Steinige Jagd

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Airport Kittilä

Nach stundenlanger Autofahrt durch das Schneechaos hatten sie endlich ihr Ziel erreicht: Der Flughafen in Kittilä.

„326 Euro? Das grenzt ja schon an Wucher!", meckerte Rooperti. Der Taxifahrer hatte ihm soeben mit unbewegtem Gesichtsausdruck den Fahrpreis genannt. Nur widerwillig händigte der Knecht den geforderten Betrag aus. Santu hatte zuvor bestimmt, dass er für das Bezahlen zuständig sei. Zumal er ja schließlich auch das Taxi gerufen hätte.

Dem Chauffeur war das egal, von wem er die Kohle bekam. „Sei mal froh, dass ich Sie und diesen komischen Typ mit seiner albernen Kappe überhaupt mitgenommen habe", und wies mit seinem doppelten Kinn unhöflich in Richtung Santu.

Komischer Typ? Meint der jetzt komisch mehr als lustig oder merkwürdig? Und alberne Kopfbedeckung? Warum beleidigt diese arme Sünderseele meine selbstgestrickte phrygische Mütze. Soll ich hier etwa mit der Mitra herumlaufen? Schließlich sind wir inkognito unterwegs. Ignorant, Unverschämter!

Im Grunde genommen war ein Spruch dieser Art nicht eine Frage ob sie kommt, sondern wann sie kommt. Ähnelte seine ausgebeulte Mütze, die tatsächlich von den antiken Phrygern zu stammen schien, doch auffallend der Kopfbedeckung eines Gartenzwergs, des deutschen Michels oder eines jakobinischen Revolutionärs: Sie hatte einen längeren rundlichen Zipfel, der mal lustig zur Seite, mal adrett nach hinten und mal störend in Richtung Stirn fiel.

Üblicherweise war eine solche Mütze aus Wolle. Es gab sie aber auch aus Leder. Überliefert wurde, dass die phrygische Mütze ein gegerbter Stier-Hodensack einschließlich umliegender Fellpartie sei (Fell, da war es wieder…). Die alten Griechen waren der Meinung, dass dadurch die Fähigkeiten des Stiers auf den Mützenträger übergingen. Fähigkeiten, mit denen der Weihnachtsmann wahrlich nichts am Hut hatte.

In der überschaubaren Flughafenhalle spürte man nur wenig vom Duft der großen, weiten Welt. Kein nervendes Gedränge, kein hektisches Treiben, das man normalerweise in einem Abflugterminal erwartete.

Die wenigen, antiquierten Chrom-Strahler, allesamt schon grünbräunlich angelaufen, schmissen ihre unangenehm gleißendhellen Lichtkegel gegen schmucklose Wände und auf einen stumpfen Fliesenboden.

„Überwältigend", staunte Rooperti beim ersten Flughafenkontakt seines Lebens.

„Trostlos“, moserte Santu, der den erfahrenen Aeronauten gab. „Das ist kein Flughafen, dass ist ein besseres Flugplätzchen. Eher was für Segelflieger. Modellsegelflieger …“

Die meisten der wenigen Check-in-Schalter dieses so herabgewürdigten Verkehrsknotenpunktes waren geschlossen. An den spärlich besetzten Abferigungseinrichtungen standen sich, mangels Sitzplätze, bepackte Reisende Löcher in den Bauch. Nach kurzer Suche steuerte das „Dynamische Duo“ auf den einzigen Finnair-Schalter zu.

Betont unauffällig legten sie der netten blonden Airline-Angestellten ihre Reisepässe vor, die Santu extra für diese Aktion hatte anfertigen lassen. Man war ja schließlich kein Anfänger.

„Herr Virtanen, Herr Korhonen", wurden sie von der netten Blondine nach einem kurzen Blick in die Ausweise begrüßt. Dabei nickte sie ihnen freundlich zu.

Virtanen? Korhonen? Amüsiert verzog Rooperti sein Gesicht. Na, unauffälliger ging's wohl nicht.

Ging es wirklich nicht. Denn dabei handelte es sich um die mit Abstand häufigsten Nachnamen in Finnland, vergleichbar etwa mit Müller oder Schulz in Deutschland, Smith oder Brown in den USA, Garcia oder Lopez im spanisch sprechenden Raum. Menschen, die sich mit solchen Namen vorstellen, sind automatisch verdächtig...

„ICH bin Herr Korhonen", konnte sich Rooperti nicht verkneifen, das Humorverständnis der Angestellten zu überprüfen. Dafür erntete er von Claus einen unauffälligen, aber schmerzhaften Fußtritt mit der Schuhspitze seitlich gegen die Kniescheibe, die protestierend aus ihrem Gleitlager rutschte.

Die Frau schien verwirrt. „Nein, nein", verbesserte er schnell seinen Knecht, der, kalkweiß im Gesicht und mit zusammengebissenen Zähnen, wieder die Kniescheibe richtig positionierte.

„Mein Kollege hat nur einen kleinen Scherz gemacht. Es ist schon richtig: ICH bin Herr Korhonen. Sie erkennen das ja auch anhand der Passbilder."

Mit einem gequälten Lächeln reichte die Hostess ihnen die Bordkarten und Ausweise zurück und zwang sich zu einem stereotypen „Na, dann guten Flug."

Der Aufruhr

Von ihrer Gepäcklast befreit schlenderten Herr Korhonen und Herr Virtanen zum Abflugbereich. Dort erwartete sie bereits eine überschaubare Schar Mitreisender, die gespannt auf den Aufruf ihres gemeinsamen Fluges warteten.

„Onkel, warum hast du so rosige Bäckchen?" Eine etwa Sechsjährige hatte sich mit verschränkten Armen vor Santu aufgebaut und musterte ihn unverhohlen.

„Von drauß‘ vom Walde komme ich her, und dort ist's halt lausig kalt, mein liebes Kindchen", missbrauchte er mit gütiger Stimme wahrscheinlich zum tausendsten Male den alten Fontane, zumindest partiell.

„Und warum hast du einen sooo langen weißen Bart?", bohrte der neugierige Fratz weiter.

„Na, weil ich ihn hab‘ wachsen lassen und ihn nicht abgeschnitten habe. Was meinst du denn?!"

„Kitzelt der nicht? Doch, der kitzelt, stimmt's?" Langsam beginnt die Göre zu nerven.

„Nein, mein Kind, der kitzelt nicht, und deshalb muss ich auch nicht kratzen. So, jetzt reicht es aber mit der Fragerei, ok? Geh‘ schön spielen", antwortete er nun etwas ungehaltener als beabsichtigt, konnte sich aber eine rhetorische Gegenfrage nicht verkneifen: „Die Härchen auf deinen Milchzähnen kitzeln ja auch nicht, oder?"

Fehler, wie er zu spät merkte. Denn mittlerweile waren andere Fluggäste auf sie aufmerksam geworden. Ach, wie unangenehm.

„Und wie lustig: Deine Nase sieht ja aus wie eine Kirsche…", prustete die Göre plötzlich los.

„Ich finde, meine Nase sieht NICHT wie eine Kirsche aus", zischte der Gepiesackte zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hervor, nur noch mühsam beherrscht.

„Chef, darf ich?", fragte ihn Rooperti mit erwartungsvollem Gesicht und öffnete ohne auf eine Antwort zu warten seinen Mantel, um ihm und der Rotznase sein hölzernes Schlagwerkzeug zu präsentieren, das drohend an seinem Gürtel baumelte.

Erschreckt wich die Sechsjährige zurück. „Maaami!"

„WAS haben Sie dem Kind da gezeigt?", krakelte ein unglaublich dickes und großes Weib los und baute sich, ihre wurstigen Finger in die schwammigen Hüften gestemmt, vor den beiden auf.

„Ich hab‘ dem Kind nur meine Rute gezeigt. Was geht Sie das denn an?", raunzte Rooperti unfreundlich zurück.

Ach du heilige Sch…, murmelte Claus, das war nicht klug.

„Iiiiihhh - Sittenstrolche! Polizei! Polizei!", schrie die Korpulente und begann, mit ihren fleischigen Fäusten wie mit einem Dampfhammer auf Rooperti einzuhämmern.

Der Aufruhr war perfekt.

Komisch, schon das zweite Mal heute, dass wir als Strolche bezeichnet werden, ging es Claus durch den Kopf. Ob das wirklich an unserer Verkleidung liegt? Doch nicht etwa an meiner schönen Mütze, dachte Santu und beobachtete interessiert die vergeblichen Abwehrbemühungen seines Knechtes.

Kurze Zeit später wurde der Innenstirnkreis, der sich mittlerweile um sie aufgebaut hatte, rücksichtslos durch ein uniformiertes Quartett durchbrochen: Vier Polizisten mit grimmig zur Schau gestellten Mienen waren im Sprint herbei gestürmt und drängten sich nun zwischen den Weihnachtsvertretern und der zu Fleisch gewordenen Furie und forderten die beiden Störenfriede auf, mitzukommen. Und das ohne vorherige Klärung des Tatherganges. Das nervöse Öffnen und Schließen ihrer Hände in Höhe der Pistolen-Holster leistete der schneidenden Aufforderung unmissverständlich Nachdruck.

Schön, dass sie uns nicht gleich mit finalem Rettungsschuss zur Stecke bringen, atmete Santu erleichtert auf, der den Auftritt der Staatsgewalt mehr als überzogen fand. Ach, wie gern hätte er noch etwas der hämmernden Matrone zugeschaut, die seinen hilflosen Knecht auf das Fürchterlichste in der Mangel hatte.

„Deine Nase merk‘ ich mir", raunte Santa Claus der Sechsjährigen im Vorbeigehen zu, die den ganzen Aufruhr neugierig, mit großen Augen verfolgt hatte. „Gibt nix. Dieses Jahr nix, nächstes Jahr nix. Niemals, nix!!!"

„Onkel, du siehst aus wie ein kleiner, dicker Elf…", legte die Sechsjährige unbeeindruckt nach. Dabi konnte sie von Glück reden, dass die beiden Pechvögel mit Handschellen aneinander gekettet waren und gerade von den Uniformierten durch eine unscheinbare Tür in ein Hinterzimmer des Flughäfchen gedrängt wurden.

Lieber Gott, danke für die Handschellen, schickte Santu ein Stoßgebet zum Himmel, sonst wäre ich bestimmt über diesen vorwitzigen Fratz hergefallen. Manchmal konnte er Roopertis offensichtliche Neigung, Kinder mit rabiaten Mitteln zu züchtigen, wirklich nachvollziehen.

Natürlich war alles nur ein Missverständnis. Natürlich.

So konnte die Sache auch relativ schnell geklärt werden. Relativ.

Nach obligatorischer Überprüfung der Personalien hatten die Beamten zusätzlich eine Körperdurchsuchung angeordnet - laut deren Aussage rein routinemäßig, laut Santus Meinung hochnotpeinlich und schikanös. Die Polizisten führten sie dafür in getrennte Räume, und ließen sie, aller Proteste zum Trotz, tatsächlich bis auf die nackte Haut ausziehen.

Ein Beamter im geheimen schwarzen Anzug, mit geheimer Sonnenbrille (Sonnenbrille im Winter…) sowie geheimem Ohrtelefon ließ sich sogar Santus Mütze aushändigen, um sie misstrauisch von allen Seiten akribisch unter die Lupe zu nehmen. Claus indes staunte nicht schlecht über das Interesse des Anzugträgers an seinem phrygischen Prunkstück.

 

„Gell? So eine schicke Kopfbedeckung hätten Sie auch gern, sie Geheimagent, hab' ich recht?"

Geflissentlich ignorierte der Angesprochene diese Frage, schickte aber einen gekonnt bösen Blick (das hat er vorm Spiegel einstudiert, das seh' ich...) in Richtung des weihnachtlichen Mannes.

Nach dem bürokratischen Abschluss mit sechzehn zu leistenden Unterschriften auf dem achtseitigen Vernehmungsprotokoll, entließen die Beamten sie wieder in die Abflughalle. Knapp 45 Minuten Zeit hatte die ganze Aktion gekostet. Verpasst – beispielsweise ihren Flug - hatten sie zum Glück aber nichts.

Gottseidank, das ist ja noch einmal gut gegangen, atmete Claus auf. Rooperti dagegen schien nur bedingt froh zu sein, pendelte seinen Oberkörper unruhig, aufgestützt auf einem Regenschirm, hin und her.

Regenschirm?

„Woher hast du auf einmal diesen Regenschirm? Raus damit!". Claus stemmte seine Hände auf die Hüften und wartete auf eine Antwort.

„Ach den? Den habe ich aus dem Verhörraum", berichtete der Knecht zurückhaltend.

„Wie, aus dem Verhörraum?“

„Nun ja, der Schirm steckte in einem Ständer neben der Ausgangstür. Einem Regenschirmständer..." Über dem Ständer sei ein Schild mit dem Wort „Fundsachen" angebracht gewesen. Also habe es sich doch wohl um einen herrenlosen Schirm gehandelt. „Und außerdem", fügte er hinzu, „haben die Gendarmen schließlich meine Rute eingezogen. Zur Not kann ich den Schirm..."

„Du hast den Schirm MITGEHEN lassen?!"

„Mitgehen hört sich aber doof an, Chef.“

„Mitgehen lassen, gemopst, geklaut, gestohlen, geklemmt, wie auch immer...“

„Ja, äh, nein, Chef. Ich schwöre. Ich habe ihn mir nur ausgeliehen. Sobald ich wieder im Besitz einer ordentlichen Rute bin, liefere ich den Schirm wieder ab. Ehrenwort. Ich komme mir ohne mein Werkzeug in der Hand doch so... so nackt vor."

„Du bist ein Dieb. Und ein Taugenichts.“ konstatierte Santu abschließend. Das wird ja immer schlimmer mit dem... Zumindest aber hat er Geschmack, wie ihm das Fabrikat des Schirms verriet: Ein „Maple Handle Umbrella“. Für den müsste man bei „Swaine Adeney Brigg“ in London schlappe 200 Pfund hinblättern. Schade, ärgerte sich das Teufelchen in Santu, warum nur ist mir der Schirm nicht aufgefallen…?

Und an Rooperti gewandt: „Zu deiner Information: In der Türkei wachsen hochbiegsame Weidenstöcke quasi an jeder staubigen Straßenecke. Richtig stramme Teile. Die tun schon beim Anschauen weh", erklärte Santu, langsam wieder etwas verbindlicher.

„Ehrlich Chef? So richtig schmerzhaft?"

„Ja, ganz sicher", beteuerte er, „Damit ziehst du den Kindern nicht nur den Ärmelstoff von der Haut, sondern gleich die ganze Pelle mit." Ich weiß schon, wie ich meinen Pappenheimer kriege, grinste Claus innerlich, angesichts der glänzenden Augen seines Adlatus.

Mit gemischten Gefühlen näherten sie sich wieder der Reisegruppe, betont unauffällig und vorsichtig. Ihren Blicken ausweichend nahm die wartende Schar sofort Abstand zu ihnen, den vermeintlichen Sittenstrolchen und offensichtlichen Außenseitern. Halte Abstand - und du behältst die Übersicht, fiel Santu ein Sinnspruch des Schriftstellers Wilhelm Hasenclever ein. Aber egal. Damit kann ich leben.

Alle wichen ihnen respekt- oder gar angstvoll aus, bis auf eine Person: Der personifizierte Fleischberg. Mit tiefgezogenen Brauen, die Augen zu Sehschlitzen verengt und die mächtigen Arme vor der gewaltigen Brust verschränkt, starrte die „Dicke Berta“ mit hypnotischem Blick auf die Beiden, dem einer Klapperschlange nicht unähnlich, die in tödlicher Beißabsicht eine aufgeschreckte Wüsten-Springmaus fixierte.

Die Wuchtbrumme ist eindeutig die Mutter dieser Göre, überlegte Santu Claus. So, wie die sich ins Zeug legt. Aber vielleicht ist sie auch die Betreiberin eines Frauenhauses und fühlt sich dazu berufen, potentiellen Nachwuchs zu unterstützen. Oder sie ist die Anführerin eines geheimen, militanten Amazonen-Rings oder einer noch unbekannten Walkürenbewegung. Wer weiß?

Fragend schaute er zu Rooperti.

Grundgütiger, was treibt er denn jetzt schon wieder?

Regungslos und mit ausdrucksloser Miene starrte sein Knecht zu Pauline Potter - seinerzeit dickste Frau der Welt - zurück. Eine Ewigkeit lang, wie es Claus schien.

Himmel, ist der von allen guten Geistern verlassen? Denn urplötzlich riss Rooperti für einen Sekundenbruchteil mit den in den Taschen vergrabenen Händen seinen Mantel beidseitig auseinander und verzog gleichzeitig das Gesicht zu einer gierigen Fratze.

Das blieb nicht ohne Reaktion: Das Gesicht der Schwammigen verfärbte sich im Sekundenbruchteil ins Puterrote. Doch bevor sie als Folge eines emotional-unkontrollierten Ausbruchs implodierte oder, schlimmer noch, explodierte, zog Santu seinen feixenden Knecht am Ärmel und drängte ihn unnachgiebig in Richtung Ausgang, der zum Flugfeld führte. Der Aufruf zum Entern des Airbus‘ kam goldrichtig.

„Onkel, warum…?" Nein, nicht die schon wieder…

Das Kind mit völliger Missachtung strafend schubste Claus seinen Knecht durch die vorbildlich gereinigte Glastür, die leider auch durch ihre Geschlossenheit glänzte. Bedingt durch das dumpfe Dröhnen, das Roopertis Kopf durch den Aufprall an dem dicken Sicherheitsglas erzeugte, war sich das Duo sofort wieder der Aufmerksamkeit aller Mitreisenden gewiss.

„Rooperti, du Unglücksrabe, guck nur, welche Schweinerei du hier anrichtest. Du tropfst hier ja alles voll. Hör' sofort auf zu bluten. Schau nur, wie sie alle wieder glotzen... Und jetzt komm' auch endlich!"

Nachdem der Angesprochene seine lädierte Nase notdürftig mit zwei zusammengerollten Papiertaschentuchfetzen präpariert, und den Rest vom „Tempo“ auf die aufgeplatzte Stirn gedrückt hatte, kämpften sie sich durch das dichte Schneetreiben zur Gangway des winzigen Flugzeugs.

In ihrem Gefolge: Das schadenfroh grinsende Mutterschiff, der vorwitzige Rotzlöffel und die anderen, sich köstlich amüsierenden Mitreisenden.

Take-off

Ihr Flug-Marathon, der lästigerweise mit Zwischen-Stopps in Helsinki, Stockholm und Istanbul gespickt war, startete pünktlich. Vorausgesetzt, es passierte nichts Unvorhergesehenes, würden sie rund 13 Stunden unterwegs sein. Kaum in der Luft, ging es schon wieder abwärts, denn ihr erster Zwischenstopp war der nahegelegene Flughafen Helsinki-Vantaa.

„Rooperti, jetzt zieh' mal langsam die albernen Taschentuchröllchen aus der Nase. Du siehst ja aus wie ein unterentwickeltes Walross-Baby", forderte Santu seinen Begleiter auf, bevor sie zum nächsten Gate trabten. Eine schnuckelige Boeing 717 der Scandinavian Airlines wartete dort bereits mit laufenden Triebwerken auf ihre menschliche Fracht.

Das Fluggerät beförderte sie binnen weniger Minuten zum Arlanda-Airport in Stockholm, Schwedens Hauptstadt. Dort genossen sie erstmals ausgiebig ihre Wartezeit: Satte zweieinhalb Stunden. Und wenn ihnen nicht die gemeingefährliche Dicke und die neunmalkluge Frucht ihrer wulstigen Lenden über den Weg liefen, konnten sie es zum ersten Mal etwas lockerer angehen lassen und entspannen.

Rooperti und Santu nutzten den längeren Stopp eilig zum Besuch der Räumlichkeiten, zu denen selbst der Weihnachtsmann zu Fuß hingeht. Nach Erledigung dringend-drängender Stoffwechselvorgänge, entledigten sie sich dort ihrer eskimoähnlichen Winterbekleidung und durchschwitzten Thermowäsche. Aus ihren Koffer-Trolleys zauberten sie unauffälliges, mitteleuropäisches, touristisches Winter-Outfit hervor. Nur auf seine eigenwillige Mütze, darauf wollte Santu nicht verzichten.

Erleichtert und erfrischt machten sie es sich anschließend in der Besucher-Lounge bequem, um sich ein paar Sandwiches sowie einen Glühwein mit Schuss zu genehmigen. So konnte man es sich gefallen lassen.

„Kippis!"

„Kippis!" prosteten sie sich durchatmend zu.

Langsam fiel die Spannung von ihnen ab. Während Claus bereits gedanklich ihre Vorgehensweise an ihrem Ziel in Demre bzw. Myra durchplante, schien Rooperti zu träumen. Wie geistesabwesend starrte er nur auf seine Schuhspitzen.

Endlich ihr nächster Aufruf. Gemächlich schlenderten sie zum Zielpunkt der Order: Terminal 5.

Ihr Fluggerät war diesmal eine Nummer größer, ein Airbus 320, und ihre Fluggesellschaft Turkish-Airlines. Eine türkische Fluggesellschaft UND ein betagter Airbus. Na, das hat mir gerade noch gefehlt. Lieber Gott, nutzte Santu seinen engen Draht nach oben, lass uns auch diesmal nicht in Stich.

Ließ er nicht. Denn nach viereinhalb Stunden ruhigem Flug, die sie komplett verschliefen, landeten sie wohlbehalten und einigermaßen ausgeruht auf dem Flughafen Atatürk-International Havalimani in Istanbul.

Istanbul, das über 1350 Jahre alte Byzantion, auch Byzanz genannt, wurde 330 nach Christus als Hauptstadt des oströmischen Reiches in Konstantinopel umbenannt, nach Konstatin des Großen.

Konstantinopel, die einzigartige Stadt am Golden Horn. Die Stadt der Reliquien der beiden großen Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos und Gregor von Nazianz.

Konstantinopel, das seit der Eroberung durch den Sultan Mehmet II. und seiner Janitscharen-Armee im Jahre 1453 nicht mehr zu Santus und Roopertis Verbreitungsgebiet gehörte.

Doch die vier Stunden Zeit, die sie bis zu ihrer letzten Flugetappe nach Antalya zur Verfügung hatten, reichten nicht einmal für den kleinsten Blick auf die Besonderheiten dieser Stadt. Nicht einmal auf einen der zahlreichen Regenschirmverkäufer, die bei diesem Wetter - es schien gerade Hunde und Katzen zu regnen - wie Pilze aus dem Boden schossen. „Schade", seufzte Claus. „Wie gern hätte ich mich hier ein bisschen umgesehen."

„Hier gibt's bestimmt viele freche Kinder - und dazu noch gottlose…", bedauerte auch Rooperti ihren kurzen Aufenthalt.

Mit einer ebenfalls nicht mehr ganz so neuen Boeing 738 jetteten sie dann endlich dem vorläufig letzten Flugziel ihrer Reise entgegen: Antalya, die okkupierte Perle an der türkischen Riviera, der Rubin in der Krone namens lykische Küste. Der Traum aller betagten Rentner und gut betuchten Langzeiturlauber.

Die 75 Minuten in der Luft waren eigentlich kaum der Rede wert - sieht man einmal von der Tatsache ab, dass es sich wieder um einen Flug mit Turkish-Airlines handelte. So sah man den beiden auch ihre Erleichterung an, als die Boeing am modernen Ankunfts-Terminal in Antalya zum Stillstand kam. Endlich da!

Vom Airbus aus gelangten sie durch einen raupenartigen Verbindungsgang direkt ins Flughafengebäude. An der Gepäckförderanlage, dem sogenannten Kofferband, trafen sie mit gemischten Gefühlen auf alte Gesichter:

„Onkel, warum trägst du nur diese lustige Mütze?"

Ich glaub's einfach nicht. Lieber Vater, gib mir Kraft. Mach, dass ich nicht die Beherrschung verliere.

Die Göre stand im Schatten ihrer mutmaßlichen Gebärerin, die kampflustig wartete und sicherlich jede Antwort als Grund für einen schmerzhaften Präventivschlag genommen hätte. Den Gefallen tat Claus ihr aber nicht, wusste er sich doch zu beherrschen, wenn auch nur mühsam.

Auch Rooperti blieb still. Er konnte auch nicht anders, da ihm Santu mit beiden Händen den Unter- an den Oberkiefer presste.

Der Schlund an der Wand, durch welches sich das Kofferband heraus schlängelt, spuckte ihr Gepäck als erstes aus. Das kam Claus gerade recht, denn seine Arm- und Schultermuskeln, die noch immer für einen zwangsverstummten Rooperti sorgten, machten langsam aber sicher schlapp.

Schnell klaubten sie ihr Gepäck vom Band, und los ging‘s in Richtung Ausgang.

Draußen machten sie erste Bekanntschaft mit dem mediterranen Winterklima. Wohlig erschauerten die beiden Eisheiligen ob der 12 Grad Celsius und angesichts der zahlreichen Palmen und der Sonne am fast wolkenlosen, frühmorgendlichen Himmel.

Der Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht, die kälteerprobten und Einsamkeit liebenden Lappländer, staunten über das exotische Treiben, das sich vor ihren Augen abspielte: Busse, Taxen und Privatautos, die in scheinbarer Missachtung jeglicher Verkehrsregeln kreuz und quer fuhren und wohl gerade ein Wetthupen veranstalteten.

Es wimmelte von feinen Anzugträgern und landestypischen Antalyanern in farbneutralem Schlabberlook, dunkelhaarigen Schönheiten und vermummten Schleiereulen.

Einheimische wie Reisende, zum Teil wie Maulesel bepackt, eilten wie blind und scheinbar lebensmüde über die verkehrsträchtige Straße vor dem schicken Dis-Hatlar-Terminali.