Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde

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4

Der Samstag war Walters Lieblingstag. Nicht um 2.30 Uhr aufstehen und viel Zeit für Haus, Wald und Garten. Die Sonne strahlte schon durchs Fenster, als Walter sich Kaffee machte. Durch das Küchenfenster sah er in den Garten. Jetzt, Anfang März, war noch alles kahl und grau. Doch schon in den nächsten Wochen würde das Grün zurückkommen. Sein Blick viel auf das Nachbargrundstück. Ein Jahr ohne Pflege hatte aus dem Garten einen Urwald werden lassen. Girsch, Brennnesseln und andere Unkräuter überwucherten alles, die Wege waren nur noch zu erahnen. Eine Vogeltränke aus Stein lugte noch knapp aus dem Dickicht hervor und die Reste eines gigantischen Liebstöckels zeigten, wo einst das Kräuterbeet gewesen war. Ob da wirklich wieder jemand einzieht? Walter wusste nicht, ob ihm das gefallen würde. Er schätzte die Abgeschiedenheit und die Ruhe, aber ein neuer Nachbar würde sicher den Druck der Einsamkeit etwas lindern. Hin und wieder ein Gespräch am Gartenzaun, vielleicht auf seiner Terrasse gemeinsam ein Feierabendbier trinken. Walter lächelte bei dem Gedanken.

Balu winselte ungeduldig vor der Tür zum Garten. Er hatte gefressen und jetzt musste er dem Ruf der Natur folgen.

„Na, geh schon!“, sagte Walter und öffnete die Tür. Angenehm frische Morgenluft drang in die Küche und vermischte sich mit dem Kaffeearoma. Walter ging mit seiner Tasse vor die Tür, stellte sich in die Sonne und schloss die Augen.

Balu erledigte sein Geschäft etwas abseits (er würde das nie auf dem eigenen Grundstück tun) und begann dann mit kleinen Spritzern sein Revier zu markieren.

„Nicht hier!“, drohte eine Stimme aus einem Rosenbusch. Walter hatte den Busch im Herbst großzügig mit Heu und Tannenzweigen abgedeckt, um ihn vor der Kälte zu schützen. Ein ideales Winterquartier für einen Igel. „Seppi, du bist schon wach?“, jubelte Balu. Eine kleine schwarze Nase schob sich durch das Heu und schnupperte. „Noch nicht so richtig. Aber ich muss anfangen zu fressen. Ich bin total abgemagert. Wie geht’s dir so? Ist Kitty auch da?“ Balu setzte sich und putzte einen Vorderlauf. „Uns geht’s allen prima. Kitty kommt später sicher auch noch. Wenn du nichts zu fressen findest, kannst du was von ihrem Futter abhaben. Walter stellt ihr jeden Abend ein kleines Schüsselchen mit Nassfutter auf die Terrasse.“ Jetzt lugten auch Seppis kleine Knopfaugen aus dem Heu. „Das wäre toll! Das hat die alte Dame nebenan auch immer gemacht. Ich hoffe, da zieht wieder jemand ein der Tiere mag.“ Balu hörte auf sich zu putzen. „Wie kommst du darauf, dass da wieder jemand einzieht?“ „Neulich waren Leute da. Die sind überall rumgelaufen – im Haus und im Garten. Und haben darüber geredet, was man alles ausbessern und neu machen muss. Hab sie nicht gekannt. Und dann waren sie auch schon wieder weg.“ Balu war jetzt richtig aufgeregt. „Fremde Leute? Eventuell neue Nachbarn? Warum habe ich nichts mitbekommen?“ Seppi leckte etwas Tau von einem Grashalm, der ihn aber an der Nase kitzelte, so dass er niesen musste. „Das war ... also, ähm ... ich glaube vor drei Tagen, oder so? Ach, du weißt doch, dass wir Igel uns mit Zahlen schwer tun. Euer Auto war weg an dem Mittag.“ Balu überlegte. Vor drei Tagen waren sie zu Hause gewesen, aber vorgestern hatte ihn Walter am Nachmittag zum Einkaufen mitgenommen. „Dann war es vor zwei Tagen, Seppi. Aber erzähl doch: was waren das für Leute? War an denen irgendwas Besonderes?“ Seppi zog sich schüchtern wieder etwas in seine Heuhöhle zurück. „Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. Hab ja auch nicht hingeschaut, sondern mich versteckt. Bei Fremden weißt du nie! Aber es waren nur Männer, da bin ich mir ganz sicher.“ Der kleine Igel schlüpfte aus seinem Versteck und streckte erst das rechte Hinterbein, dann das linke genüsslich aus. „Ich geh rüber zur Terrasse und schau was noch an Katzenfutter da ist.“ Balu lief gemütlich neben ihm her und setzte unterwegs die ein oder andere Markierung. Walter fegte gerade ein paar Blätter vom letzten Herbst von der Terrasse, als Balu mit wedelnder Rute auf ihn zu gerannt kam. „Stell dir vor Walter: wir kriegen neue Nachbarn! Der Seppi hat sie schon gesehen und die wollen auch ganz viel neu machen und sich ums Grundstück kümmern!“ Walter, der natürlich nichts verstanden hatte, tätschelte dem Wolfsspitz den Kopf. „Du bist ja ganz aufgeregt, Balu. Das liegt sicher am tollen Wetter! Hast recht - einfach herrlich …“ Walters blick wurde von einer Bewegung auf der Dorfstraße eingefangen. Ein Jogger in neongelber Sportkleidung trabte dort locker vor sich hin und wedelte wie wild mit den Armen in Walters Richtung. „Huhuuuuuu!“, rief er schrill und bog in den Weg zu Walters Haus ein. Wenige Sekunden später stand ein heftig atmender Eugen Heesterkamp an Walters Zaun. Er beugte sich leicht vornüber und versuchte seinen Atem zu beruhigen. „Hallo … Walter. Alles … gut … bei Ihnen?“, hechelte er. „Bei mir schon. Da mache ich mir gerade eher Sorgen um sie, Eugen“. Tatsächlich hatte der ehemalige Gymnasiallehrer (Oberstudienrat AD, Fächer: Biologie und Sport) eine besorgniserregende rote Gesichtsfarbe mit bläulichen Flecken an den Ohrläppchen und der Nase. „Nein, nein … alles … in bester … Ordnung!“ Er drückte kurz auf sein schwarzes Armband, das daraufhin leise zu piepsen begann. Nach kurzer Zeit erklang ein durchgehender Ton und Eugen hielt Walter lächelnd das Armband unter die Nase. „Hier! Perfekt. Puls 123. Bisher 1240 Kalorien verbrannt.“ „Um Gottes willen!“, entfuhr es Walter. „Ich hole Ihnen einen Stuhl und ein Glas Wasser!“ Walter war schon auf dem Weg Richtung Haus, als Eugen ihn zurück rief. „Aber nein. Das ist ein idealer Wert. Die Fettverbrennung funktioniert am besten bei einem Puls zwischen 115 und 125. Zumindest bei meinem durchtrainierten Körper. Bei ihnen wäre das wahrscheinlich niedriger. So zwischen 100 und 110.“ Walter fragte sich, ob er das als Beleidigung auffassen sollte, entschied sich aber dagegen. „Ich hatte mal einen 95er Puls. Da hat mir der Arzt Tabletten verschrieben. Die nehme ich bis heute.“ Eugen setzte sein überhebliches Gymnasiallehrergesicht auf und hob belehrend den Zeigefinger. „Natürlich ist ein Ruhepuls über 90 nicht gut. Ein Belastungspuls ist in diesem Bereich aber genau richtig. Ich drucke nachher die Daten von meinem Fitness-Tracker als Diagramm aus, dann könnte ich Ihnen den Verlauf genau zeigen.“ Walter hatte keine Ahnung, wovon Eugen redete. Ein „Trecker“ hatte bei ihm vier Räder und ein solcher war weit und breit nicht zu sehen. „Ach, ist schon gut. Wenn es Ihnen nur gut geht. Aber warum tun sie das? Sie sind doch eh nicht zu dick.“ „Ich jogge, damit das so bleibt. Muss ja nicht jeder so ein kleines Wohlstandsbäuchlein haben, gell?“ Schuldbewusst blickte Walter auf seinen Bauch, der den freien Blick auf seine Schuhe verhinderte. Eigentlich hatte Eugen ja Recht. Etwas weniger Bauch wäre schon schön – auch wegen der Lederhose. Er beschloss darüber nachzudenken, aber nicht jetzt. „Für so was hab ich keine Zeit. Ich muss heute dringend meine drei Hochstämme schneiden. Schiebe das schon seit Wochen vor mir her und bald wird’s warm … dann ist es zu spät.“ „Da kann ich Ihnen doch helfen! Ich habe letztes Jahr am Schuhmacherhof einen Kurs gemacht, damit ich meinen Golden Delicius schneiden kann.“ Was Walter am aller wenigsten wollte, war mit einem dozierenden Oberlehrer im Schlepptau den Nachmittag zu verbringen. „Nein, nein. Das geht schon“, stammelte er. „Bin da ganz schnell durch. Ich möchte doch nicht Ihre wertvolle Trainingszeit vergeuden.“ Eugen hatte gerade mit seltsamen Übungen begonnen, um seine Beinmuskulatur zu dehnen. „Da haben Sie auch wieder Recht. Wissen Sie, ich möchte im Sommer beim Halbmarathon in Lindau mitlaufen. Bis dahin ist noch einiges an Training zu absolvieren.“ Jetzt spreizte er mit dem Rücken zu Walter die Beine und ließ seinen Oberkörper kerzengerade langsam nach unten sinken. Als seine Hände fast den Boden berührten, zeigte sein knochiges Hinterteil steil nach oben und durch den dünnen Stoff der Laufhose zeichnete sich deutlich seine Männlichkeit ab. Walter drehte sich erschreckt zur Seite und hielt sich eine Hand vor die Augen. „Ja Scheißendrecken! So was aber auch!“ Da Eugen sich selbst von hinten nicht sehen konnte, bezog er den Ausruf auf seine Absage zum Baumschneiden. „Also, wenn Sie doch jemanden brauchen, ist das kein Problem. Sie gehen natürlich vor.“ Walter bekam Panik. Warum er wirklich so erschrocken war, konnte er ja nicht sagen. „Nein. Das war nicht wegen Ihnen das war … das war … wegen dem Igel da! Ja Scheißndrecken – ist der schon wach?“ Seppi blickte erschreckt hoch und machte sich auf seinen kurzen Beinen so schnell es ging davon. „Balu! Hilfe! Balu! Die wollen mich fressen!“ Der Wolfsspitz, der gerade einer alten Fuchsspur nachgeschnuppert hatte, kam sofort angerannt. „Aber Seppi, der Walter würde dir nie was tun. Und der Eugen, naja, vielleicht labert er solange bis du einschläfst, mehr aber auch nicht.“ Der ängstliche Igel beruhigte sich etwas, machte aber trotzdem kehrt und trippelte zurück zu seinem Winterquartier. Balu schaute ihm noch zu, wie er sich im Heu verkroch und den Eingang mit seinen kleinen Pfoten von innen mit Heu und Blättern verschloss, dann gesellte er sich zu Walter, der sich gerade von Eugen verabschiedete. „Ich muss dann jetzt auch. Machen Sie es gut. Ich komme alleine klar.“ Eugen hüpfte ein paarmal albern auf der Stelle, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. „Na dann: viel Erfolg! Und wenn Sie doch Hilfe brauchen – Sie haben ja meine Handynummer! Tschüß!“ Und schon trabte er davon. Walter holte seine Baumschere aus dem kleinen Geräteschuppen und machte sich an die Arbeit. Seppi hatte sich von seinem Schrecken erholt und schlief schon wieder tief, und Balu lag auf der Terrasse und ließ sich von der Märzsonne das Fell wärmen. Was für ein wunderschöner Tag.

 

5

Der Sonntag ist der Tag des Herrn. Pfarrer Sailer hielt sich bis heute daran. Eigentlich war er im Ruhestand, doch der Priestermangel in der katholischen Kirche wirkte sich in den ländlichen Regionen am verheerendsten aus. Der aktuelle Pfarrer war für gleich drei Gemeinden verantwortlich, so dass im günstigsten Fall alle drei Wochen ein Gottesdienst in Taldorf stattfand. Da Pfarrer Sailer zwar pensioniert, aber immer noch geweihter Priester war, las er einmal im Monat aushilfsweise die Messe. Nicht in der großen St. Petrus Kirche in Taldorf, sondern in der kleinen Kapelle in Alberskirch. Sie entsprach genau seiner Vorstellung einer Dorfkirche: nicht zu groß, geschmackvoll geschmückt und heimelig. Hier hatte er immer das Gefühl seiner Gemeinde besonders nah zu sein. Oft ging er sonntagfrüh vor dem Gottesdienst allein in der Kirche umher und genoss in aller Ruhe die unglaubliche Würde des Gebäudes. Es erfüllte ihn mit Ehrfurcht, wenn er daran dachte, dass diese Mauern gut 660 Jahre alt waren. 1353 wurde die Kirche erstmals als Pfarrkirche erwähnt und war damit einiges älter als die große Kirche in Taldorf.

Heute würde er wieder die Messe lesen, doch er schämte sich ein wenig, denn er war keineswegs gut vorbereitet. Freitag und Samstag hatte er fast ausschließlich in den alten Aufzeichnungen der Ärzte recherchiert. Er hatte Stammbäume für die einzelnen Familien angelegt und die Notizen des Arztes hinzugefügt, und so erstaunliche Zusammenhänge gefunden. Körperliche Merkmale die generationenübergreifend immer wieder auftauchten, wie ein Hammerzeh oder ein kurzer Hals, auch Erbkrankheiten wie Herzschwäche oder Demenz. Er war erschrocken, als ihm Annemarie, seine Haushälterin, am Samstagvormittag um kurz nach elf Uhr die gebügelte Wäsche gebracht hatte, so vertieft war er in seine Arbeit gewesen. Sie hatte mit ihm einen Kaffee getrunken und sogar geholfen, einige recht unleserliche Passagen zu entziffern. Als sie gegangen war, hatte er den Gottesdienst vorbereitet, war spazieren gegangen, hatte eine Kleinigkeit zu Abend gegessen und war früh zu Bett gegangen. Doch er war noch lange wach gelegen. Seine Arbeit mit den alten Büchern hatte ihn aufgewühlt und die ziellos umher irrenden Gedanken hielten ihn immer wieder vom Einschlafen ab.

Am Sonntagmorgen verspürte er ein undefinierbares Glücksgefühl. Als er sich seinen Kaffee machte, sah er immer wieder verstohlen zu den Büchern hinüber. Draußen wurde es gerade erst hell, doch für Pfarrer Sailer war es der schönste Sonnenaufgang seit langem. Die Vögel begannen zu zwitschern und klangen irgendwie fröhlicher als sonst, und sogar der Kaffee schmeckte um Welten besser. Eglon, sein Kater schien dieses Gefühl nicht zu teilen. Nachdem er ausgiebig gefressen hatte, miaute er abwechselnd vor der Eingangs- und der Hintertür. Immer, wenn Pfarrer Sailer ihm eine Tür öffnete, schaute er kurz hinaus, um dann umzudrehen und an der anderen Tür dasselbe Theater zu machen. Nach fünf Runden gab der alte Pfarrer auf und ließ den Kater vor der geöffneten Hintertür sitzen. Um halb neun machte er sich zu Fuß auf den Weg zur zweihundert Meter entfernten Kirche. Er war voller Tatendrang und bester Laune und pfiff fröhlich vor sich hin. Das würde mit Sicherheit eine schöne Messe werden. Er hoffte, dass auch seine Gemeinde so fühlen und diesen Tag nicht so schnell vergessen würde.

6

Walter ging nicht in die Kirche. In keine Kirche. Das letzte Mal hatte er vor vier Jahren einen Gottesdienst besucht. Es war die Beerdigung seiner Frau Anita gewesen. Danach sah er keinen Sinn mehr darin zu einem Gott zu beten, der ihm das Liebste im Leben genommen hatte. Früher waren er und Anita sonntags regelmäßig gemeinsam zur Messe gegangen und hinterher zur Goschamarie. Walter war jedoch überzeugt, dass man auch ohne Kirchbesuch zum Frühschoppen gehen konnte. Das hatte sogar einen Vorteil: er konnte ein paar Stunden länger schlafen.

Balus Fell war frisch gebürstet und Walter trug sein bestes Hemd. Der Frühnebel hatte sich schon verzogen und die Sonne strahlte überraschend kräftig für einen Morgen im März. Walter war früh dran und der Parkplatz vor der Wirtschaft war noch leer. Als er die Gaststube betrat, wurde er von Marie herzlich begrüßt.

„Morga Walter. Bischt wieder der Eerscht! Hocksch die schomal nah, i sott no da Ofa schiera.“ Der große Kachelofen war die einzige Heizung in der Gaststube und musste regelmäßig befeuert werden. Es war kühl und Walter fröstelte leicht, als er sich an den Stammtisch setzte. Es roch streng nach kaltem Zigarettenrauch und schalem Bier, aber Walter widerstand dem Wunsch alle Fenster aufzureißen, da es sonst noch kälter geworden wäre. Balu unter der Eckbank spitzte die Ohren, als von draußen Stimmen zu hören waren. Mehrere Autotüren wurden geöffnet und wieder zu geschlagen. Dann kam einer nach dem anderen herein. In nur zwei Minuten füllte sich die gesamte Gaststube und der Lärmpegel stieg durch die vielen Gespräche fast ins Unerträgliche. Elmar kam mit seinem Bruder Theo, Max und Peter kamen alleine. Auch Otto und Manne, zwei ältere Taldorfer, setzten sich verfroren an den Stammtisch. In der Kirche war es kalt gewesen. Otto legte die Hände zusammen und pustete durch die Finger, um sie aufzuwärmen. „Warum kann man eigentlich eine Kirche nicht vernünftig heizen? Das würde doch dem Gottesdienst nicht schaden, oder?“

Manne stimmte ihm zu. „Vielleicht gehört es ja dazu, dass man am Ende die Zehen und Finger nicht mehr spürt.“

Als Marie die Getränke brachte wurde lautstark angestoßen, dann wurden die Gespräche leiser. Elmar zündete sich gierig eine Zigarette an.

„Was war denn heute mit dem alten Pfarrer Sailer los? Der hat ja Feuer gehabt wie ein Zwanzigjähriger!“ Alle lachten, mussten aber zugeben, dass der Pfarrer heute wirklich recht aufgedreht gewesen war. „Gepredigt hat er wie ein Politiker im Bundestagswahlkampf. Richtig mit Feuer und Leidenschaft. Sonst muss ich bei ihm immer aufpassen, dass mir die Augen nicht zu fallen.“

Marie hatte zugehört. „Woisch Elmar, dätsch du samschtags a wäng frier Hoim ganga hetsch au sonntags koine Probleem mit deine Auga, Kerle!“ Elmar blickte schuldbewusst auf seine Zigarette.

„Du hast vielleicht Recht. Schaut mal, mir zittern sogar die Finger. War gestern wohl das ein oder andere Bierchen zu viel.“ Tatsächlich vibrierte die Lord zwischen seinen Fingern, und auch der Wechsel in die linke Hand brachte nichts.

„Das muss heute am Wetter liegen“, raunte Max. „Da schau, bei mir ist es das Gleiche, und ich war gestern um zehn im Bett.“ Auch Max konnte seine Hände nicht ruhig halten. Jetzt streckten alle die Arme aus und beobachteten, wie ihnen die Hände zitterten. Außer Walters. Der schaute sich erst seine Hände an, dann die der anderen. Da begriff er: die anderen wollten ihn hier ordentlich verarschen. Nett. Walter lachte.

„Das liegt daran, dass ihr alle Alkoholiker seid! Ihr hattet noch keinen Stoff und deshalb zittern eure Hände. Aber zum Glück ist ja „Doktor Walter“ bei euch. Jetzt kuriere ich euch mal schnell. Auf geht’s - zum Wohl!“

Alle nahmen einen ordentlichen Schluck Bier, der tatsächlich zu helfen schien. Ein neutraler Beobachter hätte aber doch festgestellt, dass alle heute etwas zappeliger und fahriger waren als sonst.

Mittlerweile tauchten auch die ersten fremden Gäste auf. Ein anscheinend kälteresistentes Pärchen kam in kurzer Radlermontur mit klappernden Biker-Schuhen in die Gaststube gestakst. Als sie die Tür öffneten, flitzte Kitty geschickt an ihnen vorbei und kroch sofort zu Balu unter die Eckbank.

„Hi Balu! Was hab ich verpasst?“ „Ich soll dich von Seppi grüßen. Der ist gestern schon unterwegs gewesen, um zu fressen. Ich hab ihm gesagt, dass er was von deinem Nassfutter auf der Terrasse haben kann. Ich hoffe, das war in Ordnung?“ Kitty mochte den schüchternen Igel sehr und freute sich, dass es ihm gut ging. „Aber klar doch. Der wird ganz schön Hunger haben nach seinem Winterschlaf. Hast du die beiden da drüben gesehen? Das sind die ersten Radfahrer dieses Jahr. Und in diesen kurzen Klamotten … die müssen verrückt sein!“ Gerade kam Marie an den Tisch der Radler und musterte sie skeptisch. Das hautenge Radlershirt der Frau betonte ihre üppige Oberweite. „Jo Mädle! Hosch du koi Angscht, dass deine Duttla verfrierat? Mir hend doch no it Sommer!“ Die Angesprochene lief rot an und zog die Arme vor den Körper, um ihre Brüste zu verstecken, sagte aber nichts. Ihr Begleiter schmunzelte. „Das Geheimnis ist Thermounterwäsche, Frau Wirtin. Da gibt es wirklich tolle Sachen heutzutage“, erklärte er. „Kann ich bei Ihnen denn gleich bestellen?“ Marie schaute ihm herausfordernd in die Augen. „I woiss it, ob du des kasch. An Kerle, der über Underwesch schwätzt, ka wahrscheinlich it sooo viel!“ „Wir hätten gerne zwei Radler.“ „Radler hon i it. Du kasch a Bier und a Flasch Schprudel hon.“ „Dann nehme ich das.“ Der Radler schaute irritiert, als Marie ihm kurz darauf eine Flasche Bier und eine Flasche Sprudel auf den Tisch knallte. „Ähm … wir bräuchten noch zwei Gläser zum Mischen …“ Marie rollte die Augen und ging maulend Richtung Theke. „So an feina Pinkel! Gläser mecht er hon. Und i schtand nochher wieder a Stund beim Spiala!“ Rundum wurde gelacht. Derartige Szenen gab es öfter, vor allem wenn Fremde kamen. Durch die vielen Menschen wurde es in der Gaststube schnell wärmer. Auch der Zigarettenrauch waberte schon wieder in einer dichten Wolke über den Köpfen, doch trotzdem war es einfach gemütlich. Überall wurde geredet, diskutiert und gelacht. Plötzlich wurde die Tür mit einem Knall aufgestoßen. Im Rahmen stand Karle aus Alberskirch, schwer atmend und mit hochrotem Kopf. Alle starrten ihn an, während er nach Luft rang. Dann endlich hatte er sich etwas beruhigt und konnte wieder sprechen. „Pfarrer Sailer ist tot!“

7

Walter war an diesem Montagmorgen schlecht gelaunt. Sein Radiowecker hatte ihm Andrea Berg entgegen geplärrt. Seine Gedanken kreisten immer noch um den Frühschoppen, der so seltsam verlaufen war. Die Nachricht vom Tod des Pfarrers, die Gespräche und Mutmaßungen über die Todesursache und die Traurigkeit, die sich ausbreitete, nachdem der erste Schreck vergangen war. Alle glaubten, dass es ein Herzinfarkt gewesen war, schließlich hatte Pfarrer Sailer schon einmal einen überlebt. Da er nach dem Gottesdienst allein in der Kirche gewesen war, als es passierte, konnte das aber niemand mit Sicherheit sagen. Karle aus Alberskirch hatte ihn gefunden und den Notarzt angerufen, der aber nur noch den Tod festgestellt hatte. Auch die Polizei war gekommen, angeblich Routine, wenn eine Person tot aufgefunden wird. Einer der Polizisten hatte gesagt, es werde eine Obduktion geben, dann wisse man mehr. Mehr hatte Karle nicht erfahren können und so blieb es bei den Vermutungen.

Viele waren an diesem Tag länger bei der Goschamarie geblieben und irgendwann hatten sie angefangen alte Geschichten aus Pfarrer Sailers Leben zu erzählen. Zum Beispiel über sein „Geheimnis“, dass er immer den übrigen Messwein trank, oder wie er einmal eine Hochzeit einfach vergessen hatte und den kompletten Gottesdienst improvisiert hatte (viele waren bis heute der Meinung, es sei der schönste Traugottesdienst gewesen, den sie je erlebt hatten), wie er zum Schluss vieler Messen sagte „Denken Sie daran: Scheine machen keinen Lärm!“, um die Kollekte aufzubessern und natürlich wie Pfarrer Sailers Katze in die Kirche gekommen war.

Es war gut zwanzig Jahre her, als Pfarrer Sailer eine junge Katze zugelaufen war. Er hätte sich wohl nie ein Haustier zugelegt, aber die kleine Katze hatte sich sein Haus als Bleibe ausgesucht. Und nicht nur das. Sie war so anhänglich, dass Pfarrer Sailer fortan keinen Schritt mehr allein machen konnte. Bei der Gartenarbeit, beim Spazierengehen, bei Arbeiten im Haus – die Katze war dabei. Pfarrer Sailer erinnerte sich damals an eine Stelle in der Bibel, die derartige Treue beschrieb:

„Rut antwortete: Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun - nur der Tod wird mich von dir scheiden.“ (Rut 1,16-17)

Und so bekam die Katze ihren Namen: Rut. Es war kurz vor Weihnachten, als Rut beschloss den Pfarrer auch zum Gottesdienst zu begleiten. Irgendwie war sie mit den Besuchern in die Kirche geschlüpft und hatte sich versteckt. Als Pfarrer Sailer dann seine Predigt hielt, kam sie hervor, setzte sich vor ihm auf den Boden, neigte ihr Köpfchen etwas zur Seite und hörte aufmerksam zu. Die ganze Gemeinde tuschelte und kicherte, aber Pfarrer Sailer sagte nur, dass auch Katzen Geschöpfe Gottes seien und fuhr unbeirrt mit seiner Predigt fort. Fortan war sie bei fast jedem Gottesdienst dabei gewesen und war für die Kinder im Dorf der Grund überhaupt in die Kirche zu gehen.

 

Walter war noch ganz in Gedanken, als Jusuf auf den Hof fuhr. Der Kaffee war noch nicht fertig.

„Entschuldige, dass du warten musst, Jusuf. Ich bin heute noch etwas durch den Wind, nachdem was gestern passiert ist.“ Walter erzählte in aller Kürze was geschehen war und machte eilig den Kaffee fertig.

„Isch hab Pfarrer nisch gut gekannt. Bin doch Moslem. Aber war glaub isch netter Mann. Hab ihm bei der Kinderfest mal kenne gelernt.“ Er nahm einen großen Schluck Kaffee. „Aber sag mal Walter: brauchscht du dann ein Zeitung weniger, wenn Pfarrer ist nicht mehr da?“

Darüber hatte Walter noch gar nicht nachgedacht, aber Pfarrer Sailers Abonnement war sicher noch nicht gekündigt, also würde er ihm eine Zeitung vor die Tür legen. Bezahlt ist bezahlt. Schwaben sind da eigen. Jusuf stimmte ihm zu, trank seine Tasse leer und machte sich wieder auf den Weg. Walter belud sein Fahrrad mit den Zeitungen und begann seine Tour.

Wie immer trottete Balu ein paar Meter voraus. Als Walter vor Pfarrer Sailers Haus stand, versuchte Balu die Witterung von Eglon aufzunehmen, konnte aber nichts riechen. Auch Walter musste an den Kater denken und lief am Haus vorbei zum Hintereingang. Der Mond schien recht hell und er konnte durch das Fenster in die Küche sehen.

„Er ist nicht da“, bellte Balu leise. „Ich kann Eglon nirgends sehen“, sagte Walter und handelte sich damit einen missbilligenden Blick von seinem Wolfsspitz ein. Balu wusste bis heute nicht, ob Walter ihn wirklich nicht verstand oder einfach nicht zuhörte. Balu sprang mit einem eleganten Satz auf einen Haufen Brennholz, der vor dem Fenster aufgestapelt war. In der Küche war alles so wie Pfarrer Sailer es am Sonntagmorgen verlassen hatte. Zwei benutzte Teller standen in der Spüle, auf dem Tisch eine Kaffeetasse. Daneben ein ganzer Stapel alter, ledergebundener Bücher. Die zwei Stühle waren ordentlich unter den Tisch geschoben und die Tür zum Hausgang war halb offen. Walter hatte das Gefühl, der Pfarrer könnte jeden Augenblick durch diese Tür kommen, so normal sah alles aus. Er seufzte, ging zurück zum Vordereingang und schob die Zeitung zwischen Tür und Klinke. Balu versuchte noch an ein paar Stellen Eglons Witterung aufzunehmen, aber der dicke Kater blieb unauffindbar. Er nahm sich vor, sobald wie möglich mit Kitty nach ihm zu suchen.

Am Ende seiner Tour kam Walter wie immer nach Taldorf. Am alten Schulhaus war extra für die Zeitung eine Art Rohr angebracht. Walter rollte das Papier und schob es hinein.

„Guten Morgen, Walter!“, platzte eine Stimme aus der Dunkelheit. Walter stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht und prallte gegen sein Fahrrad, das mit einem lauten Scheppern umfiel.

„Ja Scheißndreckn“, fluchte er, während das Hoflicht anging. Sogar Balu war erschrocken und hatte zweimal laut gebellt.

„Was für ein herrlicher Morgen. Finden Sie nicht auch?“ Eugen Heesterkamp stand in einem roten Jogginganzug im Türrahmen, in der Hand ein großes Glas mit einer grünen Pampe darin.

„Wie können Sie mich denn so erschrecken? Reicht Ihnen ein Herzinfarkt pro Woche nicht?“ Walter versuchte sich zu beruhigen, aber sein Herz schlug immer noch wie wild. Eugen grinste ihn breit an.

„Ach mein Lieber, da sind wir wohl etwas schreckhaft, hmmm? Könnte mir nie passieren. Bin immer aufmerksam und vorsichtig. Aber ICH … bin ja auch fit und nicht so unbeholfen und tapsig!“

Walter verstand die Anspielung sofort, ging aber nicht darauf ein. „Hab ich Ihnen doch neulich schon gesagt: das richtige Training und die Pfunde purzeln und man wird auch viel beweglicher. Und auch sonst verbessern sich alle Vitalfunktionen, die Blutwerte, die Leberwerte …“ Walter wollte ihm eigentlich sagen, wo genau er sich sein Training samt Vitalwerten hin stecken konnte, doch er musste an Pfarrer Sailers Herzinfarkt denken - und an seinen Hausarzt, der ihm schon mehrmals geraten hatte, etwas abzunehmen - und an seine Lederhose, die fast nicht mehr passte.

„Hmm … was müsste ich denn da machen“, fragte Walter vorsichtig.

„Wenn man es richtig machen will, gehört viel Bewegung dazu. Am besten Joggen, aber Radfahren geht natürlich auch. Und ganz wichtig: eine Ernährungsumstellung. Ich kann Ihnen da gerne mal was zusammenstellen. Haben Sie denn passende Sportkleidung? Vor allem gute Laufschuhe sind wichtig!“ Eugen war ganz in seinem Element, aber vielleicht war das ja genau das, was Walter brauchte.

„Also ich hab da schon noch einen Trainingsanzug … aus meiner Zeit in der Betriebssportgruppe …“ Eugen schlug die Hände vor der Brust zusammen und lachte.

„Dann ist das Ding ja sicher zehn Jahre alt!“ Fünfzehn, dachte Walter. „Da muss was Neues her. Wir können ja mal zusammen zum Sport Reischmann gehen. Da kriegen wir auch gleich ein paar gute Joggingschuhe für Sie.“ Walters Kopfkino sprang an und zeigte ihn mit Eugen beim Einkaufen: wie Walter immer wieder in die Umkleidekabine ging, um kurz darauf in den verrücktesten Sportklamotten herauszukommen, wie sich einige Zuschauer im Halbkreis um ihn herum aufstellten und bei jedem neuen Outfit lachten, wie sich einige schon auf dem Boden kugelten und sich die Bäuche hielten.

„Nein!“, rief Walter laut und hatte das Gefühl ganz Taldorf müsste jetzt wach sein. „Nein“, wiederholte er leiser. „Wir werden sicher nicht wie ein altes Ehepaar Klamotten kaufen gehen. Aber ich werde mir bei Ihnen rechtzeitig Rat holen, versprochen. Schönen Tag noch!“ Walter machte auf dem Absatz kehrt und ließ Eugen verblüfft im Dunkeln stehen.

Walter genoss gerade seinen Feierabend-Schnaps auf der Treppe der Goschamarie, als Kitty an der Hausecke auftauchte.

„Hey Balu! Gibt’s schon was Neues von Pfarrer Sailer?“ „Nein, habe noch nichts gehört. Aber ich mache mir Sorgen um Eglon. Wo steckt der bloß? Ich konnte ihn nirgends wittern.“ Kitty bemerkte, dass Balu ernsthaft besorgt war und rieb sich freundlich an seiner Seite. „Balu, mach dir nicht zu viele Sorgen. Du kennst doch Eglon! Der liegt irgendwo auf einem warmen Sofa und verdaut das letzte Essen. Wäre das nicht so, würdest du ihn überall beim Betteln oder sogar Stehlen sehen!“ Balu wusste, dass Kitty damit wahrscheinlich Recht hatte, wollte aber auf Nummer sicher gehen. „Hast du nachher schon was vor? Ich denke, ich kann mich aus dem Haus schleichen, wenn Walter sich hinlegt. In der Küche schließt er tagsüber nie ab. Dann komme ich raus in den Garten und wir können nach Alberskirch laufen und nochmal nach Eglon suchen, okay?“ Kitty konnte dem Wolfsspitz einfach nichts abschlagen. „Natürlich komme ich mit - schon weil ich eine viel bessere Nase habe als du.“ „Nein, hast du nicht“, bellte Balu gespielt empört. „In einer Stunde bin ich wieder hier, dann sehen wir, wer den besseren Riecher hat.“ Er zwinkerte Kitty kurz zu und rannte hinter Walter her, der schon fast zu Hause war.