Steinige Jagd

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Draußen eilte das Paar schnellen Schrittes zur Dolmus-Haltestelle. Nach kurzer Wartezeit - gelobt sei das türkische Personennahverkehr-System - hielt ein staubgrauer Minibus unbekannten Fabrikats vor deren Nase. Ach Gott, wie klein ist die Welt...

„Viele Glück, Sie sehen wieder", freute sich der alte Lykier... nicht wirklich, hielt ihnen dennoch wie guten Bekannten die Hand hin.

Während Roperti den Handschlag freundlich erwiderte, salutierte Santu militärisch salopp mit zwei Fingern an seinem Mützenrand. Ohne den Gruß zu erwidern stierte der Grauhaarige wortlos erst ihn an, dann auf seine Mütze. Ach, das alte Procedere. Wie nett…

„Taschen hinten", befahl er auf - noch nicht mal fehlerfreiem - türkisch, „und du und du sitzen vorne."

Die beiden Reisenden machten es sich so gut es ging in ihren ausgeleierten Sitzen bequem, direkt hinter dem streng riechenden Fahrer, dessen Kleidungsstücke wohl mehr Kilometer hinter sich gebracht hatten als sein Träger selbst. Und das wahrscheinlich, ohne durch einen, geschweige mehreren Waschgängen olfaktorisch beeinflusst worden zu sein.

Und schon ging es los. 60 Kilometer die Küste entlang. Dieses Mal aber in anderer Richtung.

Auf halber Strecke überraschte der Fahrer seine bunte und laut plappernde Reiseschar wieder mit einem unerlässlichen Zwischenstopp. Der Haltepunkt - diesen als Rastplatz zu bezeichnen wäre sicherlich mehr als geschmeichelt gewesen - war ihnen zur allgemeinen gemischten Freude wohlbekannt und weckte bei Claus schon vor dem Halten ihres Gefährts ein beunruhigend würgendes Gefühl, das sich vom Magen aus langsam in Richtung Hals bewegte.

"Chef, was ist? Kommen Sie mit? Wird bestimmt wieder spannend."

Doch von Abenteuer dieser Art hatte Santu die Nase gestrichen voll - im wahrsten Sinne des Wortes.

"Von wegen. Das Schlamassel reicht so schon zu, in das du uns manövriert hast... Geh' ruhig alleine. Ich hatte schon 'mal das Vergnügen."

Nach Beendigung der obligatorischen Stoffwechselprozesse einer kleinen Minderheit, startete der Stoppelbärtige sein qualmendes Vehikel für ihre letzte Etappe.

An den wächsernen Gesichtern einiger Reisegenossen ließ sich unschwer erkennen, wer die Pause zweckbestimmend genutzt, und wer darauf wohlweislich verzichtet hatte.

Selbstzufrieden über seine Weitsicht, vor Abfahrt gewisse Dinge prophylaktisch geregelt zu haben, nutzte Claus die nächste Zeit für ein kleines Nickerchen, das trotz der widrigen Begleitumstände recht zufriedenstellend ausfiel.

Am Goldenen Horn

Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie den Flughafen in Antalya. Die Anzeigetafel in der Abflughalle wies zu ihrer Erleichterung aus, dass ihr Flug nach Istanbul pünktlich um 18.45 Uhr starten sollte. Nachdem sie ihr Gepäck aufgegeben und die Boarding-Pässe entgegen genommen hatten, stärkten sie sich in der Flughafen-Lounge für die bevorstehenden Aufgaben erst einmal mit kräftiger Honigmilch und ein paar breiigen Lebkuchentalern mit Mandelsplittern.

Dann machte sich das Duo langsam auf den Weg in Richtung Gate. Nach der Passage der Sicherheitskontrolle warteten sie in der Abflughalle auf den Aufruf zu ihrem Flug.

Diesmal schien alles glatt zu gehen. Keine vorlauten Gören mit unverschämten Fragen. Keine kampfbereiten Muttertiere - zumindest auf den ersten Blick.

„Chef, ohne meine Rute fühle ich mich ein wenig nackt", erinnerte Rooperti an die prognose Santus, dass es in der Türkei nur so an Weidenruten wimmelte.

„Und ich fühle mich hier, ohne deine Rute und angesichts der vielen Blagen hier ziemlich relaxed und sicher", entgegnete er. „Also beruhig‘ dich. Du hast ja für den Fall der Fälle noch deine Leihgabe, den Regenschirm."

„Ich finde trotzdem, dass hier sehr viele ungezogene Kinder 'rumlaufen", nahm der Knecht den Faden auf, „darf ich vielleicht…?"

„Ja, und es gibt hier viele kräftige Muttis, noch kräftigere Vatis und vor allem entspaßte Polizisten."

Das stimmte.

Bekanntlich sind die türkischen Ordnungshüter nicht gerade für ihr hohes Maß an Aufklärungsraten bekannt, dafür mehr für ihre Nervenschwäche, gepaart mit Humorlosigkeit und Selbstkontrollverlust. Das führt in der Regel zu psychischem Leid und vor allem zu physischen Schmerzen: Die unliebsamen jedoch beabsichtigten Nebenwirkungen des großzügigen Gebrauchs ihrer verschiedenen Hiebinstrumente wie zum Beispiel Gummiknüppel oder Tonfa. Bei Letzterem handelte es sich um einen japanischen Schlagstock in Form einer großen Kurbel, oder eines Sensenstils, mit der zum Leidwesen der Betroffenen beziehungsweise Getroffenen geschlagen, gestoßen und auch gewürgt werden konnte.

Erster Aufruf.

Für Rooperti jedoch noch ausreichend Zeit, um noch einmal kurz "für kleine Wichtel" zu gehen.

Und keine 20 Minuten später rollten sie in Richtung Startposition, um dann auf die Flug-Freigabe vom Tower zu warten.

Dann war es soweit: Mit brüllenden Triebwerken setzte der Schub des Jets ein und presste sie in ihre Sitze.

„Konstantinopel, Goldenes Horn, wir kommen."

Die Maschine benötigte nur 55 Minuten bis zum Bosporus.

Mit quietschenden Reifen setzte das Flugzeug, pünktlich, fast auf die Minute, auf das Rollfeld des protzigen Atatürk-Flughafens auf (DAS ist ein Flughafen, mein unbedarfter Rooperti...).

Keine Stunde später standen Santu und Rooperti mit ihren beiden Koffertrolleys am gleißend hell erleuchteten Oto-Park des Flughafens.

„Fahren wir wieder, Chef?"

„Nein, natürlich nicht. Wir laufen. Quatsch: Wir reiten. Und zwar auf Dasher und Dancer. Also los, ruf' die beiden Rentiere herbei...", erwiderte der Angesprochene lapidar.

Rooperti staunte nicht schlecht über seinen Boss. Das war der Beweis: Santu konnte doch witzig sein.

"War nur ein Scherz", klärte Santu überflüssigerweise auf. "Natürlich gönnen wir uns hier ein Taxi", bestimmte er. „Wir suchen uns diesmal aber vorher den Fahrer aus. Dann gucken wir uns erst einmal die Sitze des Autos an. Und wir machen einen Festpreis aus. So macht man das, verstanden? Also los, mach' dich endlich mal nützlich. Und wehe, du besorgst uns diesmal nicht was Vernünftiges..."

Kaum ausgesprochen, stoppte mit quietschenden Reifen ein gelbes Fahrzeug vor den beiden Männern, Millimeter nur von ihren Fußspitzen entfernt. „Ho, ho, ho, das war knapp!", zeigte sich Claus sichtlich beeindruckt.

Der Taxifahrer

„Taksi?!" Der Chauffeur strahlte sie durch heruntergelassene Scheibe an.

Das Taxi kam ja wie gerufen. Aufmerksam nahmen beide das Gefährt und seinen Fahrer in Augenschein: Bei dem Fahrzeug handelte es sich um einen relativ neu aussehenden "Albea", eine viertürige Limosine, die die italienische Autofirma FIAT speziell für die Türkei produziert hatte. Der Wagen schien kürzlich gewaschen worden zu sein, was für hiesige Verhältnisse schon einen Anflug von Dekadenz hatte. Und sogar die Sitzpolster - wie auch der Fahrzeugführer selbst - machten einen einigermaßen gepflegten, also akzeptablen Eindruck.

„Ünlü Büyüktürk" richtete der Fahrer das Wort an sie, ein etwa 40jähriger Mann mit langen, dunklen Haaren, mächtigem Schnauzbart und dicker Hornbrille.

„Nein, vielen Dank, aber wir möchten gern in Istanbul bleiben", bedankte sich Claus artig.

„Verstehsdü? Das mein Name: Ünlü Büyüktürk aus Üsküdar", entgegnete der Chauffeur noch einmal, freundlich wie geduldig.

"Ach so", antwortete Rooperti leutselig. "Jetzt hüb' ich verstünden…" und erntete von Santu einen Seitenhieb mit dem Ellbogen. Doch Rooperti war nicht zu bremsen: "Güb' mür ein Ü: Pling, pling... - pling..."

Manchmal konnte er seinem Angestellten nicht folgen:

"Pling? Was denn für ein Pling?"

"Ach, schon gut."

"Genau: Gut! Lass uns diesen Wagen nehmen", gab Santu nun endlich grünes Licht: Fahrer und Gefährt waren scheinbar ok und endlich mal ein Einheimischer, den man leidlich verstand, den auch er, Santu Claus, verstand.

Ünlü war die Freundlichkeit in Person: „Steigen in, für good Preis für yü. Große düster Mann mit Taschen hünten. Little fat man mit komisch Cap kommen nach vürn."

Santus latent steigende Sympathiekurve vollzog einen abrupten Richtungswechsel. Little? Fat? Komisch? Cap? Der meint doch nicht mich, oder etwa doch?!? Aber was soll's.

Stimmt: Das Taxi war gewählt, sie konnten den Fahrer verstehen, und man wollte endlich sitzen. Was, sinnierte Claus, will man mehr in diesem von türkischen Heiden annektierten alten Kulturland?

Auf die Frage, welches Hotel der Herr Taxifahrer ihnen denn empfehlen könnte, antwortete dieser nach kurzem und prüfenden Blick auf die zwei: „Verstehsdü, nehme Angel's Palace in Sültanahmet, is altes Teil vün Stadt in Centrum?"

Angel's Palace? Das passte. Herr Bü aus Ü hatte den Blick fürs Wesentliche.

„Okay, da sünn wa dabei. Vielleicht sühen wir dabei noch einige Highlights dieses Städtchens", hoffte Rooperti.

Sahen sie leider nicht.

Die normalerweise 40minütige Fahrt führte sie von der Atatürk-Havalimani-Caddesi auf die mehrspurige Schnellstraße Kennedy-Caddesi, die sich entlang des Marmara-Meeres schlängelte. Auf dem grauen Wasser, so beobachteten sie, schipperten zahlreiche Fähren und Yachten aber auch Tanker und Frachtschiffe scheinbar planlos hin und her.

Auch auf der gut beleuchteten Straße herrschte das blanke Chaos: Der Feierabendverkehr, der pausenlos von 15 Uhr bis Mitternacht ging, erstickte jegliche pünktliche Verabredungen am Abend im Keim.

Zum Verdruss der Autofahrer, aber zur Freude der wie aus dem Nichts auftauchenden Scharen von Schirmverkäufern, hatte ein sintflutartiger Regen eingesetzt.

 

Der trug in keinster Weise zur Verbesserung der allgemeinen Laune oder gar des Fahrzeugflusses bei. So quälte sich ihr Fahrzeug in einem riesigen, stinkenden Lindwurm, der sich aus zitronengelben Taxen, grauen Minitrucks, schwarzen Kombis und weißlich-grauen Kleinbussen sowie Kolonnen von Lastwagen zusammen setzte.

Claus musste sich innerlich eingestehen, dass ihn die Fahrweise dieses unchristlichen, ehemaligen Steppenvölkchens schon ziemlich beeindruckte.

Die Fahrzeugführer schienen die Ausmaße ihrer Benzinkutschen millimetergenau zu kennen. Über Autoblinker verfügten die Autos nicht, so glaubte er tatsächlich. Dafür über alle Arten von Hupen, Fanfaren und Sirenen.

Jeder Fahrspurwechsel, jedes Überholen und jedes noch so kleinste Manöver wurde mit lautstarker Huperei und hoffnungsvollen Stoßgebeten quittiert oder geahndet. Das Wort Bremsanlage schien, falls es das überhaupt im türkischen Sprachgebrauch gibt, nur von sekundärer oder gar tertiärer Bedeutung zu sein.

Gestattete es die Verkehrslage, herrschte das Motto „Wer bremst, verliert". Dann jagten die scheinbar Wahnsinnigen ihre Blechkarossen im irrwitzigen Tempo über die Caddesis, bis zum nächsten, zwangsläufig folgenden, meist endlosen Stau. Exakt in so einem, in dem sie jetzt steckten.

Schnell begriffen die beiden Fahrgäste die wichtigste der wenigen Verkehrsregeln hierzulande, die da lautete: Es gibt keine Regeln.

Dem Stau nach einer quälend langen Zeit dann doch endlich entronnen, überquerten sie auf der prächtig beleuchteten Galatabrücke das Goldene Horn, die sieben Kilometer lange Bucht, und stießen nach weiteren zig Minuten auf den weltberühmten Taksim-Platz, der aber aufgrund einer Großveranstaltung für private Fahrzeuge gesperrt war.

"Schau nur, Rooperti, dieses fröhliche Volk, diese tolle Stimmung, diese südländische Lebensfreude", begeisterte sich Santu, angesichts der riesigen Masse an Menschen, die sich rund um das "Denkmal der Republik" eingefunden hatten, und die mit Transparenten, Fackeln, Fahnen und Molotow-Cocktails ausgelassen zu feiern schienen.

Viele schwenkten wie wild mit ihren "Mollis" herum, deren Lunten bereits zum Teil brannten, soweit sie nicht von den weißblauen Wasserwerfern der türkischen Ordnungskräfte humorlos mit strammem Strahl gelöscht wurden.

"Verstehsdü, nix Fest, nix friends. Böse people, Reaktionists, wollen Turkish Nation kapüttmachen. All Kommunisten und CIA-Agents from Israel und Amerika. Wollen kill him Präsident, great Führer...", lieferte Ünlü Büyüktürk einen kurzen und objektiven Sachstandsbericht ab, ansatzweise leider ein wenig zu emotional.

Nach diesem kurzen Gefühlsausbruch, wechselt er aber sofort wieder ins joviale Fach, ganz stolzer Istanbuler: "Dü ever seen bigger Cüty?"

Himmel, was für ein Stimmungsumschwung. Das geht bei diesen Brüdern hier aber rasch..., staunte Claus, und antwortete ungewohnt patriotisch aber recht zaghaft... "Ähm, Kittilä ist auch recht groß..."

Nach weiteren 30 schweißtreibenden Minuten, in denen der Fahrer die wenigen vorbeihuschenden Sehenswürdigkeiten herunterrasselte, erreichten sie endlich das Hotel.

Der schnauzbebärtete Langhaarige ließ es sich nicht nehmen, ihnen die volle Funktionsfähigkeit seiner Handbremse zu demonstrieren und schleuderte sein Auto samt Insassen in einer formvollendeten 180-Grad-Punktwende vor das Hotel - genauer gesagt, unsanft gegen den Bordstein am Hotel-Foyer.

"Lieber Gott und lieber Fahrer: Danke, dass wir noch leben dürfen", schickte Claus lauthals ein Stoßgebete gen Himmel sowie in Richtung dieses unglaublichen Ungläubigen.

Rooperti unterließ es bewusst, sich zu bedanken, da er augenblicklich anderweitig zu tun hatte: Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die ansehnliche Beule, die er sich bei der "Punktlandung" zugezogen hatte, als er mit seinem Schädel das Seitenfenster einer Werkstoffprüfung unterzogen hatte.

Aus der Beule wurde eine blutende Platzwunde, als Santu die Fahrzeugtür ins Schloss werfen wollte und dabei übersah, dass sich sein Knecht gerade aus dem Fahrzeuginnere schälte.

"Autsch-oweh-oweh, wieder auf die gleiche Stelle", heulte der Knecht schmerzerfüllt auf.

"Selbst schuld. Was haust du auch mit dem Kopf gegen die Tür? Jetzt komm' endlich, und mach' nicht immer so Mätzchen."

Mit einem breiten Grinsen unter dem Schnauzbart offerierte die türkische Formel-1-Hoffnung Ünlü Büyüktürk den beiden den zu zahlenden Fahrpreis, der um fast das Doppelte ausfiel, als zuvor ausgemacht.

„Sightseeing küsten Special-Prize", begründete er seinen angeblichen Verstoß gegen die vermeintliche Abmachung.

Von echtem Sightseeing konnte natürlich keine Rede sein. Es sei denn, man verkaufte Staus, Autoabgase und schmuddelige Regenschirmverkäufer, die während des Stopp-and-go-Verkehrs sicherlich gute Geschäfte mit so manchem Autofahrer gemacht hatten, als Sehenswürdigkeiten.

„Mr. Red-Nose mit komisch Cap, jetzt bitte zahlen. Müst driven weiter, verstehsdü? Quick, quick", drückte Ünlü nervös, quasi im Stand, auf die Tube, was man auch als Zwischengas bezeichnen könnte.

Na gut, dachte sich Claus. Die Regenschirmverkäufer hatten sich ja schon gelohnt, und der Stau war auch recht sehenswert. Somit nickte er seinem Knecht zu, der Ünlü den Festpreis samt Zuschlag auf die ausgestreckte Kralle haute.

Mit einem trotz anschwellender Handfläche fröhlichen Eyvallah auf den Lippen, quietschenden Reifen und lautem Hupen raste der türkische Hamilton sogleich von dannen.

Angel's Palace

Angel's Palace war, wie es der Name vermuten ließ, ein wahrhaft himmlisches Hotel.

Die Lobby bemühte sich mit pastellenen Cremefarben zu gefallen. Die schweren Ledersessel und die vielen goldumrahmten Bilder und Spiegel verschwendeten dagegen eher sinnlos einen Hauch von Prunk. Auf der immerhin gemütlichen Dachterrasse des Hauses genossen die Gäste einen traumhaften Rundumblick: Auf das dunkle Meer, auf die festlich angestrahlte Blaue Moschee und auf die Hagia-Sophia, das alte Wahrzeichen Istanbuls, das auf die orthodoxe, byzantinische Vergangenheit verwies.

Bekanntlich war die Hagia-Sophia - Sophienkirche -, von den Einheimischen auch Ayasofya Müzesi genannt, was so viel wie „Heilige Weisheit" bedeutete, im 6. Jahrhundert das bedeutendste Zentrum der christlichen Religion im byzantinischen Reich. Auftraggeber war für das 56 Meter hohe und mit einer Kuppel mit 31 Metern Durchmesser versehene bauliche Kunstwerk seinerzeit der römische Kaiser Justinian. Lange Zeit war die Hagia Sophia das größte und prächtigste Bauwerk der Welt.

Nach der Eroberung durch die Osmanen im Jahre 1453 wurde das Bauwerk aber als Moschee genutzt. Zum Glück für die Nachwelt und zur Freude von Santu ließ ihr Eroberer, Mehmet II., die christlichen Kunstwerke in der Kirche, insbesondere die Mosaiken, unversehrt. Heute ist die Hagia-Sophia ein Museum. Noch. Denn schon "morgen", so zumindest die Pläne der präsidialen Regierungsriege, soll das Bauwerk gläubigen Muslimen wieder als Moschee dienen.

Ein Traum wurde für den Weihnachtsmann wahr: Die Hagia-Sophia, fast in Steinwurfweite. Das architektonische Wunderwerk, das er noch nicht einmal von oben gesehen hatte. Wie auch, führte ihre jährliche Route im Dezember seit der islamischen Ausbreitung leider nicht mehr über Kleinasien.

Der Mürrische

Nach Ünlü Hamiltons fliegendem Start enterte das weihnachtliche Duo die kleine Lobby des Hotels. An der Rezeption saß der Empfangsherr. Ein Mann mit pechschwarzen, öligen Haaren und einer äußerst mürrischen Visage. Das Auffallendste an ihm aber war sein Gesicht, das mit hektisch-roten Flecken übersät war. Der Mann saß auf einem beigefarbenen Kunststoffstuhl im imitierten Baumarktstil und starrte fasziniert auf den Bildschirm eines alten Dell-Computers, dessen direktes Vorgängermodell ein Atari-PC gewesen sein musste.

"Ähm", räusperte sich Santu dezent. Doch nichts geschah. Der Mann schien die neue Kundschaft gar nicht zu bemerken.

Ein klarer Fall für Rooperti, den Experten in Sachen Aufmerksamkeitsdefizite: "Hallo, jemand zuhause?!", bellte er förmlich in Richtung des Angestellten und knallte zur Unterstützung seiner Frage kraftvoll mit der flachen Hand auf die Theke, dass sogar die dort aufgestellte und mit Kupfermünzen gut gefüllte Spendenbox zugunsten der Millî Görüş-Bewegung einige Zentimeter von der Tischplatte abhob.

Auch der Angestellte hob ab, vor Schreck, und fiel fast vom Stuhl. Seine Gesichtsfarbe wechselte ins schockfarbene Weiß, das die roten Flecken im Nu verdrängte. Augenblicklich begann er, nuschelnd und kaum verständlich, einen stammelnden Wortschwall über die beiden neuen Gäste zu ergießen. Selbst ein mit zusätzlicher Blindheit geschlagener Hörgeschädigter hätte erkannt, dass diesem Herumgestotter eine Rechtfertigung zugrunde lag. Wer weiß, wobei sie ihn ertappt hatten. Wer weiß, wer weiß…

Der Mann hatte sich jedoch erstaunlich schnell wieder gefangen, so dass das Check-in-Verfahren letztendlich routiniert-zügig abgewickelt werden konnte: Ausweise raus, Anmeldung ausfüllen und unterschreiben. Dann rückte der Überraschte und nun wieder Mürrische den Zimmerschlüssel heraus.

Über eine Treppe, die schon bessere Zeiten erlebt hatte, und das bereits vor hundert Jahren, gelangten die beide schließlich zu ihrem Appartement, in die Angel's Suite.

Die Suite war sehr speziell eingerichtet. Im Schlafbereich dominierte, zwischen einem dunkelbraunen, auf alt getrimmten Schrank mit Spiegeltüren und einem recht großen, gardinenverhangenen Fenster, ein altertümliches Himmelbett.

Im „Salon" befanden sich eine Sitzgarnitur im osmanischen Biedermeierstil, eine kitschige Kamin-Imitation aus Gips, ein Sideboard, auf der ein, immerhin, moderner LED-Flachbildschirm stand, sowie eine dunkel vertäfelte Miniküche. An der Holzdecke aus braunen Paneelen dominierte ein protziger mehrflammiger Basket-Kristallleuchter aus Messing mit zahlreichen tropfenförmigen Bleikristallsteinchen, allesamt in gleicher Größe. Dieser Kronleuchter war wirklich eine wahre Augenweide - ganz im Gegensatz zu dem bereits partiell verschlissenen Teppich, der - in schmuddeligem hausstaubgrau - den ganzen Boden bedeckte, sah man einmal von den Ecken ab, die sich bereits hochrollten und den Blick auf den ebenfalls grauen Estrich freigaben.

„Chef, ich schau‘ mich mal in der Gegend um. Vielleicht finde ich eine neue Rute", riss Ropperti seinen Boss aus seinen Gedanken.

„Du bist wirklich gestört", murmelte Claus in seinen weißen Bart.

„Wie bitte?"

„Ich sagte: Ich habe dich gehört. Ja, geh' ruhig. Ich gönn' mir derweil ein wohlverdientes Päuschen."

Während Rooperti sich auf die Suche nach einem neuen Schlag-Utensil begab, machte sich Santu in der Suite auf die Suche nach ein angemessenes Plätzchen für ein kleines, wohlverdientes Nickerchen.

Santu Claus ließ sich am Rand des urgemütlich aussehenden Sofas nieder. Eher aus Gewohnheit als aus Langeweile schaltete er den LED-Fernseher an, der von einer Satellitenanlage gespeist wurde.

Mein Gott, was für einen Schrott senden die denn hier? Ist ja schlimmer als bei uns. Reklame und noch einmal Reklame. Und dann noch in diesem Kauderwelsch... Lustlos zappte er sich durch die unzähligen Kanäle.

Urplötzlich war er hellwach. Der Nachrichtensender Samanyolu TV zeigte eine Pressekonferenz der Interpol-Polizei, bei der kurz das Foto des Konterfeis eines Mannes eingespielt wurde. Dieses Gesicht, so war er sich absolut sicher, kannte er. Krampfhaft überlegte Claus, wo er es schon einmal gesehen haben konnte. War das vielleicht im Istanbuler Flughafen? Nein. Oder doch? In Antalya, nein, in Kittilä?! Ja, glaubte er sich zu erinnern: Ein Mann aus dem Menschenpulk, der sich um sie versammelt hatte, als die dicke Minna handgreiflich geworden war. Oder doch nicht? Etwa dieser verkappte CIA-Mensch mit dem Ohrtelefon, der sie durchsucht hatte? Nein, auf keinen Fall… - oder?

Nachdenklich quälte er sich von der Couch hoch und schlurfte zur Minibar, die in der Wandküche eingelassen war. Jetzt war es Zeit für eine kleine Erfrischung. Hinter einer Dose Coca-Cola - Coca-Cola? Kommt üüüberhaupt nicht in Frage! - entdeckte er ein "7-Up". Schon der erste Schluck des eiskalten, zuckersüßen Limonadengetränks ließ ihn den Mann im TV vergessen. "Ahhh, wie das zischt. Das hab' ich mir verdient."

Wann kommt endlich Rooperti zurück? Santu Claus hatte langsam, jetzt, eine gute Stunde später, derart Kohldampf, dass er glatt einen ganzen Elch verspeisen könnte.

 

Wie auf Kommando klopfte es. Na endlich. Mein feiner Herr Knecht gibt sich endlich die Ehre.

Rooperti, der sichtlich außer Atem war, trat ein. „Na, hat sich der Liftboy gewehrt?", frotzelte Santu.

„Nein Chef, bin nur viel gelaufen - und etwas zu schnell", antwortete er, immer noch schnaufend.

„Und warst du erfolgreich? Hast du welche gefunden?", wollte Santu wissen.

„Erfolgreich? Gefunden? Was gefunden?"

„Na, dein Schlagwerkzeug natürlich, du Unglücksrabe", half ihm Santu auf die Sprünge, „die Weidenruten."

„Ach die. Äh, nein, keine gefunden. Dafür war's einfach zu dunkel. Aber dafür habe ich ein gutes Restaurant entdeckt, mit einer ansprechenden Speisekarte. Die Küche hat auch nach Mitternacht geöffnet. Und die Preise sind auch in Ordnung." Gespannt wartete er auf Santus Reaktion.

„Nun gut, wenn du meinst. Hoffe nur, dass du diesmal nichts verbockst. Dann los jetzt. Ich könnte jetzt sogar deinen Rudolph vertilgen - und zwar roh". Rooperti quittierte diese Geschmacklosigkeit mit einem missbilligenden Blick. Komisch, dachte Santu, ich fand das jetzt humorig...