon. „SEID IHR WAHNSINNIG???“, schrie der rote Kater wütend von seinem Ast herunter. „Wie könnt ihr mich so erschrecken? Ich hätte vor Schreck sterben können!“ Kitty lächelte süffisant und leckte ihre rechte Vorderpfote. „Ach Eglon, wer so weggetreten ist wie du, kann durch alles Mögliche sterben: Hunde, Füchse, Traktor, Verwesung – du solltest etwas wachsamer sein!“ Allmählich legte sich Eglons Fell wieder an und er versuchte eine halbwegs katzenwürdige Haltung einzunehmen. „Das ist nicht fair! Ihr habt mich bei meinem Verdauungsschläfchen erwischt. Die haben hier kürzlich geschlachtet und deshalb gab es heute reichlich Schlachtabfälle. Sehr lecker – aber halt auch fett. Hab mich wohl etwas überfressen. Aber egal – was macht ihr hier?“ Balu trat etwas näher an den Baumstamm heran. „Die Frage ist: was machst du hier? Wir haben dich in Alberskirch gesucht, aber du warst nirgends zu finden. Dann kam uns die Idee, dass Annemarie dich vielleicht mitgenommen hat. Deshalb sind wir hier.“ Eglon machte große Augen. „Ihr habt euch Sorgen um mich gemacht?“ Balu hüstelte verlegen. „Ähm … nicht direkt Sorgen … wir wollten halt wissen, wie es dir geht. Was ist denn genau passiert?“ Eglon erhob sich und kletterte auf dem Ast bis zum Stamm. Dort schob er seine Vorderpfoten stammabwärts, während sein Hinterteil noch auf dem Ast saß. Als er nicht mehr tiefer ausgreifen konnte, ließ er die Hinterbeine nachrutschen und stützte sich dabei am Stamm ab, um die Fallgeschwindigkeit so gering wie möglich zu halten. Trotzdem spürten Balu und Kitty die leichte Erschütterung, als die dicke Katze auf dem Boden aufkam. g=9,81m/s^2. „Na ja … Pfarrer Sailer kam am Sonntag nicht von der Messe nach Hause. Als ich Hunger bekam, bin ich ein bisschen durch Alberskirch gelaufen und hab hier und da ein bisschen Futter stibitzt. Aber abends bin ich dann wieder zum Haus gelaufen. Der Pfarrer war immer noch nicht da und ich machte mir echt Sorgen. Ich hab in einer Scheune übernachtet und als ich heute Morgen wieder zum Haus kam, war die Tür zum Garten offen und ich freute mich schon, aber da war nur Annemarie, die Haushälterin vom Pfarrer. Sie hatte die Küche aufgeräumt und stellte gerade die Kaffeesachen weg. Als sie mich sieht, kommt sie zu mir her und streichelt mich, sagt, an mich hätte sie ja gar nicht mehr gedacht, und nimmt mich auf den Arm. Eigentlich mag ich das ja nicht, aber sie kann so toll unter dem Kinn kraulen – da hab ich’s mir gefallen lassen. Dann hat sie mich und die Bücher vom Küchentisch zum Auto getragen und wir sind hierher gefahren. Das war alles. Kann ich denn jetzt wieder nach Hause? Ist Pfarrer Sailer wieder aufgetaucht?“ Kitty senkte den Kopf und ihre Augenlider verengten sich. „Du weißt es noch gar nicht?“ „Was … weiß ich nicht“, stotterte Eglon. Balu legte den Kopf leicht schief. „Pfarrer Sailer kommt nicht mehr nach Hause. Er hatte nach der Messe einen Herzinfarkt und ist gestorben.“ Alle Spannung wich aus dem roten Kater und sein Kopf sank nach unten. „Aber … aber er war doch so gut drauf an diesem Sonntag. Ich möchte fast sagen, es ging ihm so gut wie schon lange nicht mehr. Er hat sich sogar einen richtigen Kaffee gemacht.“ Balu spitzte die Ohren. „Was heißt „richtigen“ Kaffee“?“ Eglon schüttelte immer noch ungläubig den Kopf, als er leise antwortete. „Na, er sollte doch nur noch den Koffeinfreien trinken. Wegen seinem Herz. Aber wenn er sich richtig gut fühlte, hat er sich schon mal eine echte Tasse gegönnt. Er dachte zwar, das merkt keiner, aber hey, meine Nase kriegt das sehr wohl mit!“ Kittys Augen wurden groß. „Warum hat er das gemacht? Er wusste doch, dass ihm das nicht gut tut. Vielleicht ist er deshalb sogar gestorben!“ „Das glaube ich nicht.“ erwiderte Eglon. „Er war danach richtig gut drauf. Da haben ihn die Bücher viel mehr aufgeregt.“ Balu dachte an die Bücher, die auf dem Küchentisch gelegen hatten, als er mit Walter durch das Fenster geschaut hatte. „Diese alten Bücher mit Ledereinband? Was war an denen denn so besonders?“ „Er hat sie neulich erst mitgebracht und dann viele Stunden da drin rumgeblättert. Hat immer wieder Namen in sein Notizbuch geschrieben und von Krankheiten und Ärzten gefaselt. Am Freitag muss er dann irgendetwas entdeckt haben, worüber er sich sehr aufgeregt hat. Er war ganz durch den Wind, als er zur Goschamarie gegangen ist.“ Balu und Kitty erinnerten sich gut an den Abend als Pfarrer Sailer völlig außer Atem bei der Goschamarie aufgetaucht war. In Kitty keimte ein Verdacht auf. „Was, wenn der Streit, den er mit den Kartenspielern hatte, doch nicht so harmlos war? Ich habe das Gefühl, dass wir nicht die ganze Geschichte kennen, und dass Pfarrer Sailers überraschender Tot vielleicht gar nicht so überraschend war.“

 

11

Walter hatte eine zermürbende Woche hinter sich. In der Nacht von Montag auf Dienstag war das Sturmtief Ingrid über Oberschwaben gezogen und hatte, bei Temperaturen knapp unter null Grad, noch einmal Schnee gebracht. Nicht viel aber doch genug, um die Wiesen mit einem feinen weißen Flaum zu überziehen. Walter und Balu hatten ihre nächtlichen Runden teils in dichtem Schneetreiben teils im Kampf gegen eiskalte Sturmböen absolviert. Zur Freude aller schien zu Pfarrer Sailers Beerdigung am Freitagmorgen aber wieder die Sonne, auch wenn es noch bitter kalt war. Die kleine Alberskircher Kirche war restlos überfüllt gewesen und mehr als die Hälfte der Menschen hatte die Trauerfeier nur über einen Lautsprecher vor der Kirche verfolgen können. In der ersten Kirchenbankreihe, traditionell den Angehörigen vorbehalten, hatten nur drei Männer, die niemand gekannt hatte, und eine ältere matronenhafte Frau mit verbittertem Gesicht gesessen. Bei der anschließenden Beisetzung war es sogar auf dem Friedhof zu eng geworden, da die Musikkapelle Taldorf mit fast sechzig Mann angetreten war, um Pfarrer Sailer auf seinem letzten Weg musikalisch zu begleiten. Die Stimmung war allgemein gedrückt gewesen, aber positiv. Jeder hatte den alten Pfarrer gemocht und viele dachten in dieser Stunde an schöne Erlebnisse, die sie mit dem Verstorbenen gehabt hatten. In eisiger Stille war jeder einzelne der Trauergemeinde an Pfarrer Sailers Grab getreten und hatte sich verabschiedet. Da von den Angehörigen keiner am Grab aufwartete, entfiel das Kondolieren. Das anschließende Totenmahl hatte in der Landvogtei in Dürnast stattgefunden. Auch hier war keiner der Angehörigen anwesend. Bei „Gschlagenen“ mit Kartoffelsalat war die Stimmung allmählich lockerer geworden und nach einer Weile (und dem ein oder anderen Bier) war an vielen Tischen wieder laut erzählt und gelacht worden.

Walter hatte sich frühzeitig verabschiedet, da er nach seiner Zeitungstour noch keine Zeit für ein Schläfchen gehabt hatte und müde war.

Als er um kurz nach fünf erwachte, dämmerte es bereits. Auch Balu hatte den Tag mehr oder weniger verschlafen und verspürte jetzt ein dringendes Bedürfnis. Walter verstand sein hohes Winseln sofort und öffnete ihm die Tür zum Garten. Auf der Terrasse traf er einen am ganzen Körper zitternden Igel, der gierig das Katzenfutter aus dem Napf fraß.

„Hi Seppi! Echt übel die Temperaturen. Wer hätte gedacht, dass es nochmal so kalt wird?“ Der kleine Igel schaute nicht einmal auf, während er antwortete. „Ja. Echt übel! Und zu fressen finde ich fast nichts mehr. Habe in der Wiese nach Würmern gebohrt, aber die Biester haben sich wieder nach unten verzogen. Ich hoffe, Kitty nimmt es mir nicht übel, dass ich ihr das ganze Futter wegfresse!“ „Das tut sie bestimmt nicht“, sagte die Tigerkatze, die mit einem eleganten Satz auf die Terrasse sprang. Mit einem freundlichen Nasenstupser begrüßte sie ihren stacheligen Freund. „Ich krieg doch genug von Marie. Heute gab es superleckeren Schweinebraten. Nicht so ein trockener Schweinerücken, sondern ein schön durchwachsenes Halsstück.“ Bei der Erinnerung an ihr Fressen musste sie sich mit der Zunge ums Maul lecken und ihre Barthaare zuckten nach vorne. „Geht ihr denn nachher rüber in die Wirtschaft? Ist schon einiges los da. Ich glaube, einige waren nach der Beerdigung gar nicht mehr zu Hause!“ Balu musste lachen. „Ich denke schon. Walter hat bis vorhin geschlafen und muss erst mal munter werden. Aber ich darf nicht lästern, ich habe auch den ganzen Nachmittag gepennt wie ein Stein.“ „Dann hast du sie nicht gehört?“, mischte sich Seppi schmatzend ein. „Wen denn?“ „Na, die Leute im Haus nebenan! Hab nichts gesehen, weil ich ja in meinem Nest lag, aber gehört hab ich sie. Ein Mann und eine Frau sind ins Haus gegangen und dann auch noch in den Garten. Haben sich darüber unterhalten, was alles gemacht werden muss, und dass sie anfangen, sobald es wärmer wird.“ Balu konnte es nicht fasen: er hatte nichts mitbekommen und die neuen Nachbarn schon wieder verpasst. „Ich könnte mir in den Schwanz beißen. Da hätte ich gerne mal hallo gesagt.“ Kitty rieb beruhigend mit dem Kopf an der Schulter des Wolfsspitz’. „Die wirst du sicher noch früh genug kennen lernen. Jetzt überzeuge Walter zur Goschamarie zu kommen. Vielleicht weiß da ja jemand mehr. Wir sehen uns nachher!“ Und schon war sie mit einem weiteren eleganten Satz von der Terrasse verschwunden. Grübelnd trottete Balu noch ein wenig durch die Gegend und erledigte sein Geschäft. Als er zurückkam, war Seppi verschwunden. Der Katzenfutternapf war leer.

12

Schon als Walter die Treppen zur Goschamarie erreichte, hörte er den Lärm aus der Gaststube. Der ganze Parkplatz war belegt. Einige Autos hatten sich noch irgendwo dazwischen gequetscht und so die Fahrwege verstellt. Gegen später würde es wieder ein paar kleinere Blechschäden geben. Balu beschnupperte einige Fahrzeug und setzte eine kleine Marke, wenn das Fahrzeug nach einem anderen Hund roch. Auch ein Fahrzeug der Ravensburger Polizei war dabei. Polizisten waren bei der Goschamarie durchaus nichts Ungewöhnliches. Oft kamen sie nach Feierabend auf ein Bier vorbei, manchmal kamen sie aber auch schon mittags, parkten ihren Streifenwagen dann aber diskret hinter dem Haus.

Als Walter die Gaststube betrat, prallte er gegen die gewohnte graue Wand aus Zigarettenqualm. Heute war es besonders schlimm, so dass er von den Gästen am Ende der Gaststube nur die Konturen erkennen konnte. Er setzte sich auf seinen Platz am Stammtisch und bestellte per Kopfnicken, während Balu unter der Eckbank verschwand. Max zu seiner Linken unterhielt sich gerade angeregt mit einer blonden Schönheit am Nebentisch, die offensichtlich nicht aus der Gegend stammte. Immer wieder fragte die Blonde „Wie bitte?“, da sie Max’ breites Schwäbisch nicht verstand. Rechts von Walter lag Elmar schlafend auf dem Tisch. Er hatte den linken Arm abgewinkelt und benutzte ihn als Kissen. Er trug noch die Musikantenuniform von der Beerdigung am Vormittag. Marie stellte die zwei Flaschen Bier für Walter auf den Tisch.

„Lossn schlafa. Hots glaub schtreng kett heit. Magsch no was ässa? I het no von dem Schweinebrota iebrig. Isch ja kaum oiner komma heit middag – waret alle beim Totamohl.“

Walter liebte Schweinebraten. „Gern. Aber bitte kein Brot. Ich muss jetzt doch mal ein bisschen aufs Gewicht achten“, sagte er und streichelte dabei mit beiden Händen über seinen Bauch.

Marie hob gespielt entsetzt die Hände vors Gesicht. „Noi Walter, duuu doch it! Sähs scho komma, dass du au no so an Hungerhoka wirsch. Aber isch guat – kriegsch halt blos Schpätzla und koi Brot. Wenn’s dr hilft.“ Kopfschüttelnd verschwand sie in der Rauchwand. Als Walter ihr hinterher blickte, entdeckte er zwei Polizisten an einem Ecktisch. Den einen erkannte Walter als seinen alten Schulfreund Manni. Er hob die Hand zum Gruß und nickte einmal, was soviel bedeutete wie „Hallo, lange nicht mehr gesehen.“ Manni hob leicht die Schultern und ließ den Kopf etwas sinken mit der Bedeutung „Ja. Aber man hat ja nie Zeit!“ Walter lächelte und nickte mehrmals leicht „Wem sagst du das.“ Manni zeigte mit einem Finger auf sein Bier und dann zu Walter und hob die Augenbrauen „Soll ich auf einen Schluck rüber kommen?“ Walter lächelte breit und nickte „Klar!“. Der Polizist stand auf und bahnte sich, mit der Bierflasche in der Hand, einen Weg durchs Lokal. Da er einen beachtlichen Körperumfang hatte, streifte er immer wieder andere Gäste und musste sich entschuldigen. Er musste auch am verrückten Dieterle vorbei, der gerade zwei Fremde in eines seiner wirren Gespräche verwickelt hatte. Niemand wusste Genaueres über „s’Dieterle“. Irgendwann war er aufgetaucht und bewohnte seitdem eine alte Hütte am Taldorfer Ortsrand. Alle waren sich einig, dass er nicht richtig tickte (er behauptete im Taldorfer Wald hätten sich Außerirdische versteckt), da er aber niemandem etwas tat, störte sich auch niemand an ihm. Als Manni ihn mit seinem Bauch schubste, schaute er denn auch nur kurz auf und lachte übertrieben.

„Die Polizei, dein Freund und Helfer, gell, ja, gell! Aber bei den Fremden helft ihr nicht, gell! Gell!“

Manni schüttelte nur den Kopf und steuerte weiter auf Walter zu. Der flüsterte Max etwas ins Ohr, der nur nickte und seinen Stuhl frei machte, um sich an den Tisch der Blonden zu setzen. Als Manni am Stammtisch ankam, ließ er sich auf den Stuhl fallen wie ein Wanderer nach einem schweren Bergaufstieg am Gipfelkreuz.

 

„Grüß dich Walter! Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Ich weiß, liegt an mir. Ich schaff es einfach kaum mehr hier raus aufs Land.“ Manni war nach seiner Ausbildung zum Polizist in die Stadt gezogen.

„Mir geht’s grad anders rum“, entgegnete Walter, „ich bin so gut wie nie in der Stadt. Außer mal zum Klamotten kaufen oder samstags auf den Markt.“ Mit einem leichten Schauder erinnerte er sich an sein letztes Gespräch mit Eugen Heesterkamp, bei dem dieser angedroht hatte, mit ihm Sportkleidung kaufen gehen zu wollen. „Was treibt dich denn heute mal wieder nach Taldorf?“ Manni hatte gerade den letzten Schluck Bier getrunken und winkte Marie mit der leeren Flasche zu.

„Der Tod vom Pfarrer. Als ich es in der Zeitung gelesen habe, war ich doch recht traurig. War ja damals auch bei ihm Ministrant. Konnte heute Vormittag leider nicht zur Beerdigung, weil ich Dienst hatte.“

Walter klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. „Ja, das waren noch Zeiten damals. Aber irgendwann sind wir alle mal dran und Pfarrer Sailer war ja auch nicht mehr der Jüngste.“ Marie, die das Bier vor Manni auf den Tisch knallte und Walter seinen Schweinebraten vorsetzte, hatte die letzten Sätze mitgehört.

„Do hosch recht, Walter. Für jeden ischs irgendwänn Zeit, au für an Pfarrer. Und so alt wiener war isch do au nimme d’Hebamm schuld!“

Manni bedankte sich für das Bier und beugte sich dann nach vorne, um leiser sprechen zu können. „Eigentlich bin ich wegen dir hier. Ich wollte mit dir reden, weil da gibt es etwas, was ich merkwürdig finde.“ Manni trank einen Schluck Bier, bevor er weiter sprach. „Man hat beim Pfarrer eine Autopsie gemacht. Das Ergebnis: Herzinfarkt. Ansonsten war bei ihm alles O.K. Bis auf eines: er hatte einen viel zu hohen Koffeinwert im Blut.“ Walter, den Mund voll Schweinebraten und Spätzle, wusste nicht so recht, worauf Manni hinaus wollte.

„Na, er wird wohl am Morgen einen Kaffee getrunken haben.“ Manni schüttelte den Kopf.

„Du hast mich nicht richtig verstanden, Walter. Er hatte einen viiiiiiiel zu hohen Koffeinwert. Ich hab’s nur durch Zufall erfahren, weil einer am Telefon darüber geredet hat, als ich eine Akte abgeholt habe.“

Walter zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. Konnte es sein, dass Pfarrer Sailer sich vor dem Gottesdienst erst ein paar Tassen Kaffee reingeschüttet hatte, bevor er zur Kirche gegangen war? Unwahrscheinlich, vor allem wenn man bedachte, dass er schon einmal einen Herzinfarkt gehabt hatte und seitdem sehr vernünftig lebte. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

„Weißt du denn, wie viele Tassen Kaffee er gebraucht hätte, um den Wert zu erreichen?“

„Ja. Und genau das hat mich gewundert. Er hätte rund fünfundzwanzig Tassen trinken müssen.“