Steinige Jagd

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Die Lösung

Leichter gesagt als getan: Denn in seinem ganzen Stab gab es nicht einen einzigen wirklichen Spezialisten auf diesem Gebiet. Niemanden, der sich mit altertümlichen Transistoren und Kondensatoren auskannte. Es gab lediglich die unbedarften Wichtel, die aber nur für grobe Packarbeiten taugten, sowie das phlegmatische Nutz- und Zug-Getier.

Santu seufzte: „Da bleibt mir wieder einmal nichts anderes übrig, als es selbst zu richten...“

Nur, ohne Schaltplan, Netzliste, Blitz-Zeichnung oder Blaupause bestand von vornherein nicht die geringste Chance für eine erfolgreiche Reparatur. Was er brauchte, war zumindest eine Kopie davon.

„Die Maschine ist schon recht alt", sinnierte Claus laut. „Ich kann mich vage daran erinnern, dass ein Schaltplan von diesem Gerät existiert. Aber wo ist der? Wo, zum Teufel, fliegt dieser Wisch rum… hmmm?!? Los, Knecht, streng auch 'mal deine grauen Zellen an! Schließlich bist du für den ganzen Schlamassel verantwortlich."

Natürlich. Schuld sind immer die Anderen.

Gespannt beobachtete der „Verantwortliche“ seinen grübelnden Vorgesetzten, um ihn plötzlich in seinem Brainstorming zu unterbrechen.

„Der Plan könnte auch beim letzten, letzten… äh Vulkanausbruch verschütt‘ gegangen sein, oder?!" Rooperti war zumindest bemüht, sich konstruktiv an der Lösung des Problems zu beteiligen.

„Vulkanwas?" Santu verdrehte die Augen. „Nee, mit Sicherheit nicht. Einen Vulkanausbruch gab's hier seit Menschengedenken nicht mehr. Wenn dir nichts Besseres einfällt, müssen den Plan eben suchen. Und zwar sofort!"

Gesagt getan. In den nächsten Stunden glich Korvatunturi einem Ameisenhaufen. Alles was zwei, drei - selbst versehrte Tiere machten mit - oder vier Beine hatte, suchte, schnüffelte und durchstöberte jeden Winkel, kehrte Unterstes zuoberst, räumte alles, was nicht niet- und nagelfest war, von links nach rechts. Doch ohne Erfolg. Im ganzen Betrieb gab es weder Bauplan, noch Blaupause. Und erst recht keine Blitz-Zeichnung.

„Ok, geben wir's dran", resignierte Rooperti nach stundenlanger, ermüdender Suche. „Da kann man eben nichts machen. Das ist wirklich Pech. Also, was nun? Jetzt doch packen?"

Claus war sichtlich am Boden zerstört. Sein doppeltes Kinn, das unter der reichlichen Manneszier nur zu erahnen war, schien lang und länger zu werden. Es fehlte nicht viel, und die weiße Bartspitze würde Muster in den Staub auf den Estrich malen.

Das darf doch wohl nicht wahr sein, grübelte der Weißbärtige. Und das KANN NICHT sein. Da muss es doch einen Ausweg geben. Mühselig durchforstete er die hintersten Winkel seiner drei Gedächtnis-Areale, so dass das Glühen seines neuronalen Netzwerkes selbst bei einer Mondfinsternis zu sehen wäre.

„Wir haben doch den Gravitativen Zeitdilatator seinerzeit von meinem Vorgänger übernommen, stimmt‘s?", kam er zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück.

Damit meinte er niemand Geringeres als den Nikolaus, auch Sankt Nikolaus genannt, den Mann des 6. Dezembers.

Nikolaus, amtlich-korrekt auch Bischof Nikolaus von Myra genannt, der von seinen Anhängern auch Heiliger Nikolaus gerufen wurde, war in der Tat der erste amtliche Besitzer des besagten Zeitdilatators.

Der Bischof lebte und wirkte um 300 nach Christi in Myra, einem kleinen Örtchen an der lykischen Küste, seinerzeit hellenistisch, dann römisch, später osmanisch und heute türkisch.

Nikolaus wurde damals wie heute als Heiliger verehrt. Er soll den Überlieferungen zufolge sein ganzes, von seinen Eltern geerbtes Vermögen verschenkt haben.

„Das Geld", so schilderte Santu Claus die Legende, „hatte Nikolaus einer verarmten Familie zukommen lassen, damit der Vater nicht gezwungen war, seine Töchter zur, pfui, Prostitution hergeben zu müssen. Nikolaus soll es durch den Kamin geworfen haben. Und es landete in den darin zum Trocknen aufgehängten Strümpfen."

„Wahrscheinlich in Fishnets…", kommentierte Rooperti im Bestreben um eine geistreiche Bereicherung dieser Geschichte.

„Fishnets?!?"

„Schon gut, Chef. Unwichtig."

Die Nummer mit dem Strumpf hatte man dann als alljährlichen Brauchtumstag übernommen, mit dem Stichtag 6. Dezember, dem Nikolaustag, wusste Santu weiter zu berichten, um sich dann zu empören:

„Da aber heutzutage die kindliche Erwartungshaltung das Fassungsvermögen von Socken und Strümpfen bei weitem übertrifft, stellt der Nachwuchs mitlerweile gleich ganze Stiefelpaare vor die Tür. Eine Unverschämtheit, oder?“

„Genau. Und deswegen gibt's dann Haue…", ergänzte Rooperti.

Claus schüttelte den Kopf. Das war es eigentlich nicht, worauf er hinaus wollte, sondern auf etwas anderes: Denn seit dieser Sockenstory seines bischöflichen Vorgängers hätten sie beide jedes Jahr die ganze Plackerei mit den Paketen, die von Jahr zu Jahr zahlreicher und voluminöser zu werden schienen.

Vielleicht sollten wir doch einmal eine Pause einlegen? Nachdenklich holte Santu seine Thermoskanne und ein in Pergamentpapier eingewickeltes Butterbrot aus seiner Aktentasche. Zeit für eine kleine Stärkung.

Plötzlich versteifte sich Santus Haltung, und sein Blick fiel wie magnetisch angezogen auf das Butterbrotpapier. „Pergamentpapier! Bauplan! Steinrelief! Abdruck!", brach es aus ihm heraus.

Rooperti erschrak: „Chef, alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt rufen?“ Seine Sorge war diesmal wirklich echt.

„In der Transportverpackung des Zeitdilatators befand sich seinerzeit ein Pergamentpapier! Ein Abdruck, der von einem Steinrelief genommen wurde. Denn auf dieser steinernen Tafel war dieser vermaledeite Bauplan eingemeißelt worden, weißt du nicht mehr, Rooperti? Rooperti!?!"

„Ja, so vage…", erinnerte sich der Angesprochene kein bisschen.

„Schön akribisch und haarklein eingemeißelt. Ein regelrechtes Kunstwerk seinerzeit. Und wenn‘s einen Abdruck auf einem Pergament gibt, dann gibt's auch ein, ein...?“

Rooperts‘ Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„…richtig, du ahnungsloser Traumtänzer. Ein Original. ORIGINAL! Und dabei handelt es sich genau um diese Druckplatte, dieses Stein-Relief", nahm der Weihnachtliche weiter Fahrt auf.

„Aber nach so langer Zeit? Wo, zum Teufel, sollen wir denn danach suchen, Chef?"

„Fluche nicht, mein Sohn. Der Heilige Nikolaus hat bekanntlich in Myra das Zeitliche gesegnet. Wer weiß? Vielleicht hängt dort die Tafel in seiner alten Kirche `rum, oder in einem Museum? Oder es gibt dort zumindest einen Hinweis auf sie", ließ Claus sich nicht beirren. „Übrigens heißt die Stadt mittlerweile Demre beziehungsweise Kocademre. Und genau dort sehen wir uns um. Basta!"

„Wir? Heißt das etwa, ich muss mit?", fragte Rooperti entgeistert, auf dem jetzt alle Augen ruhten.

Mittlerweile hatte sich eine aufgeregte wie neugierige Schar Wichtel, einige Rentiere, Schafe und Ziegen - kurz, ein Großteil der Belegschaft von Korvatunturi - um Santu, Rooperti und den defekten Zeitdilatator gebildet.

Das Rezept

„Natürlich kommst du mit. Vielleicht kannst du dich nützlich machen", bestimmte Santu und erntete damit bei seinen zwei- und mehrbeinigen Betriebsangehörigen ein zustimmendes Gemurmel.

Das hatte sich der Knecht ganz anders vorgestellt. Koffer packen jawohl, aber nicht um ins unchristliche Anatolien zu pilgern, sondern um zu seiner geliebten Insel der Glückseligkeit zurückzukehren. Ins heimische Ukonkivi. Gemeinsam mit Rudolph, seiner treuen Seele. Aber so wie es aussah würde daraus wohl nichts werden.

Nach einem kurzen Moment unschlüssigen Schweigens: „Und wann soll's losgehen? Wir nehmen doch sicherlich den Rentierschlitten, oder?", schien sich Rooperti offensichtlich damit abgefunden zu haben.

„Den auffälligen Schlitten? VOR Heiligabend durch die Weltgeschichte herumkutschieren? Warum nicht gleich mit dem Space-Shuttle. Komm, ruf Houston in Texas an, und mach eins klar.“

Rooperti überlegte, ob sich Santu über ihn lustig machte.

„Dann lass uns wenigstens die Schafe vorspannen. Die sind kleiner, unscheinbarer und fallen nicht so auf." Dieser Vorschlag wurde mit einem aufgeregten Blöken quittiert.

„Oh ja bitte, wir wollen in den Süden!", bettelte einer der Wiederkäuer.

„Mögen die uns auch?", wollte ein anderer wissen.

„Ja, gut durchgebraten, du dummes Schaf", mischte sich das Leittier ein, das ein bisschen mehr Verstand zu besitzen schien, als seine Artgenossen, die jetzt wie belämmert aus der Wolle glotzten.

Der kurzen schockstarren Stille folgte ein regelrechter Sturm der Entrüstung, das reinste Tohuwabohu. Ein Schaf versuchte das andere zu übertönen.

„Näääh, näääh!", beanspruchten die betroffenen Vierbeiner ihr Recht auf Meinungsfreiheit und blökten sich kollektiv ihren Paradigmenwechsel von der Seele. Die gedankliche Kehrtwende war eindeutig und unmissverständlich.

So ergriff auch der Leithammel letztendlich und beschlussfassend das Wort und gab die endgültige Entscheidung bekannt: „Näääh, wir bleiben hier!"

„Dann nehmen wir halt die Ziegen", versuchte Rooperti seine Idee zu retten, die er überaus genial fand.

„…die werden vorher gern in Knoblauchöl mariniert", kommentierte deren Anführer sarkastisch. Mit einem einvernehmlichen Gemeckere schmetterten so auch die vierbeinigen Bartträger diesen für sie völlig abstrusen Vorschlag ab. War man nicht eben erst bezüglich der barbarischen Essgewohnheiten dieser südostländischen Kannibalen sensibilisiert worden?

„Und wenn wir nur Rudolph nehmen, ganz alleine, ohne die anderen?", versuchte es Ropperti ein letztes Mal.

Rudolphs Nase schwoll an, drohte fast zu platzen, verfärbte sich dramatisch ins Dunkelrote: „Bin ich etwa KEIN Rentier? Und bin ich etwa kleinwüchsig? Vielleicht haben die auch Appetit auf mich?! Hallo!?! Kann mich jemand hören?!?"

 

Dieser Argumentation war natürlich weder Wesentliches hinzuzufügen, noch entgegenzusetzen.

„Rentierfleisch", gab nur Santu überflüssigerweise seinen Senf dazu, „zählt nicht von ungefähr zu den weltweit wohlschmeckendsten und nahrhaftesten Fleischsorten." Grundsätzlich hatte er ja recht. Denn aufgrund seines niedrigen Cholesteringehalts und des hohen Eiweißanteils gilt es als sehr wichtig und als eine gute Ergänzung für eine gesunde Ernährung. Weltweit.

Santu Claus, völlig in Dozier-Laune, blickte selbstgefällig auf sein Auditorium, das mit aufgerissenen Augen und Mündern zuhörte - allen voran die betroffenen Geweihträger.

„Sehr beliebt ist übrigens der Schinken aus Rentierfleisch", nahm er diese unverhoffte Aufmerksamkeit zum Anlass, weiter vorzutragen. „Dafür verwendet man vor allem das Fleisch aus der Keule. Und zubereitet wird das folgendermaßen: Nach dem Salzen muss das Fleisch über 20 Tage sorgfältig kalt geräuchert werden, so dass man einen sehr zarten, aromatischen Schinken erhält…"

Erwartungsvoll blickte Santu in die Gesichter seiner nun völlig verstummten Zuhörerschaft. Wie jedes Mal freute er sich auch diesmal, sein Team mit seinem fulminanten Wissen beeindrucken zu können.

Ok, dachte er bei sich, die Wichtel gaben sich ob seines Monologs wie üblich betont desinteressiert. Aber was will man von diesen Schrumpfhirnen auch anderes verlangen?

Die Schafe und Ziegen indes hatten - sicherlich vor interessierter Aufmerksamkeit - die Luft angehalten, wie deren rote Köpfe eindeutig bewiesen.

Und die Rentiere erst, wie die mich bewundern, ja, anhimmeln, konstatierte er in koketter Selbstgefälligkeit. Schaut nur, diese aufgerissenen Augen in den blassen Gesichtern. Nein, wie putzig…

Auch auf Rooperti schien der Vortrag, zumindest seiner Meinung nach, nicht ohne Wirkung geblieben zu sein: Seht, wie ihm das Wasser im Munde zusammenläuft. Und dann dieser sabbernde Speichelfluss, rechts und links, aus den Mundwinkeln. Brrrrh...

Der undefinierbare Blick Roopertis wechselte dabei ständig von Santu zu Rudolph, der sich mittlerweile vor Angst erbrochen hatte.

Natürlich glaubte Claus zu wissen, welche Gedanken seinem Knecht gerade durch den Kopf schossen: Rudolph mit einem Apfel im Maul, angerichtet nach Art des Hauses...

Wie es aber aussah, schien offensichtlich nun doch keines der Getiere wirkliche Lust auf eine Exkursion in den sonnigen Süden zu haben.

„Ok, ok, Kommando dann zurück", beruhigte Claus seine verstörte Mannschaft.

„Wir verreisen dann eben ohne Vierbeiner. Also los, mein lieber Knecht. Schlaf' nicht ein. Buch' uns fix für morgen Abend zwei Flüge nach Antalya. Und dann ab, Reisetasche packen. Morgen, in aller Herrgottsfrühe, brechen wir nach Kittilä auf, zum Flughafen. Wenn der türkische Halbmond im nächtlichen Zenit steht, will ich da sein."

Die Würfel waren gefallen. Erleichtert atmete das versammelte Viehzeug aus. Auch Rudolph fiel eine Zentnerlast vom Herzen und sackte ermattet in sich zusammen. Hatte das Ren doch richtig Schwein gehabt, da es - zumindest im Moment - weder in der Türkei noch im heimatlichen Ukonkivi schmackhaft zubereitet würde, wobei ihm der Ort seiner lukullischen Apokalypse letztendlich egal gewesen wäre.

Singendes Eis

Es herrschte ein fürchterliches Schneetreiben bei mindestens 20 Grad Minus, als sich zwei vermummte Gestalten frühmorgens zu Fuß auf ihren langen Weg in südwestlicher Richtung machten.

Primäres Ziel der beiden Wanderer war Kittilä. Unbestrittenes Highlight dieses Sechseinhalbtausend-Seelen-Städtchens war ihr Flughafen, der immerhin den Anspruch auf Internationalität erhob.

Der Winter in Finnland ist legendär und lässt jeglichen Spaßfaktor vermissen. Minustemperaturen von über 30 Grad sind der Normalfall, entlocken den abgehärteten Einheimischen aber nur ein warmherziges Lächeln, aber meist erst nach dem zweiten Saunagang.

Begleitet wird die klirrende Kälte von einem unablässigem, eisigen Wind, der schneidend durch Mark, Bein und jeglichem positiven Gedanken fährt. Der Windchill-Effekt tut sein Übriges, um einen restlos um die gute Laune zu bringen.

Ohne Vliesbekleidung und Thermo-Unterwäsche, Thermo-Handschuhe, Winterstiefel und Mütze mit Ohrenschutz hätten unbedarfte Spaziergänger in der finnischen Tundra ein echtes Problem, soweit sich - abgesehen von Menschen mit unbehandelten Psychopathien - überhaupt jemand ins Freie gewagt hätte. Falls doch, wurde das auch meist mit Frostbeulen und Erfrierungen allerhöchster Gradierung an allen denkbaren, kälteexponierten Körperstellen geahndet. Und das war dann nicht unverdient.

Aber Santu und Rooperti waren schließlich keine Anfänger oder unbedarfte Touristen. Im Gegenteil. Sie waren Spezialisten in Sachen Frost, Kälte und Extremwinter. Aufgrund ihrer Arbeit, die genau in die Wintersaison fiel, kannten sie die harten Bedingungen aus dem Effeff und hatten sich natürlich isolationstechnisch bestens vorbereitet.

Nachdem die beiden einsamen Wanderer die Bergwelt hinter sich gelassen hatten, erreichten sie endlich die große Ebene, ihr erstes Etappenziel. Es war die südliche Spitze eines großen, zugefrorenen Sees, von den Einheimischen Inarijärvi, von den Ausländern Inarisee genannt. Dabei handelte es sich um einen 1.000 Quadratkilometer großen, zugefrorenen See mit angeblich über 3.000 kleinen Inseln.

„Genau hier gehen wir rüber. Das spart Zeit", bestimmte Santu Claus fachmännisch, der den See eigentlich nur aus luftiger Höhe kannte, aus dem Rentierschlitten heraus.

In der Tat: Die Passage, der sogenannte Engpass Juutuanvuono im westlichen Teil des riesigen Sees, war gut gewählt.

„Hier bin ich ja fast schon bei mir Zuhause", brummte Rooperti, der ansonsten eher wortkarg hinter ihm her trottete. „Echt ärgerlich.“

Nach zweistündigem Marsch durch das dichte Schneetreiben, durchbrach ein ohrenbetäubendes Scheppern die Nacht. Es hörte sich an, als hämmerte der nordische Gott Thor mit seinem gewaltigen Hammer gegen die Fahrertür eines Caterpillar 797, dem größten Lastwagen der Welt. Erschreckt blickte Santu zu Rooperti, der noch nicht einmal gezuckt hatte.

„Keine Angst, Chef. Das ist das Eis. Es wächst", erklärte Rooperti. Aber das musste er auch wissen. Schließlich kannte er den sechstgrößten Binnensees Europas wie seine Westentasche.

„Da nach unten kein Platz ist, dehnt es sich halt nach oben aus", berichtete er, motiviert durch Santus fragendem Blick. Und irgendwann bräche es dann eben mit lautem Getöse.

Plötzlich, nur kurze Zeit nach dem Scheppern, begann das Eis mit einem klagenden, langgezogenen Ton zu singen. Irritiert schaute Santu wieder zu seinem Knappen. „Grundgütiger, was ist das denn schon wieder?!“

„Das sind die gebrochenen Eisplatten", wusste Rooperti auch hier die Antwort, „Die fangen jetzt an, sich gegeneinander zu verschieben."

Mein Knecht, der Allwissende. Der hat bestimmt einen Nebenjob als Schlaumeier, ärgerte sich Claus ein wenig, wohl mehr über seine eigene Unkenntniss, als über das Allgemeinwissen seines Angestellten. Schade, dass er nicht auch noch allmächtig ist, dann könnte er uns ja gleich in Antimaterie verwandeln und dann zum Ziel teleportieren – wahrscheinlich nicht, ohne mir das vorher auch noch genau zu erklären.

Der Pilkerer

Nach weiteren Stunden in der schier unendlichen Eiswüste machten sie plötzlich vor sich eine schemenhafte Gestalt im dichten Schneetreiben aus.

Es war vermutlich ein Einheimischer, der vor einem kleinen, mit der Spitzhacke offen gehaltenen Loch hockte und pilkerte, was so viel wie Angeln bedeutet.

Wie witzig dieses Männlein ausschaut, schmunzelte Santu. Durch den Schnee sowie sein zu Eis kristallisiertem Atem und den gefrorenen kleinen Schweißtropfen an Brauen, Wimpern und Haarspitzen ähnelte der Mann eher einem Schneemann, als einem Kerl aus Fleisch und Blut. Wie drollig. Ein Schneemann, mitten in dieser weißen Einöde.

Nach diesem kurzen Ausbruch selbstbefangener Rührseligkeit, gewann aber sogleich Santus „analytischer Verstand“, wie er ihn selbst zu bezeichnen pflegte, wieder die Oberhand: Angeln bei gefühlten minus 40 Grad im dichten Schneetreiben? Das ist ja schon ein bisschen… krank.

„Petri-heil, Herr Angler", begrüßte er den offensichtlich Verrückten.

Der Angesprochene hob kurz den Blick. Unwillig ob der Störung brummte er sich irgendetwas in den gefrorenen Bart und widmete sich wieder seiner vermeintlich sinnlosen Beschäftigung.

„Wir sind auf dem Weg zum Flughafen in Kittilä, müssen aber erst grob in Richtung des Städtchen Inari, guter Mann. Sind wir da auf dem richtigen Weg?", blieb Santu freundlich, aber hartnäckig.

"Wer will das wissen", antwortete der Schneemann widerwillig, ohne seinen Blick von dem Eisloch abzuwenden.

„Der Weihnachtsmann und sein Knecht Ruprecht, wenn es beliebt".

Langsam hob der Angler seinen Kopf und griff zu seinem schmalen, erschreckend scharf aussehenden Fischmesser, das in einer mit Perlen verzierten Lederscheide vor ihm auf dem blanken Eis lag:

„Wenn ihr beiden Strolche nicht sofort das Weite sucht, werde ich EUCH gleich filetieren und ausnehmen, so wahr ich der…, der… Nikolaus bin!"

Oooh-booah, wie unfreundlich. Der Weihnachtsmann war geradewegs bestürzt über diese personifizierte Unhöflichkeit.

Ihm jetzt noch mitzuteilen, dass sich das gut träfe, da sie ja auf der Suche nach eben diesem Nikolaus seien, konnte er sich gerade noch verkneifen. Mit Kopfschütteln ließen sie den eindeutig Gestörten links liegen und setzten ihren beschwerlichen Marsch durch die eisige Kälte fort.

„Ich hätt‘ dem unverschämten Kerl liebend gern eins mit der Rute übergebraten." In Roopertis Stimme schwang die Hoffnung mit, dass sie umkehrten, um den Anhänger Petri für dessen ungehöriges Benehmen zur Rechenschaft ziehen würden.

„Nein, lass mal", beschwichtigte Claus ihn, „schließlich sind wir im Namen des Herrn unterwegs."

„Wir sind was?!?"

„Vergiss es einfach, mein lieber Knecht. Vergiss es."

Schweigsam setzten sie ihren beschwerlichen Weg fort.

Nach einer kleinen Ewigkeit hatten sie es geschafft. Die erstarrte See war bezwungen, Land in Sicht - soweit sich die weißgraue Abstufung überhaupt so definieren ließ. Mühsam krabbelten sie kurze Zeit später die karg bewachsene, steinhart gefrorene Uferböschung hinauf.

Und da war sie: Die Route 955, eine der wenigen wintertauglichen Nord-Süd-Verbindungen nach Kittilä, auf der sie mehr zufällig als beabsichtigt gestoßen waren.

Weiter ging's.

Ohne sich eine Pause zu gönnen, marschierte das mehr durchgefrorene als dynamische Duo auf der schneeverwehten Straße in Richtung Süd-Westen. Da, nach gut einer Stunde, schälte sich aus dem treibenden Schnee ein Häuschen heraus, das sich als Bushaltestelle entpuppte.

Endlich Pause, und wohlverdient dazu.

Völlig ausgepumpt schmissen die beiden Wanderer ihr Gepäck in die Ecke des kleinen, überdachten Wartehäuschens und ließen sich auf die einzige Holzbank fallen.

„Chef, und was nun? Was wollen wir hier? Etwa auf den Fahrenden Ritter warten?", fragte Rooperti. „Ist das überhaupt die Route nach Kittilä?"

Obwohl dem hypoglykämen Zustand recht nahe, bewies Santu tatsächlich so etwas wie Humor.

„Route, Rute: Du und deine Ruten. Ruf‘ uns einfach ein Taxi, und lass uns guter Hoffnung sein."

„Das wird aber ganz schön teuer. Von hier sind's bestimmt noch wer weiß wie viele Kilometer - wenn nicht noch mehr", überging Rooperti das Wortspiel seines anstrengenden Vorgesetzten.

Aber Claus war das jetzt egal: „Ruf ein Taxi - oder trag' mich!"

„Dann lieber Taxi", erwiderte er und konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Neben den Koffern schaffe ich gerade noch 150 Kilo zu schleppen. Und das langt ja wohl nicht…“

Unverschämter Knilch. „Ich kann auch nichts dafür, dass mein Gehirn so viel wiegt“, behielt Santu wie gewohnt das letzte Wort. „So, und jetzt Schluss mit dem Lamentieren.“

„Empfindlich, der feine Herr Weihnachtsmann, äußerst empfindlich", murmelte Rooperti in seinen Bartansatz und zückte sein schlichtes Smartphon. Ja, tatsächlich: Ein Smartphon. Neben GPS-Outdoor-Navi, Leatherman-Multitool und Schweizer Militärarmbanduhr ein unerlässliches Utensil der Weihnachtsvertreter von heute.