Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde

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Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde
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Goschamarie

Alte Geschichten – neue Freunde

Ein Taldorf-Krimi

Impressum

2. korrigierte Auflage

Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2018

Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2018

Korrektur: Claudia Kufeld (Kierspe)

Verlag:

Stefan Mitrenga

Bodenseestraße 14

88213 Ravensburg

mail@stefanmitrenga.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Taldorf, ungefähr zwölf Kilometer westlich von Ravensburg. In früheren Zeiten der Sommersitz der Weissenauer Mönche, heute eine der begehrtesten Wohnlagen im Umkreis. Dort lebt es sich ruhig und beschaulich, nur an den Geruch der Gülle, die auf die Felder gespritzt wird, muss man sich gewöhnen.

Im Ort gibt es keinen Einkaufsladen, Arzt oder eine Tankstelle – nicht einmal eine Wirtschaft. Doch das war nicht immer so. Einst gab es gleich zwei Gaststätten, die sich beide nicht über zu wenig Zulauf beklagen konnten.

Eine davon war der Gasthof „Zur Traube“. Dort gab es für wenig Geld riesige Vesperteller und gute Hausmannskost, serviert von einer legendären Frau, die bis heute jedem im Großraum Ravensburg ein Begriff ist: die Goschamarie.

Mit ihrer unnachahmlichen Art machte sie ihre Gaststätte, und damit auch den Ort Taldorf, bis weit ins Land hinein berühmt. Man ging „zur Goschamarie“ um zu essen und zu trinken – und um etwas zu erleben. Hat man heute die Ehre sich an einen der vielen Stammtische im Taldorfer Umkreis setzen zu dürfen, so findet sich in der Runde immer einer, der eine unglaubliche Geschichte von der Goschamarie erzählen kann.

Dann, Ende der Neunziger, wurde in der Traube der Zapfhahn für immer zugedreht, nur die Geschichten blieben. Leider kommen keine neuen mehr hinzu. Bis jetzt. Gönnen Sie sich den Spaß und lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Stellen Sie sich vor, die Traube öffnet nach wie vor jeden Tag ihre Türen und unzählige Gäste von nah und fern strömen herbei. Es wird mit Euro bezahlt, obwohl sich Marie jahrelang gegen „des nixige Europageld“ gewehrt hat. Fast jeder besitzt ein Smartphone und sogar gestandene Mannsbilder trinken gerne mal einen Aperol Spritz. Doch die Vesperportionen sind gleich geblieben und Marie regiert in ihrer Gaststätte nach wie vor mit eiserner Hand, auch wenn sie diese durch den dichten Zigarettenrauch oft kaum sehen kann.

Sie haben Angst, Sie bekommen keinen Platz?

Aber sicher doch! Am Eingang steht Marie und winkt Ihnen freundlich zu:

„Stellet eich it so ah! Kommet rei! Fier eich hon i immer no a Plätzle frei!“

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.

Vorspiel

02. Februar 2009, 2.35 Uhr

Schwere Wolken schieben sich vor den Mond wie der schwere Vorhang am Ende der Theatervorstellung. Der stattliche Bauernhof hebt sich nur wage von der Umgebung ab. Aus dem nahegelegenen Wald dringen vereinzelt die Geräusche wilder Tiere. Ein flüchtiger, feuchter Schleier liegt über den Senken der angrenzenden Wiesen. Nicht ungewöhnlich in einer Februarnacht. Zwei Lichter steuern langsam auf den Hof zu und erlöschen in der Einfahrt.

Dr. Baumann bemüht sich leise zu sein, als er die Autotür zuschlägt. Unnötig. Im Wohnhaus sind alle wach, sonst wohnt weit und breit niemand.

Der alte Mann liegt halb zugedeckt in seinem Bett. Jeder Atemzug kostet ihn unendlich viel Kraft. Ein leises Gurgeln beim Einatmen, das Ausatmen wie entweichende Luft aus einem undichten Reifen. Ein Schlauch spannt sich von Ohr zu Ohr und lässt aus zwei Öffnungen Sauerstoff direkt in die Nasenlöcher strömen. Er hat die Augen geschlossen und seine Arme liegen schlaff neben seinem Körper auf der Bettdecke. Auf dem kleinen Nachttisch steht eine alte Lampe, die kaum den halben Raum beleuchtet. Der deckenhohe Kleiderschrank gegenüber des Bettes ist so tief, dass nur ein schmaler Durchgang bleibt. Das Fenster auf der rechten Seite ist geschlossen und von schweren Vorhängen verdeckt. Die Tür gegenüber des Bettes öffnet sich langsam. Ein Keil aus kühler Luft bohrt sich in die Stickigkeit des Raumes. Dr. Baumann stellt seine Arzttasche am Fußende des Bettes ab und nimmt sein Stethoskop heraus. Der alte Mann spürt die kalte Membran des Geräts auf seiner Brust und schaudert leicht. Kurz atmet er etwas heftiger, öffnet dann gequält die Augen und nickt dem Arzt kaum merklich zu. Dr. Baumann beugt sich hinab und kommt mit dem Ohr ganz nah an den Mund des alten Mannes.

„Ich muss mit meinem Sohn sprechen ... jetzt.“

Ohne ein Wort greift der Arzt nach seiner Tasche und verlässt das Zimmer.

In der Küche sitzen der Sohn, dessen Frau und der Knecht am Esstisch. Rote Augen. Verquollen. Zerzauste Haare, knittrige Kleidung. Keiner spricht. Ein Feuer im Herd knackt leise vor sich hin. Keine Reaktion als der Arzt die Küche betritt. Er legt dem Sohn eine Hand auf die Schulter.

„Er will dich sehen.“

Der Sohn verharrt einen Moment und löst sich dann schwerfällig vom Tisch.

Als er das Zimmer betritt, erscheint ihm alles seltsam fremd. Der Geruch, die Wände, die Möbel, selbst der Teppich unter seinen Schuhen. Klarheit: Dies wird ihr letztes Gespräch sein. Mit einer fast unsichtbaren Geste winkt ihn die so vertraute Hand ans Bett. Der Sohn setzt sich und beugt den Kopf hinunter zu dem seines Vaters. Ohne die Augen zu öffnen spricht dieser seine letzten Worte.

„Es tut mir leid, dass ich dir nun dieses Geheimnis anvertrauen muss ... aber es muss bewahrt werden ...DU musst es bewahren!“

Der alte Mann spricht langsam und deutlich, immer wieder mit kurzen Pausen. Er weiß, was er zu sagen hat. Und so erfährt der Sohn das Unglaubliche.

Nach einiger Zeit öffnet der Arzt vorsichtig die Tür. Auf dem Bett liegen zwei Männer. Blasse Gesichter, die Augen fest geschlossen. Nur einer der beiden lebt.

1

Gleich, dachte Walter, gleich passiert es. Wie jeden Morgen. In einer Minute würde sein Radiowecker über den neuen Tag entscheiden. Walter war immer vor dem Wecker wach, blieb aber mit geschlossenen Augen liegen, um das erste Lied des Tages zu hören. Ein Lied, das ihm gefällt, bedeutete einen guten Tag, andernfalls wäre es ein schlechter. Eingestellt war sein Lieblingssender S4 Bodenseeradio. Die Minutenanzeige sprang auf 2.30 Uhr und aus dem Lautsprecher erklang Beatrice Egli mit „Mein Herz“. Walter lächelte und öffnete die Augen. Er mochte die kleine dralle Schweizerin mit ihren Pausbäckchen, dem ehrlichen Lächeln und den sternenhaft funkelnden Augen. Also ein guter Tag. Er schob die Daunendecke beiseite und schlüpfte schnell in den bereit gelegten Morgenmantel. Er fröstelte leicht, denn es war kalt im Schlafzimmer. Auf der Treppe hinunter zur Küche hörte er schon Balus erwartungsvolles Winseln. Seit drei Jahren war der Wolfspitzrüde sein Mitbewohner. Sein einziger Mitbewohner und sein bester Freund.

Nach der allmorgendlichen stürmischen Begrüßung bei der Balu um ihn herum hüpfte und ihm die Hände leckte, öffnete Walter den Holzherd und scharrte mit dem Schürhaken in der Asche. Zwei kleine Glutnester taten sich auf und Walter warf ein paar Scheite Anzündholz darauf, die sofort Feuer fingen. Er füllte den Wasserkessel, steckte das Signalpfeifchen auf den Ausgießer und stellte ihn auf den Herd.

„Wie wär’s mit Frühstück, alter Freund?“

Balu verstand und seine Augen wurden groß, während er sich mit der langen Zunge feucht ums Maul leckte. Walter füllte Balus Napf mit Hundefutter und warf drei große Stücke Buchenholz in den Herd.

Der Wasserkessel meldete sich mit einem anschwellenden Pfeifen, als Walter gerade aus dem Bad kam. Er schüttete das kochende Wasser in seine französische Kaffeemaschine und ging sich anziehen. Warme Unterwäsche, Hemd, Hose, Hosenträger. Bis vor kurzem hatte noch ein Gürtel ausgereicht, doch dann waren um Weihnachten herum noch ein paar Kilos dazugekommen und Walter musste sich Hosenträger kaufen. Dabei war er nicht dick. Mit 1,68 m war er nur einfach etwas zu klein für die 92 Kilo.

Unten bellte Balu zweimal für „Besuch“ und nur Sekunden später wurde ein Auto vor dem Haus abgestellt. Walter öffnete im Vorbeigehen die Eingangstür und presste dann in der Küche den Kaffee ab. Zwei Tassen standen auf dem Tisch, als Jusuf freudig von Balu begrüßt wurde.

„Ei Walter – gute Morge!“

„Guten Morgen, Jusuf. Alles gut?“

Der Türke schaute angewidert Richtung Tür und schlang sich die Arme um den Oberkörper.

„Nix gut heute. Ist scheißenkalt da drauße. Hab isch müssen kratzen Scheibe. Aber bin isch hier jetzt.“

Walter musste lächeln. Er kannte Jusuf seit er vor drei Jahren den Job als Zeitungsausträger angenommen hatte. Jusuf brachte die Zeitungen von der Druckerei zu den Austrägern. Durchgefroren klammerte er sich an seine dampfende Kaffeetasse, während sie noch ein bisschen tratschten. Mit einem „Machst du gut heute, Walter“, machte er sich dann wieder auf den Weg. Noch vier weitere Austräger warteten auf ihre Zeitungen.

Walter genoss es zu so früher Stunde mit seinem Fahrrad durch Taldorf zu fahren. Zuerst hatte er seine Zeitungen in Alberskirch und Dürnast verteilt, war über die Höhe nach Wernsreute gefahren und war nun auf dem Heimweg. Es war vollkommen ruhig. Frühnebelschwaden krochen von den Wiesen in die Ortschaft und zeichneten alle Konturen weich. Balu trottete vergnügt voraus und wartete am nächsten Briefkasten.

„Hey Balu! Willst du dich in meinen Pferdeäpfeln wälzen? Die sind schön warm!“, höhnte eine Stimme hinter einer halb geöffneten Stalltür. Bimbo. Balu kannte den Haflinger Wallach seit er als Welpe nach Taldorf gekommen war. Und er mochte ihn nicht. Keines der Tiere im Dorf mochte Bimbo. Was die Menschen immer als freundliches Gewieher verstanden, waren in Wahrheit meist üble Beschimpfungen oder vulgäres Geplapper. „Friss Dreck!“, kläffte Balu schroff zurück und trottete weiter. „Hälst dich wohl für was Besseres, weil du frei rumlaufen darfst, hä?“, geiferte der Wallach. „Geh mal nach China! Da werden Tölen wie du in den Topf geschmissen!“

 

Doch Balu war schon außer Hörweite.

Walter pfiff leise die Titelmelodie einer alten TV-Serie. Noch fünf Zeitungen bis zum Feierabend und die letzten Häuser mochte er am liebsten. Es war das sogenannte „Hinterdorf“ von Taldorf mit dem Gasthof „Zur Traube“ als Mittelpunkt. Die Gäste kamen von weit her, doch sprachen sie nie von dem Lokal „Zur Traube“, sondern von seiner einzigartigen Wirtin, der Goschamarie. Arbeiter, Handwerker, Bauern kamen hierher, aber auch Polizisten, Politiker und Prominenz. Es war Goschamaries Art mit den Gästen umzugehen, die einen Besuch in der Traube zu einem unvergleichlichen Erlebnis machte.

Jetzt um kurz vor vier war bei der Goschamarie alles ruhig, was nicht selbstverständlich war. Walter hatte schon einige Male die Zeitung vor die Tür gelegt, während drinnen noch ordentlich gezecht wurde. Heute klemmte er sie zwischen Tür und Klinke und tastete dann vorsichtig den Fenstersims rechts neben der Tür ab. Auf einem Bierdeckel fand er das Schnapsglas, das für ihn bereit stand. Goschamaries Art „danke“ zu sagen.

Während er den eiskalten Schnaps nippte, schlenderte eine schlanke Tigerkatze unter einem im Hof abgestellten Heuwagen hervor. Balu begrüßte sie mit wedelnder Rute.

„Hi Kitty. Schon Mäuse erwischt?“ Kitty ließ sich gerne von Balu beschnüffeln und rieb ihren Kopf an seiner Flanke. „Nein. Bis vor einer halben Stunde war hier noch richtig was los. Da verziehen sich die kleinen Biester immer in die Scheune. Außerdem hab ich keinen Hunger - Marie hat mir Hackbraten rausgestellt. Willst du probieren?“ Balu folgte der Katze um den Heuwagen herum zum Napf und aß ein paar Happen. „Kommt ihr heute Abend zum Stammtisch?“, fragte Kitty. Die Zeitung, die Walter austrug, erschien sechsmal in der Woche, aber Stephan, ein Junge aus Taldorf, brauchte Geld, da er sich einen Roller kaufen wollte, und Walter hatte ihm den Samstag gern überlassen. So konnte er sich freitags mit seinen Freunden zum Stammtisch treffen ohne ständig auf die Uhr zu sehen. „Na klar kommen wir. Du kannst ja etwas früher rüber kommen und uns abholen!“ „Mach ich“, antwortete Kitty, stupste Balu in die Flanke und verschwand in Richtung Scheune.

Woher kommt eigentlich das Sprichwort „die verstehen sich wie Hund und Katze“, dachte sich Walter oft, wenn er die beiden Tiere beobachtete. Er stellte das leere Schnapsglas zurück und machte sich auf den Heimweg. Es war Freitag und er freute sich auf den Abend mit seinen Freunden.

2

Während Walter sich in seine warme Bettdecke hüllte, um noch ein paar Stunden zu schlafen, ging in einem Haus in Alberskirch das erste Licht an. Pfarrer Sailer setzte sich umständlich auf und hob die Beine vorsichtig mit den Händen aus dem Bett. Gerade in der kalten Jahreszeit quälte ihn seine Arthrose besonders. Er schob die Füße in die Filzpantoffeln, blieb aber noch ein paar Sekunden sitzen bis der Schmerz in den steifen Knien etwas nachließ. Er vermisste das Privileg der Jugend alles sofort, schnell und ohne Schmerzen tun zu können. Doch er beschwerte sich nicht. Immerhin hatte er einen schweren Herzinfarkt überlebt und konnte seit drei Jahren seinen Ruhestand genießen.

Noch im Nachthemd tapste er in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. An den entkoffeinierten Kaffee hatte er sich erst gewöhnen müssen, doch nach einer Weile war die Erinnerung an echten Kaffee verblasst. Leise röchelnd spritzten die ersten Wassertropfen auf das Pulver, das sofort sein wundervolles Aroma verströmte. An der Tür zum Garten war ein leises Kratzen zu hören. Der Pfarrer öffnete die Tür einen Spalt und ein beleibter rothaariger Kater trappelte schnurstracks zu seinem Fressnapf.

„Guten Morgen, Eglon! Dein Futter kommt gleich.“

Eglon lebte seit zwei Jahren bei Pfarrer Sailer. Er war im Nachbardorf Wernsreute mit fünf anderen Kätzchen zur Welt gekommen und als er etwas größer war, wurde er an Pfarrer Sailer verschenkt, der gerade eine neue Katze suchte. Er war damals schon ein Pummelchen gewesen und so hatte ihn der Pfarrer nach einem Moabiterkönig aus der Bibel benannt, der dort als „sehr dicker Mann“ beschrieben wurde. Als er endlich sein Futter bekam, machte sich der Kater sofort darüber her, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen.

Pfarrer Sailer schaute Eglon kurz beim Fressen zu, wandte sich dann aber seinem eigentlichen Vorhaben zu. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel alter Bücher. Sie waren der Grund, warum Pfarrer Sailer so früh wach war.

Ein Bekannter hatte das alte Arzthaus in Dürnast gekauft, und die schweren, in Leder gebundenen Bücher in einem Karton auf dem Dachboden entdeckt. Jeder wusste, wie sehr sich Pfarrer Sailer für die Geschichte und Geschichten der Region interessierte, darum hatte der Bekannte ihm diesen historischen Schatz gerne ausgeliehen.

Er konnte es kaum erwarten in ihnen zu stöbern. Was würde er alles entdecken?

Die Bücher waren in ordentlicher Schrift von Hand geschrieben. Sie enthielten die Aufzeichnungen von insgesamt drei Taldorfer Ärzten, beginnend im Jahr 1803. Damals gab es noch keine Patientenakten, weshalb die Einträge nicht alphabetisch sortiert waren, sondern nach Datum. Er schlug das erste Buch auf und fuhr liebevoll mit der Hand über die eng beschriebene Seite. Der erste Eintrag stammte vom sechsten Juni 1803, einem Montag. „H. Wachter mit Zahnweh. Eitrigen Zahn entfernt. Kamillenumschläge angeraten.“ Pfarrer Sailer wollte sich gar nicht vorstellen, wie das Zähne ziehen damals abgelaufen war. Ein unbequemer Stuhl, eine rostige Zange, keine Betäubung – „... und jetzt schön den Mund auflassen!“.

Er schüttelte den Kopf, um das grausame Bild zu vertreiben und goss Kaffee in seine Lieblingstasse, dazu etwas Milch, ein Löffel Zucker. Er blätterte einige Seiten weiter, fand aber nichts Außergewöhnliches. Zahnbehandlungen tauchten fast täglich auf, Bauchweh bei Kindern, kleinere Verletzungen bei den Arbeitern. Auch Ausschläge und eitrige Wunden waren an der Tagesordnung.

Pfarrer Sailer überflog grob die nächsten Seiten, blätterte vor und zurück und entdeckte immer mehr bekannte Familiennamen. Viele waren heute noch in der Gemeinde verbreitet. Aus den Aufzeichnungen des Arztes konnte man so viel über das damalige Leben erfahren: Krankheiten, Schwangerschaften, Todesfälle, Erbkrankheiten oder auch Missbildungen. Alles war sorgfältig festgehalten worden. Er nahm sich vor, die Fakten zu sortieren, so dass am Ende die Krankengeschichten den einzelnen Familien zugeordnet werden konnten.

Pfarrer Sailer nippte an seiner Tasse und notierte einen ersten Namen in seinem kleinen Notizbuch. Er wusste, dass ihm viel Arbeit bevor stand, aber er hatte ja Zeit. Was für längst vergessene Geschichten würde er wohl finden?

Eglon hatte ihn die letzten Minuten beobachtet, während er sein Fell und seine Barthaare putzte. Er kannte das Interesse des alten Mannes an Geschichten und Geheimnissen, kannte aber auch die Gefahren.

„Manche Geheimnisse sollten auch geheim bleiben!“

3

Walter zwängte sich in seine lederne Trachtenhose. Zum Glück hatte er sie damals etwas größer gekauft, sonst käme er jetzt nicht mehr hinein.

„Ich muss dringend ein bisschen abnehmen“, murmelte er seinem Spiegelbild zu. Balu lag flach auf dem Boden und beobachtete Walter mitleidig. Er konnte nicht verstehen, warum der große Hund im Himmel Wesen erschaffen hatte, die überhaupt kein Fell hatten. Sie mussten sich mit Kleidung behelfen, um die kalte Jahreszeit zu überstehen. Und dann passte die Kleidung noch nicht mal richtig. Walter hielt die Luft an und zerrte am Hosenbund. Der Hosenknopf näherte sich Millimeter für Millimeter seinem vorbestimmten Loch. Ein gepresstes „Uah!“, dann hakte der Knopf ein. Mit hochrotem Kopf ging Walter die Treppe hinunter, um seine Jacke anzuziehen. Es war Zeit für den Stammtisch.

Als Balu und Walter das Haus verließen, gesellte sich Kitty zu ihnen.

„Da seid ihr ja endlich. Hat Walter wieder mit seiner Hose gekämpft?“, lästerte die Katze. „Und wie! Irgendwann wird der Knopf abreißen und dann möchte ich nicht in der Nähe sein! Das Teil wird wie ein Geschoss durch die Luft schießen!“ Beide Tiere lachten und folgten Walter zur Goschamarie. Das Gasthaus war nur ein paar hundert Meter von Walters Haus entfernt. Auf dem Parkplatz standen schon einige Autos. Auch zwei Traktoren. Am Bach gegenüber erleichterte sich gerade einer der Gäste. „Grüß dich Walter!“, rief dieser und winkte mit der linken Hand (da er die rechte nicht frei hatte). Walter winkte zurück und ging die drei Stufen zur Eingangstür hinauf. Im Hausgang standen zwei Ehepaare und warteten auf einen freien Platz. Sie waren nicht aus Taldorf, sonst hätten sie einen Platz gehabt. „Darf ich mal durch?“, fragte Walter und schob sich an den Wartenden vorbei und betrat die Gaststube mit Balu und Kitty, die sich schnell unter die Eckbank am Stammtisch legten. Dort saßen schon Max, Peter und Elmar. Marie kassierte gerade an einem Tisch mit Zimmerleuten ab, die alle noch ihre Arbeitskleidung trugen. Sie nickte Walter kurz zu, der sich auf seinen freien Platz am Stammtisch setzte. Heute war Freitag und dies war freitags sein Platz. Deshalb war er noch frei. Kurz darauf brachte Marie die Getränke. Für Walter zwei Flaschen Bier, beide schon geöffnet. „Griaß di Walter! Schee, dass do bisch. Dei Veschper kommt au glei.“ Und schon war sie wieder weg, um den frei gewordenen Zimmermannstisch mit ein paar Bauarbeitern zu besetzen, die gerade gekommen waren. Die beiden Paare standen immer noch im Hausgang. „Die hent reserviert“, raunte Marie ihnen zu, als sie ihre missbilligenden Blicke bemerkte. In Wahrheit hatte natürlich niemand reserviert, aber bei der Goschamarie hatten Freunde und Bekannte immer Vorrang. Walter hob eine der beiden Bierflaschen und streckte sie am ausgestreckten Arm in die Tischmitte. „Zum Wohl meine Herren! Wieder eine Woche geschafft!“ Elmar, Max und Peter erhoben ebenfalls ihre Flaschen und mit viel Schwung und einem zustimmendem „So isches!“ wurde angestoßen. Elmar, der jüngste am Tisch, fingerte eine Lord aus der Schachtel. Walter schaute besorgt zu der niedrigen Decke, unter der bereits eine dichte Rauchwolke waberte. „Kannst du dir die Qualmerei überhaupt noch leisten?“ Elmar hatte sich vor einem halben Jahr als Fliesenleger selbstständig gemacht und kämpfte noch um sein monatliches Auskommen. „Klar. Hab ja was gespart. Aber sag mal Walter: ich hab gehört das Häusle neben deinem wäre verkauft. Weißt du da was?“ Walters Haus lag nicht im Dorfkern, sondern an einem Weg etwas außerhalb. Daneben befand sich noch ein weiteres Haus, das aber unbewohnt war, seit die Besitzerin vor ungefähr einem Jahr gestorben war. „Ich hab nichts gehört. War auch noch niemand da. Wäre mir aber nur recht, wenn da mal einer aufräumen würde. Der Girsch springt überall über den Zaun zu mir rüber.“ Walter hasste das dreifingerige Unkraut, das nicht zu bändigen war. Es überwucherte bereits den gesamten Nachbargarten und schaffte es mit unterirdischen Trieben zielstrebig auch in seine Blumen- und Gemüsebeete. „So Walter, dei Veschper. Loss es dir schmecka!“ Für diesen Vesperteller war Marie berühmt. Was hier für zehn Euro auf den Teller kam, reichte bequem um eine vierköpfige Familie zwei Tage zu ernähren. Schinkenwurst, Blutwurst, grobe Leberwurst, zwei Essiggurken und ein riesiges Stück Rauchfleisch. Dazu frisches Bauernbrot. Walter langte kräftig zu und ließ hin und wieder unauffällig ein kleines Stück Rauchfleisch für Balu und Kitty auf den Boden fallen. Elmar kam wieder auf sein Thema zurück. „Ich hab das von meinem Schwager gehört. Der arbeitet doch auf dem Amt. Das Häusle hat irgendwer von weiter weg gekauft. Bei Frankfurt, sagt mein Schwager. Weißt du, da ist doch sicher einiges zu richten. Ein neues Bad und so. Wäre ideal für einen ortsansässigen Fliesenleger.“ Elmar zwinkerte und saugte genüsslich an seiner Lord. „Wer von weiter weg kauft sich denn hier so eine alte Hütte?“, knurrte Max. Er war der ruhigste am Stammtisch, hatte aber das bemerkenswerte Talent immer die richtigen Fragen zu stellen. „Klar, das Grundstück ist groß, die Lage ruhig – aber halt am Arsch der Welt. Vor allem für ein Frankfurter Würstchen!“ Sie lachten über Max’ Wortspiel und Walter verschluckte sich fast an einem Stück Schinkenwurst. Am Nebentisch wurde bezahlt und abgeräumt. Die beiden Pärchen aus dem Flur witterten ihre Chance. Während die alten Gäste aufstanden, nahmen sie ihnen die Stühle aus der Hand und setzten sich. „Nun bin ich aber sehr gespannt, was wir hier tolles bekommen. Nachdem uns diese Lokalität mehrfach empfohlen wurde“, dozierte einer der beiden Männer in druckreifem Hochdeutsch. Er hob eine Hand und winkte in Maries Richtung. „Frau Wirtin! Die Speisekarte bitte!“ Als Marie sich dem Tisch näherte, wurde es ruhig im Raum. Walter hatte sogar das Gefühl, es wurde kälter. Marie baute sich mit verschränkten Armen vor dem Hochdeutschsprecher auf. „A Karta hon i net. Brauch i au net. I woiss jo, wasses gibt.“ Der Mann hatte offensichtlich Probleme alles zu verstehen, denn er kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf zur Seite, wie ein Hund, wenn man mit der Zunge schnalzt. „Aber ich muss doch wissen, was ich bestellen kann!“, brachte er – jetzt schon deutlich unsicherer – hervor. „Des ka i dir au sage: a Veschper gibts. Gucksch do beim Walter. So sieht des aus. Des nimmsch oder losch es!“ Der Mann wechselte ein paar Blicke mit seinen Begleitern und bestellte dann für alle vier. „Und die Getränke? Was können Sie uns denn da empfehlen?“ Marie rollte mit den Augen und schnaufte genervt aus. „Empfähla ka i dir gar nix, du Schwungguschtl. Du kasch a Bier hon, an Wei oder a Wasser. N Schnaps packsch du eh it!“ Der Mann gab auf und bestellte Bier für sich und seinen Freund, für die Frauen Wein und eine Flasche Wasser. Balu und Kitty kicherten unter der Eckbank. „Marie kann auf Fremde schon sehr einschüchternd wirken, dabei ist sie so ein guter Mensch“. Balu schob Kitty noch einen Rauchfleischschnipsel hin. „Das ist sie wirklich. Und sie spricht sogar mit mir, wie alle guten Menschen.“ Kitty konnte, wie alle Katzen übrigens, in die Herzen der Menschen sehen. Sie hatte sich noch nie geirrt. „Pass auf! Gleich kommt Pfarrer Sailer. Ich habe seinen Peugeot im Hof gehört.“ Wie auf Kommando drehten beide Tiere ihren Kopf zur Tür. Pfarrer Sailer stolperte mit hochrotem Kopf in die Gaststube und suchte nach einem freien Platz. Er war kein Stammgast, aber ein gern gesehener. Er sah Marie am anderen Ende des Raumes und nickte ihr zum Gruß zu. Sie verstand und kämpfte sich zum Tresen durch, um ihm seinen Trollinger einzuschenken. An einem kleinen Tisch in der Ecke saßen drei Bauern aus der Umgebung und spielten Skat. Pfarrer Sailer begrüßte sie freundlich und setzte sich zu ihnen. „Heute kennt er uns wohl nicht“, grummelte Max. „Wird der alte Herr Pfarrer jetzt etwa zum Kartenspieler?“ Peter klopfte eine Priese Schnupftabak auf seinen Handrücken und gab das silberne Döschen dann an Max weiter. „Mit einem Pfarrer würde ich nie Karten spielen“, sagte er und zog den Tabak in die Nase. „Zum einen würde ich eh immer glauben, dass er Hilfe von oben kriegt, und wenn ich dann mal gute Karten hätte, würde ich ihn wahrscheinlich trotzdem gewinnen lassen. Man will es sich mit dem da oben ja nicht verscherzen.“ Elmar schüttelte den Kopf. „Ich würde ihn nicht gewinnen lassen! Wenn meine Karten besser wären, hätte es der Herrgott wohl so gewollt.“ Am Tisch der Skatspieler wurde es plötzlich laut. „Ach hör doch auf mit dem alten Scheiß! Interessiert ja doch keinen.“ Josef, ein Bauer aus Herrgottsfeld warf seine Karten auf den Tisch und stand auf. „Hätte ich gewusst dass heute nur geredet wird, wäre ich gar nicht erst gekommen!“ Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne und verließ wütend die Gaststube. „Reden beim Kartenspielen mag ich auch nicht“, sagte Walter und legte sein Besteck auf den Teller. Er hatte gerade mal die Hälfte gegessen. Mehr ging nicht. Marie würde ihm nachher eine Plastiktüte für den Rest geben. „Beim Skat musst du dich konzentrieren. Aufpassen, wer was spielt. Und mitzählen, welche Karten schon gefallen sind. Wenn da dauernd einer redet, kannst du es vergessen.“ Max, Peter und Elmar stimmten ihm brummelnd zu, dann diskutierten sie noch eine Weile, ob nicht Binokel eigentlich das bessere Kartenspiel sei. Als Walters zweites Bier leer war, winkte er Marie mit seiner Börse zu. Sie kam und knallte ihren schweren, ledernen Geldbeutel auf den Tisch und stellte ein Sprudelglas vor Walter, das ungefähr zu einem Viertel gefüllt war. Mit Obstler. „Ui Marie, den hab ich aber nicht bestellt“, versuchte Walter sich herauszureden. „Isch scho räat. Der got auf mi. Zahle musch oi Veschper und zwoi Bier. Wieviel Brot hosch kett?“ Beim Brot kannte Marie keinen Spaß. Jede Scheibe kostete 30 Cent. Walter hatte zwei Scheiben gegessen. „Denn gibsch mir vierzeh sechzig.“ Walter legte 15 Euro auf den Tisch und verzichtete aufs Wechselgeld. Auch Max und Peter bezahlten. Nur Elmar wollte noch bleiben. Walter, Max und Peter verabschiedeten sich vom ganzen Lokal mit einem kurzen Gruß und von Marie mit einem „Danke! Bis bald wieder“. „Machets guat, ziernet nix, kommet wieder!“, rief sie ihnen hinterher. Vor der Tür gingen die drei getrennte Wege. Walter mit seiner Plastiktüte voll Wurst zu Fuß, die beiden anderen stiegen in ihre Autos. Balu und Kitty freuten sich endlich wieder an der frischen Luft zu sein. „Was war denn vorhin mit dem Josef los?“, fragte Balu. „Der alte Pfarrer hat doch sicher nichts Schlimmes gesagt. Wie kann man denn da gleich so sauer sein?“ „Der war nicht sauer“, korrigierte Kitty, „Joseph hatte Angst.“