Steinige Jagd

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Steinige Jagd
Font:Smaller АаLarger Aa

Steinige Jagd

Eine andere Weihnachtsgeschichte

Thomas Jütte

Wenn der Humor ernstgenommen wird,

hört der Spaß auf.

Lionel Strachey (1864-1927), englischer Humorist

Ein herzliches Dankeschön an meine “Privat-Lektoren” - meine Ehefrau Andrea und meine Schwester Judith - für ihre Geduld und Verständnis für meine spezielle Art von Humor...

Thomas Jütte, Oktober 2015

Ungekürzte Ausgabe

1. Auflage November 2015

epubli GmbH,

Prinzessinnenstraße 20, 10969 Berlin

www.epubli.de

Umschlagkonzept: Thomas Jütte

Fotos: fotolia

Druck: epubli-GmbH

Vorgeschichte

Knecht Ruprecht lief es eiskalt den Rücken herunter.

Angstvoll starrte er auf den maskierten Mann, seinen Entführer, der sich selbst "Billy the Kidnapper" nannte. Das konnte nicht nur, das musste ein Pseudonym sein.

Der Mann war mit einem furchteinflößenden Messer bewaffnet. Mit fiebrigem Glitzern in den Augen, das Schlimmes ahnen ließ, hob der Verbrecher langsam seine mörderische Stichwaffe, in der eindeutigen Absicht, gnadenlos zuzustechen.

„Das können Sie… doch… nicht tun“, flehte der prominente Gefangene, der bis zur Bewegungslosigkeit gefesselt war. Das Zittern in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Kann ich nicht? KANN ICH NICHT?! Wieso KANN ich nicht?!?“

„Weil…, weil…, weil ich dann nie wieder ein Wort mit Ihnen rede...“

„Diese Sprüche… Immer diese Sprüche!“, rastete Billy förmlich aus, wieder einmal. „Aber damit ist jetzt endlich und endgültig Schluss!“

Mit rasendem Tempo fuhr das Messer nieder und bohrte sich unbarmherzig in sein Ziel, um dann in einer schlitzenden Bewegung brutal nach vorne gezogen zu werden.

Entsetzt heulte der Knecht auf.

War das das Ende? Sein Ende?

Das Ende einer langen Aera?

Das Ende der fruchtbaren Partnerschaft mit Santa Claus?

Obwohl, wirklich vermissen wird ihn wohl kaum jemand. Ungezogene Rotzlöffel zum Beispiel, die schmerzhafte Bekanntschaft mit seiner Rute gemacht hatten, könnten gut und gerne auf ihn verzichten. Zudem zweifeln immer mehr vom zügellosen Internet statt von strenger Hand erzogene Präpubertierende an der Existenz dieser einstigen weihnachtlichen Kultfigur.

Doch was war der Auslöser für diesen verbrecherischen Akt? Was steckte hinter der perfiden Entführung von Knecht Ruprecht? Wer, in aller Welt, war so respektlos, so abgestumpft, sich an dem Kompagnon des Weihnachtsmannes zu vergreifen? Wer riskierte es, auf deren berüchtigte schwarze Liste zu kommen, mit der bitteren Konsequenz, künftig keine Geschenke mehr zu bekommen?

Alles begann wenige Tage zuvor mit einer defekten Apparatur im winterlich verschneiten Lappland…

Coca-Cola

Er sei nur ein ganz gewöhnlicher „Elf“. Gewöhnlich und lustig. Ein Elf mit kugeliger, dicker Plautze. Der so drollig Beschriebene verzog säuerlich das Gesicht: „So ein ein hanebüchener Blödsinn.“

Als wäre das nicht schon genug, wurde ihm als Bekleidung noch ein Fell angedichtet: „Fell vor allen Dingen. Fell…!“

Wäre der unselige Verfasser dieser verunglimpfenden Personenbeschreibung - ein Mann namens Clement Clarke Moore - nicht schon längst bei den Seinen, hätte er ihm längst eine Klage an den Hals gehängt. Aber nicht wegen Rufschädigung. „Nein, wegen Beleidigung!“

Es soll übrigens auf das Jahr 1823 zurückgehen, als Moore, seines Zeichens Professor der orientalischen und griechischen Literatur sowie Schriftsteller eigenen Gnadens, besagte Beschreibung in einem seiner Gedichte veröffentlicht hatte.

„Von wegen Gedicht. Ein Pamphlet ist das, ein dummes...“, ärgerte sich der so Düpierte.

„Da erdreistete sich dieser, dieser… Künstler sogar, noch Einiges drauf zu setzen." Er hätte glitzernde Augen, rosige Bäckchen, eine Nase wie eine Kirsche (Kirsche!!!), einen langen, schneeweißen Bart und ständig eine Pfeife im Mundwinkel.

„Nein, diese Respektlosigkeit. Warum nicht gleich noch mehr solcher Klischees?!?“

Die gab es in der Tat später, im Jahre 1931, als der in die USA eingewanderte Schwede, Haddon Sundblom, von Beruf Grafiker und Cartoonist, für die Coca-Cola-Company eine Symbolfigur für die anstehende Weihnachtskampagne gestalten sollte.

Sundblom zog Moores „Elf“ kurzerhand das Fell über die Ohren und verpasste ihm ein neues Outfit in Form eines auffallend roten Mantels... mit weißem Fellbesatz. Dazu setzte er ihm eine farblich passende Zipfelmütze auf, drückte ihm eine halbvolle Coca-Cola-Flasche in die Hand und bot ihn, derart werbewirksam präpariert, einem Millionenpublikum in aller Welt dar.

Aus dem lustigen, bodenständigen Elf war ein recht markanter, cola-benebelter Hanswurst in schwulem Rot-weiß geworden, der vielen Kindern sicherlich nicht nur schöne Träume bescherte...

Derart der Lächerlichkeit preisgegeben, wäre seiner Meinung nach auch der Tatbestand der Vorsätzlichkeit erfüllt, geschweige der Verletzung des Persönlichkeitsrechts.

Wütend pfefferte der ehemalige „Elf“ seine Lieblings-Illustrierte Suomen Kuvalehti in die Ecke, in der ihm die doppelseitige Coca-Cola-Werbeanzeige ins Auge gesprungen war.

„Dieser Herabwürdigung widerspreche ich aufs Schärfste!" brachte sich der Betroffene immer weiter in Rage. Die Werbung kam ihm gerade recht, denn eigentlich war er schon den ganzen Tag übel gelaunt.

Der Elf hatte natürlich auch einen Namen. Von Amtswegen hieß er Aleksanteri Claus, wobei er von vielen kurzerhand Santa Claus genannt wurde, er aber den Namen Santu Claus favorisierte.

Letztendlich war ihm das aber egal. Seinetwegen könnte man ihn auch mit Heiliger Claus ansprechen, oder mit Herr Weihnachtsmann oder auch mit Heiliger Vater. Ach nein, da gab's ja schon einen, da in Rom.

Nicht aber einen Weihnachtsmann. Richtig gehört: Weihnachtsmann! Da gäbe es nicht den geringsten Zweifel, wie der Weißbärtige selbstgefällig und unermüdlich jedem, der es hören wollte, auf die Nase band: „Ich bin DER Weihnachtsmann, der echte, der einzige...!"

Fell trüge er übrigens seit der Erfindung der klimaregulierenden Kapokfaser-Feinstrumpfhose schon lange nicht mehr. Und rotweißes Outfit? „Na ja, gelegentlich." Daran gewöhnte man sich übrigens schnell. Auch aus praktischen Gründen. Denn es sorgte in der Dunkelheit schon für etwas mehr Sicherheit. Und da er meistens nachts unterwegs war... Warum also nicht?

Pfeife rauchte er allerdings nur, wenn es ihm richtig gut ging. Meistens gegen Feierabend, nach dem Weihnachtswahnsinn, wenn er endlich seinen gebeutelten Sack an den Nagel hängen konnte und zur Ruhe kam. Und wenn Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner und Blitzen, sein - seiner Meinung nach - recht tumbes Rengetier, erschöpft alle Hufe von sich streckte.

Im Moment war keine Pfeife angesagt, denn im Moment war er äußerst aufgeregt. Das war, gelinde gesagt, weit untertrieben: Schieres Entsetzen hatte ihn gepackt.

Dieses hatte weder etwas mit der Coca-Cola-Werbung noch mit dem alljährliche Kraftakt zu tun, der ihm noch bevor stand - schließlich schrieb man erst den vorweihnachtlichen 16. Dezember.

Nein, der Grund war, dass das Unfassbare, das Unaussprechliche drohte: Weihnachten ohne ihn, dem Weihnachtsmann.

Tatsächlich. Das Highlight eines jeden Jahres, die Parade-Veranstaltung am 24. Dezember, das Finale also, drohte ins Wasser zu fallen, zumindest was die materielle Seite dieses Spektakels betraf. Denn es war etwas passiert, was nie hätte passieren dürfen…

Ukonkivi

„Chef‚ ‘s Zeit, die Hardware zu checken", erinnerte ihn Rooperti einen Tag zuvor: Wie immer pünktlich, aber auch wie immer unnötig.

Rooperti war die rechte Hand von Santa, bzw. Santu. Er selbst bezeichnete sich bescheiden nur als dessen Handlanger oder als Knecht seiner weihnachtlichen Eminenz.

Nun gut, im Grunde schmeichelte das Santu sehr. Dennoch sah er sich der Form halber hin und wieder dazu genötigt, diese Aussage zu relativieren, wenn auch nur halbherzig. Denn ohne Rooperti, alias Ruprecht, Rühpert, Rupperich oder Zwarte Piet, wie er von den einen oder anderen genannt wird, wäre ihr Job in ihrer speziellen Dienstleistungsbranche nur halb so effektiv. Sie beide bildeten quasi eine Symbiose, ein Dream-Team, galten bei den Kollegen hinter vorgehaltener Hand schon – oftmals milde bis mitleidig belächelt - als das „Dynamische Duo".

Aufgrund ihrer strikten Arbeitsteilung ergänzten sich beide nahezu perfekt und rannten mit ihrer scheinbar einstudierten „Guter-Cop-Böser-Cop-Nummer" regelrecht Türen ein, im wahrsten Sinne des Wortes.

Während Claus, der „Gute", für glückseliges Glitzern in den Augen der braven Kleinen sorgte, erfüllte sein Knecht, der „Böse“, den Gegenpart. Und zwar für ihr anderes Klientel, für die - ihrer Meinung nach - unartige, ungezogene und verstockte Brut, der es galt, ihre gerechte Strafe in Form drakonischer, oft schmerzhafter Maßnahmen zukommen zu lassen.

Im Grunde übte Santu seinen Saisonjob mit Herz und Leidenschaft aus. Es befriedigte ihn nicht nur, sonder es machte ihm sogar richtig Spaß – meistens zumindest.

Auch der „böse“ Rooperti war mit ganzem Herzen bei der Sache. Vor allem dann, wenn sein spezielles Arbeitsutensil zum Einsatz kommen durfte. Dabei handelte es sich um ein ruppig aussehendes Gebinde, zusammengesetzt aus rund 15 stramm-gebündelten Weidenruten…

Glückseligkeit war es, was sich bei der Arbeit in seinen Augen widerspiegelte. Ein fröhliches Glitzern, das beim Einsatz der Rute in krasser Opposition zu dem Schimmern in den Äugelein der domestizierten Betroffenen stand.

 

„Nein, nein Chef, es is‘ nich‘ so wie Sie denken", verteidigte sich Rooperti jedes Mal aufs Neue, wenn sich bei Santu wieder einmal tadelnd die weiße, buschige Monobraue hochzog, was seiner Stirn das Aussehen einer Steirischen verlieh.

„Sie wissen's doch genau, Chef: Es gibt jedes Jahr leider immer mehr Rotzlöffel, die das nötig haben, die's förmlich brauchen", wurde er nie müde, seine nicht unumstrittenen Methoden mit scheinheiligstem Blick zu begründen.

Fragt sich nur, wer das braucht, wurde Santu Claus ebenfalls niemals müde, sich seine ganz persönlichen Gedanken darüber zu machen.

Im Grunde war Rooperti nach Ansicht Santus ein lieber Kerl und eine treue Seele, wenn auch oftmals sehr tollpatschig.

Eigentlich ein richtiger Schatz, wie er fand. Und manchmal auch ein richtiger Spaßvogel. Na ja, ist nicht gerade mein Humor. Aber was soll's?

Santu und sein Kompagnon hatten beruflich schon viele Jahre zusammen zu tun. Jedoch konnte er nicht unbedingt sagen, dass er seinem Knecht dabei näher gekommen war. Dazu bot sich aber auch kaum Gelegenheit. Denn nach dem vorweihnachtlichen Stress und der heiligabendlichen Ochsentour machte sich sein Knecht, begleitet von Rentier Rudolph (das heißt tatsächlich so…), umgehend auf den Weg in seine Heimat nach Ukonkivi. Das ist eine winzige Insel im südwestlichen Teil des riesigen Inarisees, nicht weit entfernt vom Städtchen Inari gelegen.

Dort verbrachten Rooperti und Rudolph den ganzen Sommer unentdeckt, weil gut versteckt, in einem Gewölbe eines Berges, das aber eher den Ausdruck Hügel verdient hätte. Dieser Ort wurde von den Samen, den finnischen Ureinwohnern, als Kultstätte verehrt, respektiert und somit auch gemieden.

Womit sich "Roop & Rud" dort die ganzen Monate beschäftigten? Santu hatte nicht die leiseste Ahnung. Aber im Grunde interessierte ihn das auch nicht. Nicht wirklich.

„Ora et labora" faselte der Knecht erst kürzlich, wie immer unverbindlich und nichtssagend, als Santu wieder einmal von ihm wissen wollte, was sie denn dort den ganzen Sommer über so trieben.

„Beten und Arbeiten?“, äußerte Santu seine Verwunderung. „Beten, okay. Aber zusätzliches Knechten?“ Nein, das konnte er nun wirklich nicht nachvollziehen, bei ihrem arbeitsintensiven, stressigen Dezember-Job.

In Santus Team brodelte bereits die Gerüchteküche. Denn um Roopertis Vergangenheit rankten sich die merkwürdigsten Geschichten. So wurde er tatsächlich mit den spätmittelalterlichen Kinderfressern und anderen Unholden in eine Reihe gestellt, wie zum Beispiel dem Popelmann, dem Mumlar oder dem schandlichen Clauß (Clauß? Claus!).

„Der Kinderfresser", so drohte man seinerzeit dem ungehobelten Nachwuchs, „schnappt euch unchristliche Balgen, schlitzt euch auf, peitscht euch bis aufs Blut aus und frisst euch anschließend auf."

Kaum zu glauben, aber das war einst tatsächlich die landläufige Meinung: Knecht Ruprecht und seine unfreundlichen Spießgesellen verschleppten unartige Kinder, packten sie in Sack, Fass oder Korb, um sie dann zu verspeisen.

Nun, ein Knecht Rooperti verschleppte im 21. Jahrhundert wahrscheinlich keine jungen Menschlein mehr, um sie dann aufzuessen. Dennoch, so schien es zumindest, liebäugelte Rooperti sehr mit der althergebrachten Variante, züchtigende Elemente als legitimes Mittel für eine ordnungsgemäße Entwicklung körperlicher und geistiger Art einzusetzen - trotz aller neuzeitlichen, scheinbar so fortschrittlichen Erziehungsmethoden.

Korvatunturi

Alle Jahre wieder, immer Anfang Dezember, machten sich Rooperti und Rudolph auf den Weg durch die eisige Kälte zurück zu Santa/Santu Claus.

Der residierte und arbeitete im weit sichtbaren Korvatunturi. Dabei handelte es sich um einem ausgehöhlten, immerhin fast 500 Meter hohen Berg im Urho-Kekkonen-National-Park im finnischen Nord-Lappland. Dort hatte sich der Weihnachtsmann vor langer Zeit niedergelassen und seinen Vertrieb aufgebaut.

Dieses Jahr war es nicht anders. Wieder einmal stapften Rooperti und Rudolph zu Fuß durch die weiße, eisig erstarrte Winterlandschaft Lapplands in Richtung Korvatunturi.

Wie immer waren beide schon von Weitem zu erkennen. Kein Wunder, fielen sie doch auf wie ein bayrisches Pfingstochsen-Gespann in der namibischen Kalahari: Denn statt in seiner üblichen düster-grauen Berufskluft war Rooperti, der Tarnung wegen, so behauptete er zumindest, in traditioneller, grellbunter samischer Landestracht unterwegs. Also unauffällig auffällig - oder auch umgekehrt.

Rudolphs Äußere dagegen war reines Balsam für die Augen des Betrachters: Er stakste wie üblich in neutral-graubraunem Winterpelz durch die tiefverschneite Einöde.

Das erfahrene Rentier betrachtete übrigens auffällige Outfits als Ausdruck eines narzisstischen Selbstdarstellungs-Defizits. Rudolph hatte diesbezüglich halt seine eigene Meinung, und zudem ein dickes Fell. Außerdem gäbe es in seiner Größe ja eh nichts Passendes, Samisches…

Korvatunturi, der in grauer Vorzeit vermutlich nur durch vulkanische Aktivitäten aufgefallen war, bot mit seiner Infrastruktur ideale Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf des Weihnachtsgeschäfts. Neben der Anbindung an das überschaubare Straßen- und Flusswegenetz verfügte die Vertriebsbasis - und das war das Einzigartige - mitten im flachen Krater über einen integrierten „Take-off“-Bereich für das Rentier-Fluggespann. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Vorteil: Die mittelbare Nähe zum weltbekannten Weihnachtspostamt im Weihnachtsmanndorf bei Rovaniemi, das alljährlich in einer Flut an kindlichen Bittbriefen förmlich ertrank.

Check-up

„Boss, was ist denn nun mit der Hardware?!", drängelte Rooperti und stoppte die gedankliche Schlittenfahrt seines Vorgesetzten.

Santu schreckte hoch. „Ja, ja. Schon gut. Dann lass uns mal den Probelauf starten. Los, ab in die Zentrale. Habe schließlich wieder 'mal lange genug auf dich warten müssen. Ich dachte schon, die samischen Schamanen hätten dich geschnappt und ihrem Berg geopfert, so wie du wieder gemustert bist..." Rooperti ist dieses Jahr ungewöhnlich angespannt, fand er. Was hat er nur? Beziehungsstress mit Rudolph? Santu grinste innerlich über diese Vorstellung. Wäre doch nicht so schlimm. Das kommt schließlich in den besten Familien vor.

Bei der Hardware, die es jedes Jahr zu überprüfen galt, handelte es sich um einen Gravitativen Zeitdilatator. Ein hochtechnisches Gerät, das schon bessere Tage erlebt hatte. Aber ohne diese Apparatur wären die zeitlich eng gefassten Auslieferungstermine für die unzähligen Weihnachtsgeschenke unmöglich zu halten.

Der Gravitative Zeitdilatator war ein Gerät, welches – laienhaft ausgedrückt – die Zeit auf der Erdoberfläche um etwa den Faktor 7•10−10 langsamer macht, als im fernen, näherungsweise gravitationsfreien Weltraum.

Santu, voll des Sendungsbewusstseins, erinnerte sich mit selbstgefälligem Schmunzeln an Roopertis Gesicht, als er ihm das erste Mal die Funktionsweise dieses Wundergerätes zu erklären versucht hatte. Da der Knecht zugab, nur „Bahnhof" verstanden zu haben, machte er sich sogar die Mühe, ihm das noch einmal haarklein auseinanderzuklamüsern:

„Stell' dir vor, du bist in einer ständig gleichförmigen Bewegung. Dann ruhst du in einem sogenannten Inertialsystem. Dann geht nach der speziellen Relativitätstheorie jede relativ zu dir bewegte Uhr aus deiner Sicht langsamer. Wobei diesem Phänomen allerdings nicht nur Uhren, sondern die Zeit im bewegten System selbst und damit jedem beliebigen Vorgang unterliegen. Jetzt verstanden, mein lieber Knecht?"

„Wie Sie meinen, Chef..."

Santu seufzte. Hatte sein Knecht das also immer noch nicht kapiert. Aber kein Grund zum Verzweifeln. Für solche Fälle hatte Santu, dem vor Begeisterung über sein eigenes Wissen förmlich die Bartspitze zitterte, die farblose Kurzform parat: „Der Gravitative Zeitdilatator ist eine Zeitraffermaschine. Die Zeit wird gestreckt, vom Tempo her verändert - verschoben quasi. Jetzt geschnallt, du bedauernswerter Unwissender?"

„Ach sooo. Na, das ist ja einfach."

Eben…, bzw. eben nicht.

Fakt war: Die Sache schien weitaus komplizierter als man dachte. Kompliziert, aber unverzichtbar. Denn ohne dieses fantastische Gerät wäre der Besuch von Millionen Haushalten, inklusive heimlicher Zutrittindiewohnungverschaffung, kreativer Geschenkeunterdembaumpositionierung und leise Ausdemstaubmachen einfach nicht möglich.

Der Schaltplan

Der Zeitdilatator hatte die Ausmaße eines größeren Einbaukühlschranks.

Auf den ersten Blick kam er dem Betrachter recht altertümlich und verspielt vor, so, als hätte der englische Schriftsteller H.G. Wells bei seiner Entwicklung mitgemischt. Wells hatte 1895 ebenfalls an einer Zeitmaschine gearbeitet, zumindest in seiner schriftstellerischen Fantasie. Diese Apparatur wurde später als „The Time Machine" gnadenlos in Schrift und Bild, bzw. Zelluloid, vermarktet.

Doch dem ersten antiken Eindruck sollte man in diesem Fall eine zweite Chance geben. Denn das System funktionierte tadellos, so alt es auch schien. Und nur das war entscheidend.

Der zeitraffende „Kühlschrank" stand in der Zentrale im Untergeschoss. Diese war das Herzstück der gesamten Anlage, quasi das Heiligtum.

Unter dem gleißenden Licht der Tageslichtröhren betraten Rooperti und Santu Claus, begleitet von zwei grimmig blickenden Sicherheitswichteln in grüner Uniform, den gnadenlos weißgetünchten und mausgrau bodengefliesten, vollklimatisierten Raum. Obwohl es nicht kalt war, ließ die sterile Atmosphäre Santu jedes Mal frösteln.

Der Begriff steril war eine ordentliche Untertreibung. Denn gegen die Atmosphäre in diesem Raum verströmte sogar eine forensische Pathologie den verträumten Charme einer ostfriesischen Teestube.

„Eine rote Bordüre tät‘ Wunder wirken", murmelte Claus in seinen Bart angesichts des kalten Ambientes.

„Wie meinen, Boss?", Rooperti hatte akustisch nicht verstanden.

„Nichts. Hab' nur laut gedacht.“

Das harte Summen der Kühl- und Stromaggregate durchschnitt die kalte Luft, kitzelte unangenehm Santus empfindliches Trommelfell.

„Leg‘ schon mal die Hebel 2 bis 7 um", befahl Santu und bohrte, um das lästige Kitzeln in den Ohren loszuwerden, leidenschaftlich mit den Zeigefingern in seinen Gehörgängen herum, dass es nur so knatschte. Dann stellte er eigenhändig mit gewichtiger Miene die Zeitschaltuhr auf die gewünschte Verzögerung ein und machte sich an verschiedenen Knöpfen zu schaffen. Anschließend schlug er mit der linken Hand übertrieben heftig auf den roten Sicherheits-Buzzer, der einerseits zum Entsperren, andererseits, beim zweiten Hieb, als Not-Stopp diente. Mit rechts legte er zugleich behutsam den schwarzgelben Master-Stick um.

In Erwartung des erst langsam, dann blitzartigen Hochfahrens des Generators, das dem Crescendo eines jaulenden Katers ähnelte, dem man versehentlich auf den Schwanz getreten war, schloss Claus die Augen.

Wie erwartet tat sich… nichts. Rein gar nichts. Nach einem kurzen Augenblick der Überraschung öffnete er die Augen. Aber alles blieb unverändert: Nichts schnurrte oder jaulte. Nichts blinkte. Und das Schlimmste: Keine Zeit raffte.

Überrascht drehte er sich nach Rooperti um.

„Was ist los? Was hast du jetzt wieder angestellt…, beziehungsweise nicht angestellt? Welchen Schalter hast du vergessen?"

„Negativ, Boss", beschied der Beschuldigte. „Alle Schalter auf ON!"

Merkwürdig. Was hat denn das nun zu bedeuten?

„Chef, ist vielleicht der Stecker ‘raus?", traute sich Rooperti die Mutter aller Unfragen, die meistens den nicht männlichen Fragestellern vorbehalten war.

Santu ließ sich natürlich nicht auf dieses Niveau herab, verdrehte hingegen nur seine Augen, was seinem Knecht allerdings verborgen blieb.

„Hmmm. Dann alle Schalter wieder auf OFF… Und jetzt die Prozedur nochmals von vorne."

Nach einem verstohlenen Blick auf die Steckdose (nur zur Sicherheit! Könnte vielleicht, möglicherweise, eventuell, gegebenenfalls ja doch… wie‘s der Teufel nun mal will), das gleiche Prozedere noch einmal: Alle benötigten Schalter umlegen, Knöpfe drücken und auf den Buzzer hauen…

Atemlose Spannung legte sich über den Raum.

Doch wieder nichts: Das Wundergerät streikte, ignorierte sie, schien sich förmlich über sie lustig zu machen.

 

Santu war mit seinem Latein am Ende: „Was nun, Rooperti. Einen Einfall, aber rasch!“

„Schrotthändler anrufen, Koffer packen und ab nach Hause", entgegnete der Angesprochene hoffnungsvoll wie praktisch. „Hätt‘ natürlich gerne einigen Blagen den Hintern versohlt", fuhr er leutselig fort. „Andererseits täte es der Menschheit vielleicht ganz gut, wenn wir einmal nicht am Start sind, was meinen Sie, Chef?"

„Ganz ausfallen lassen? Warum?"

„Na, dann würde das gemeine Volk erst einmal merken, wie wichtig wir sind. Und was von dem gewohnten Weihnachtsfest ohne uns übrig bliebe! Das wär' mal eine ganz neue Erfahrung." Dann etwas nachdenklich: „Vielleicht würde man dann endlich wieder auf das Wesentliche und auf den eigentlichen Kern dieses Spektakels zurückkommen."

Natürlich, so war der Knecht felsenfest überzeugt, sei ohne ihr Engagement die pure Langeweile angesagt, abgesehen von den Nebenschauplätzen des Festes, nämlich der ausufernden Völlerei, der kurzweiligen Familienkräche und der obligatorischen Fernseh-Nonstop-Berieselung.

Rooperti weiter: „Wir haben's in der Hand. Denn wir sind schließlich die Stars dieses Spektakels. WIR sind Weihnachten! Und den Aufschrei, den würde ich schon gerne mal hören…" Erwartungsvoll schaute Rooperti den Weihnachtsmann nach seiner ungewohnt emotionalen Eruption an.

„Na, na, na. Mal nicht so aufmüpfig, lieber Kollege. Schön wär's vielleicht. Aber das geht leider nicht", entgegnete Santu mechanisch, während sein Gehirn bereits auf Hochtouren arbeitete und nach einer Lösung des eigentlichen Problems suchte. „Das würde uns Millionen kosten. Ach, was sag‘ ich: Milliarden!" Denn schließlich ginge es bei dem „ganzen Brimborium“ nur ums Business, as usual. „Und wir sind nur ein kleines Rädchen in diesem System."

„Überleg' mal", erläuterte Santu weiter, „der Riesenberg an Geschenken. Was machen wir damit? Was ist mit den Lagerkosten? Und dann noch unser Personal, die Zulieferer, die Ausfallhonorare, und nicht zuletzt, unser Tier- und Fuhrpark… Was ist damit?"

Rooperti überlegte - zumindest tat er so. Eine direkte Antwort hatte er also nicht.

„Stell dir einmal vor, jemand verschickt einen Hund oder eine Katze", fuhr Santu fort, „gut verpackt in einem Pappkarton."

„Ja, schooon, aber…"

„Was meinst du wohl, wie die Tierchen nach drei oder mehr Wochen aussehen…?", fuhr Santu unbeirrt fort.

„Selbst, wenn sich die Sache nur zwei Wochen verzögern würde“, fuhr er fort, „dann stell‘ dir einmal vor: Das aufgeregte Kindchen packt mit großen Augen erwartungsvoll sein Geschenk aus. Und statt eines schmuseweichen Kläffers hält es plötzlich ein Steifftier in der Hand, das nie wieder bellen wird, geschweige denn mit dem Schwanz wedeln. Ein ehemaliges Tier, das nach ein paar Tagen Einzelhaft nur noch an einen makabren Scherzartikel zu Halloween erinnert. Und dann noch, brrrh, der Geruch. Ich möchte mir‘s gar nicht vorstellen…"

„Ja, ja, ist schon gut, ich verstehe", stoppte Rooperti die plastischen Ausführungen seines Chefs. „War ja nur so ein Gedanke. Also, was schlagen Sie vor?"

„Ganz einfach: Wir müssen das selbst in die Hand nehmen. Was kaputt geht, kann auch wieder repariert werden. Und zwar von uns: WIR reparieren es!"