VILLA DOLOROSA

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VILLA DOLOROSA
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Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Theatertexte finden Sie auf unserer Website www.kiepenheuer-medien.de

© 2014 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Sämtliche Rechte der öffentlichen Wiedergabe (u. a. Aufführungsrecht, Vortragsrecht, Recht der öffentlichen Zugänglichmachung und Senderecht) können ausschließlich von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH erworben werden und bedürfen der ausdrücklichen vorherigen schriftlichen Zustimmung. Nicht genehmigte Verwertungen verletzen das Urheberrecht und können zivilrechtliche und ggf. auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.

ISBN 978-3-7375-0051-7

Dieses Werk entstand als Auftragswerk des Theaterhauses Jena.

Personen

Irina Freudenbach, 28

Olga Freudenbach, 37

Mascha Klepstedt-Freudenbach, 25

Andrej Freudenbach, 38

Georg, 45

Janine, 20

Ort

Salon in einer Villa

Irinas 28. Geburtstag

Salon in der Villa. An den Wänden ein paar leere Bilderrahmen

IRINA Was für eine öde Party. Es wurde nicht getanzt. Vielleicht wurde nicht getanzt, weil die Musik zu öde war, ich weiß nicht, ich hab keine gute Musik, ich hör ja immer nur Opern. Nächstes Jahr mach ichs anders. Nächstes Jahr gibts ne richtige Party mit guter Musik. Und dann wird getanzt. Ich werd dafür sorgen, dass nächstes Jahr gute Musik da ist, damit getanzt wird, ich halts nicht mehr aus, dieses Sitzen, dieses Trinken, dieses Reden, diese sogenannten Parties, die keine sind, sondern Sit Ins, sitzen, im Kreis, sitzen, trinken, reden, das tun wir ständig, eine Party heißt Party, damit was anderes gemacht wird, getanzt zum Beispiel, tja. Wenn ich gute Musik hätte. Hab ich aber nicht. Nur Opern.

MASCHA Irina. Die Party ist noch nicht vorbei. Ich hab Musik. Drüben. Ich müsste nur schnell über die Straße rennen und ein paar CDs holen. Oder ich ruf Martin an, dass er welche rüberbringt.

IRINA Lass mal. Bemühe deinen Gatten nicht unnötig, der sicher schon im Pyjama in den Federn liegt und Hermann Hesse liest. Es ist eh keine richtige Party, denn es sind ja bloß Verwandte da. Bloß wieder: Nur Verwandte. Ich kenne einfach zu wenig Menschen.

OLGA Du kennst genug Menschen, du lädtst sie nur nicht ein, weil sie dir zu öde sind, wie du sagst, zu öde, alles ist dir zu öde, da musst du dich nicht wundern, wenn keine Party zustande kommt, wenn du keinen einlädst, weil dir alle zu öde sind, oder irre ich mich, sags mir, falls ich mich irre.

IRINA Olga. Hast du nicht gute Musik? Du musst doch Musik haben.

OLGA Klagte ich allerdings, dass ich bloß Öde träfe, so hätte dies Berechtigung, da ich tatsächlich nur solche treffe, in der Schule, öde Schüler, öde Lehrer, Tag für Tag diese Schafsgesichter, klagte ich, so klagte ich mit Berechtigung, aber du, in der Uni, lauter interessante Menschen, aber dir sind sie zu öde, weil du ein solcher Snob bist, dass jeder, der sich mit einem Eröffnungssatz an dich wendet, der kein schillerndes Bon Mot oder ein besonders kluger Witz ist, auf der Stelle durchfällt.

IRINA Du musst doch irgendwo Musik haben.

MASCHA Das Problem ist, dass sie gar nicht mehr hin geht, in die Uni, wann war sie denn da zum letzten Mal? Am Kühlschrank hängt ein Seminarplan, ganz umsonst hängt er da, er hängt da, ich kann ihn bereits auswendig, Montag zehn Uhr Dialektik der Aufklärung, Dienstag sechzehn Uhr Wahrheit und Sprache, Mittwoch fünfzehn Uhr Logik, Donnerstag vierzehn Uhr Das Sein und das Nichts, die liegt doch jeden Tag bis zwölf im Bett und grübelt, dann steht sie langsam auf und geistert herum in ihrem Nachthemd, in diesem Spitzennachthemd, das sie noch von Oma hat, geistert durch die Zimmer, trinkt Kaffee, schaut aus dem Fenster, raucht, hängt rum, hängt im Tag, hängt da wie ihr Seminarplan und vergilbt, genau wie er, gilbt vor sich hin, heute wird sie achtundzwanzig, gilb gilb.

IRINA Ich schmeiß euch gleich raus. Olga. Musik.

OLGA Früher, als ich so alt war wie du, da hatte ich jede Menge Musik. Ich war ganz verrückt nach Musik. Aber alles auf Platte. Ich habe eine riesige Plattensammlung, die ist aber im Keller. Du kannst gern runtergehen und die Kiste suchen, wenns dir Spaß macht. Tolle Musik, aber alles auf Platte.

IRINA Wir haben keinen Plattenspieler.

OLGA Doch, haben wir. Den alten, den Papa mir geschenkt hat damals. Steht auch im Keller. Kannst du suchen, wenns dir Spaß macht. Der Keller ist so voll, oh je, ich glaub nicht, dass du den findest. Ich geh da jetzt jedenfalls nicht runter und suche.

IRINA Hab keine Lust. Ist eh zu spät. Nächstes Jahr! Da geh ich ein paar Tage früher in den Keller und such die alten Platten und den Plattenspieler und der wird angeschlossen an riesige Boxen und dann: Gibt’s ne Party. Ne richtige.

OLGA Nächstes Jahr.

MASCHA/IRINA/OLGA Was du heute kannst besorgen, dass verschiebe ruhig auf morgen.

IRINA Zehn Menschen waren da. Zehn Menschen, und keiner hat getanzt. Alle haben nur Nudelsalat und Chips gefressen, sich ein paar Biere in den Rachen gekippt, öde Anekdoten aus ihren öden kleinen Leben erzählt und sind dann früh nach Hause gegangen. Nächstes Jahr mach ichs anders. Ich lade hundert Menschen ein und es gibt richtige Musik, hundert Menschen minus den zehn von heute, die taugen nichts.

MASCHA Pack deine Geschenke endlich aus.

IRINA Geschenke. Oh je.

OLGA Na los.

Irina packt Geschenk aus. Ein Bilderrahmen aus Holz

IRINA Andrej!

Andrej kommt.

IRINA Danke. Ich häng ihn gleich zu den anderen.

steht auf und nagelt den Rahmen zu den anderen an die Wand

ANDREJ Den hab ich selbst geschnitzt.

OLGA/MASCHA/IRINA Wissen wir!

IRINA Bleib, bleib, bleib. Trink mit uns.

ANDREJ Mein Roman. ab

MASCHA Roman. Wie lange schreibt er schon an seinem Roman?

OLGA Er hat noch nicht mal angefangen. Er ist noch am Konzept.

IRINA Das Genie der Familie. Wenigstens einer, der was tut.

OLGA Zu tun vorgibt. Und ich bittschön, was mach ich? Ich bin die einzige in dieser Familie die arbeitet, oder irre ich mich, sagts mir, falls ich ich irre. Und es macht mich nur fertig. Jeden Tag diese Gesichter, die mit leeren Augen in ihre glanzlose Zukunft starren, und dann steh da mal vorne und erzähl was von Kafka, von Kleist, von Lenz, und stell eine einfache Frage, ganz simpel, so was wie nenn mal einer ein Lieblingsmotiv, ein Lieblingsmotiv von beispielsweise Borchert, und Stille herrscht, dröge Schafsstille, und dann zuckt ein Finger hoch und du freust dich, dass wenigstens einer, einer noch wach ist, und dann nimmst du ihn dran und kriegst zu hören, darf ich mal aufs Klo, und am liebsten sagtest du jetzt, gern Jonas, und wenn du schon dort bist kannst du dich gleich im Pissoir ersäufen, auf dich wartet eh keine Zukunft, die besser ist als die Gegenwart, verlasse diesen Planeten lieber jetzt, dann sparst du dir viele tausend Stunden Leerlauf, aber das darfst du nicht, du bist ja die Autoritätsperson, die positive Werte vemitteln muss, hätt ich nur einen Zahnarzt geheiratet, schön die Bude dekoriert und dann shoppen gegangen, von jeder Mission befreit, aber Scheiße, zu spät, dazu bin ich zu klug, und zu alt, ich bin schon siebenunddreißig, Scheiße, bald werd ich vierzig, dann wird aber so was von gefeiert, aber bloß ich, ich allein, irgendwo auf Gomera, ihr, ihr seid auf keinen Fall, auf gar keinen Fall eingeladen.

Irina packt Geschenk aus.

IRINA „Die Chronik des Schiller-Gymnasiums von achtzehnhundertsiebzig bis zweitausend von Martin Klepstedt.“ Na toll. Das habt ihr mir schon letztes Jahr geschenkt.

MASCHA Echt? Hab ich vergessen.

IRINA Darüber hinaus ist es mies geschrieben. Kannst du Martin gern mal sagen.

MASCHA Dabei hat er sich so damit abgemüht.

IRINA Mühe allein reicht halt nicht. Kannst du Martin gern mal sagen.

OLGA Ich fürchte, dass sie mich zur Direktorin wählen werden, nur, weil kein anderer da ist, denn dieses Kollegium, dieses gesamte Kollegium, sorry Mascha, inklusive deines Gatten, ist so was von schlicht, ich kann ja nichts dafür dass ich die Beste bin, ich tu gar nichts, streng mich nicht groß an und bin trotzdem die Beste, weil alle anderen so schlicht sind, das kommt davon, dass man uns so gebildet hat, dass wir so kluge Eltern hatten, ein Elend. Jetzt sitzt man da mit seiner Bildung und Feingeistigkeit und ist allein, und dann wählen sie einen noch zur Direktorin, weil kein anderer da ist, das bedeutet bloß mehr Arbeit, ich hätte niemals anfangen dürfen mit dieser Arbeiterei, jetzt komm ich aus der Nummer nicht mehr raus. Irina, mach bloß nicht denselben Fehler, du hast doch so viele reiche Verehrer, such dir einen aus und heirate, dann wird alles gut, ich kann nicht mehr, ich bin schon fast vierzig, was ist mit diesem Jens, warum hast du den nicht eingeladen?

 

IRINA Jens, Jens, Jens. Der ist mir zu öde.

OLGA Aber er gibt nicht auf.

IRINA Und dafür soll ich ihn jetzt belohnen, für seine Hartnäckigkeit? Wer am längsten durchhält, gewinnt den Blumentopf?

OLGA Ich mag solche Männer. Die wissen, was sie wollen. Die sich nicht so leicht abbringen lassen.

IRINA Dann nimm du ihn doch.

Andrej streckt den Kopf zur Tür rein.

ANDREJ Ich hab noch einen Freund eingeladen. Ich glaube aber, der kommt nicht mehr.

ab

OLGA Ich wäre froh, wenn sich überhaupt jemand für mich interessierte, und du bist dermaßen wählerisch –

IRINA Jens oder Sven oder Jan oder Gerd, immer dasselbe Modell, immer diese jungen Dozenten, diese gebildeten Männer, blass und ungelenk, die sich bewegen, als hätten sie ihren Körper erst seit gestern, die klug daherreden und witzig sind, na toll, aber dürr wie Äste und verkrampft, die hoffen, dass ich sie erotisch erlöse, Irina, du bist so lebendig, ich kanns nicht mehr hören, dabei bin ich innerlich dermaßen tot und bräuchte selbst einen, der mich wiederbelebt. Die können auch alle nicht tanzen. Was soll ich mit einem Mann, der sich nicht bewegen kann, dem seine Gliedmaßen am Rumpf herunterhängen wie angenäht. Ach nee du. Und immer so leicht zu begeistern, das ödet mich an, ob nun Sven oder Jan oder Gerd, jetzt halt Jens, schon wieder so einer, ja, er ist nett, ja, er ist klug und alles, ich mag ihn, aber hätt ich ihn heut eingeladen hätt er sich Hoffnungen gemacht und es ist so ermüdend, ständig die Erwartungen zu enttäuschen, die man entfacht hat, warum auch immer, dabei steh ich meist nur so rum.

packt Geschenk aus

IRINA Ein Samowar. Wer schenkt mir so einen Müll? Olga.

OLGA Immerhin besser als der Mann zum Selberbacken, den du mir zu meinem Siebenunddreißigsten geschenkt hast.

IRINA Ja, ja, das fandst du überhaupt nicht lustig. Und dieser Samowar ist jetzt die Revanche. Krieg der Präsente, Teil vier: Käptn Killer-Kitsch greift an. Mir reichts. Den Rest mach ich nicht auf.

Andrej streckt den Kopf zur Tür rein.

ANDREJ Falls dieser Freund noch kommen sollte: Er heißt Georg und ist ein sehr netter Typ. Allerdings hat er große Probleme. Mit seiner Frau. Die macht ständig malt Anführungszeichen in die Luft Selbstmord. Wenn ihr mich fragt: Die ist nicht depressiv. Die macht nur Terror. Aufmerksamkeits-Terror. Und er fällt drauf rein. Ich würd so eine sofort sitzen lassen. Sofort. Aber er ist zu weich. Armer Kerl.

verschwindet

OLGA Seit wann hat Andrej Freunde?

Andrej streckt den Kopf zur Tür rein.

ANDREJ Falls er kommt: Sagt bloß nicht, dass ich euch das gesagt hab. Das mit seiner Frau.

verschwindet

MASCHA Er ist verliebt. Ich hab ihn vorgestern im Park gesehen. Mit einer, mit einer, was soll ich sagen, sagen wir: sehr bunten Person. Ich fang mal unten an. Rosa Schuhe. Solche Absätze macht Geste Drüber ein Rot-gelb geblümtes Kleid, so ein Kleid, das es im Kik-Textil-Discount auf dem Wühltisch gibt, na ja, also dann hatte sie noch goldene Haarspangen, ganz schlimm. Und Andrej latscht bei ihr untergehakt durch den Park wie so ein frisch geduschter Kleinbürger, so ein nach Billigseife duftender Stiesel, ganz verwandelt, unser Bruder, tja, wo die Liebe hinfällt, wächst kein Gras mehr.

IRINA Vielleicht war es eine Nutte.

MASCHA Irina, bitte, am hellichten Tage, da läuft man doch nicht mit einer Nutte durch den Park, nicht mal Andrej, und er ist schon sehr exzentrisch.

OLGA Exzentrisch? Ich sagte eher: Überspannt.

IRINA Das ist doch das gleiche, Olga.

OLGA Dasselbe. Wenn er wenigstens ein echter Exzentriker wäre, unser Bruder. Das wär ja mal was. Ich sags euch, sagts, falls ich mich irre, unser Bruder: On the highway to Mittelmaß. Adlerauge Olga erkennt die ersten Anzeichen. Die Menetekel, die da wären: Selbstgefälligkeit. Denkfaulheit. Gutmütigkeit.

IRINA Früher war er so geistreich. Schnell im Hirn. Schlagfertig. Und auch du warst amüsanter. Ich wohl auch. Und von Mascha wollen wir nicht reden.

OLGA Ich habe meine Schlagfertigkeit im Korsett der von der Gesellschaft geforderten vorgestanzten Dialogformen eingebüßt. War das jetzt nicht schlagfertig?

MASCHA Da steht jemand im Garten und zupft an der Trauerweide.

Alle gehen zum Fenster und schauen raus.

IRINA Was macht der da?

MASCHA Er umarmt den Baum.

OLGA Was für ein Freak.

IRINA Ruf mal runter.

MASCHA Hallo? Hier ist die Tür.

Alle warten.

Georg kommt.

GEORG Verwunschen, verwinkelt, verwachsen. Knorzige Eichen, geschmeidige Birken, Wildwuchs des sympathischsten Unkrauts und in der Mitte thronend wie die Mutter aller Gemütskranken: Die Trauerweide. So muss ein Garten sein.

MASCHA Ein neuer Gast. Und er hat kein Geschenk.

IRINA Gottseidank. Andrej! Dein Freund ist da.

GEORG Georg. Leider ohne Präsent in der Hand. Ich wusste nichts vom hier herrschenden Geschmack, und bevor man was verschenkt wofür man sich schämen muss schämt man sich lieber seiner leeren Hände, na ja. Tatsache bleibt, dass sich geschämt wird. Na ja.

MASCHA Das ist Irina, sie hat Geburtstag. Das ist Olga, ich bin Mascha. So. Irina ist am wachsten von uns allen, weil sie am längsten schläft. Das heißt, sie schläft immer nur bis sieben, dann wacht sie auf und liegt bis zwölf im Bett und denkt nach.

IRINA Ja, seltsam, ich könnt ja auch bis zwölf schlafen und bis drei nachdenken, aber Papa hat uns so erzogen, früher Vogel fängt den Wurm, das sitzt jetzt so tief drin, völlig sinnlos.

GEORG Denken - klingt gut. Ich arbeite so viel, dass ich zum Denken kaum noch Zeit habe. Liebe Irina. Ich wünsch dir alles, alles Gute zum Geburtstag. Auf dass deine Träume wie geschossener Salat gen Himmel sausen und dort von netten Engeln in Realität verwandelt retour geschickt–

IRINA Ja ja schon gut! Es reicht.

MASCHA Man muss arbeiten. Wenn man zu viel nachdenkt, wird man ganz melancholisch, deshalb will ich unbedingt arbeiten, egal was. Ich hab heute schon Annoncen gelesen, im Café am Ufer suchen sie eine Kellnerin, ich glaub, da bewerb ich mich mal.

IRINA So eine Schnapsidee Mascha.

MASCHA Schreib du mal besser deine Hausarbeit über Horkheimer fertig. Oder lass es bleiben. Dieses ganze Rumstudiere hat doch mit Arbeit nichts zu tun. Ich hab mich so geärgert, dass ich nie gearbeitet habe, jetzt sitz ich zu Hause und streich die Vorhänge glatt.

GEORG Arbeit macht stumpf. Ich wollte immer zur See fahren und jetzt bin ich Leiter einer Verpackungsfirma. Keine Ahnung, wie es dazu kommen konnte, tja. Schöner Samowar. Funktioniert der noch?

OLGA Ich bin die einzige in dieser Familie die arbeitet, und es macht mich nur fertig. Jetzt muss ich noch befürchten, dass sie mich zur Direktorin wählen werden, nur, weil kein anderer da ist, denn dieses Kollegium, dieses gesamte Kollegium ist so was von schlicht.

GEORG Ja, plötzlich wachst du auf und sitzt in einer neonbeleuchteten Kantine Typen mit drögen Visagen gegenüber, die über Dinge reden, die dich nicht interessieren. Nie interessiert haben. Nie interessieren werden. Du bist nur noch ein einziger Fluchtgedanke, traust dich aber nicht zu kündigen, denn – was dann? Was wird aus den Menschen, die auf dich zählen?

IRINA Schluss mit dem Gejammer. Trinken wir! Gießt Gläser ein. Alle trinken.

GEORG Warum hängen hier so viele leere Rahmen?

OLGA Die hat unser Bruder gemacht. Hübsch, was? Er ist das Genie der Familie.

GEORG Hübsch. Pause Warum sind keine Bilder drin?

OLGA Weil wir nicht wissen, was wir reinhängen sollen.

IRINA Das entscheiden wir später.

OLGA/MASCHA Später, der kleine Bruder von: Nie.

GEORG Sieht gespenstisch aus. Wie ein Versprechen, das schon beim Geben beschlossen hat, sich nie einzulösen. Na ja. Ich wollte eure Innenarchitektur nicht kritisieren. bemerkt, dass sein Glas leer ist Oh je. Leer! Könnt ich noch ein Glas Wein haben? Ich bin heute so glücklich. Das ist, weil ich mal unter Leute komme. So ein schönes Haus. Andrej hat mir gar nicht erzählt, was er für charmante Schwestern hat. Er hat mir strenggenommen nichts erzählt, nichts Privates, bloß von seinem Romankonzept. Wir haben uns in der Kneipe kennengelernt. Und sofort gut verstanden! Er ist so geistreich. Und schlagfertig. Und besessen. Von seinem Konzept. Ich liebe Menschen, die Leidenschaften pflegen. Ich freu mich immer, wenn ich neue Bekanntschaften schließe. Meine Frau geht nicht mehr viel aus, und die Kollegen – na ja. Aber ich will nicht klagen. Ein klagender Mann, wie furchtbar. Nicht, dass eine klagende Frau besser wäre. Ihr habt ja sicher nichts zu klagen. In dieser schönen Villa, und selbst so schön.

MASCHA Ich wohne nicht mehr hier. Ich wohne gegenüber. Mit meinem Mann. Er ist Lehrer. Geschichte und Geographie. Martin. So heißt er. Fünf Jahre. Also nicht er, sondern wir. Zusammen. Nicht immer leicht.

GEORG Ach ja, nicht leicht, nicht leicht, ach ja.

MASCHA Wir haben uns durch Olga kennengelernt. Sie unterrichtet am gleichen Gymnasium.

OLGA Selben.

MASCHA Es war ein Sommerfest. Es war im August. Martin war damals, na ja, egal. Noch nen Wein?

GEORG schaut bestürzt sein Glas an Oh je. Leer! streckt Mascha das Glas hin, die nachschenkt Warum habt ihr eigentlich alle russische Namen?

MASCHA Weil unsere Eltern solche Bildungssnobs waren. Schwerpunkt russische Literatur. Ihr Favorit war Dostojewski, und fast hätten sie Andrej Mitja genannt, wegen der Brüder Karamasow, das wär doch toll, habe sie sich gesagt, wenn wir noch zwei Jungs kriegten, dann könnten wir sie Iwan und Aljoscha nennen, aber sie haben sich ja auch Mädchen gewünscht und dann haben sie gesagt, Mensch, vielleicht kriegen wir noch drei Mädchen, dann können wir ihnen Tschechow-Namen geben, also fangen wir mal mit Andrej an, und so ist das gekommen, dermaßen blöd, unsere klugen Eltern.

OLGA Gott sei Dank waren sie keine Melville-Fans, dann hieße ich jetzt Moby und du Dick und Andrej Ahab oder so.

MASCHA Und ich, wie hieße ich?

OLGA Dich hätten sie abgetrieben, weil du nicht mehr ins literarsiche Konzept gepasst hättest.

Alle lachen, außer Georg.

IRINA Ich habe unsere Eltern geliebt, aber es macht mich wütend, man darf seine Kinder nicht so missbrauchen, wir haben auch viel zu viel zu lesen bekommen, ich hab mit zwölf bereits Kafka gelesen, mit dreizehn Faust, mit vierzehn de Sade, natürlich nichts verstanden von alldem, oder doch mehr, als mir lieb war, die anderen Kinder, die haben Kinderbücher gelesen, aber unsere Eltern glaubten nicht an die Kindheit, sie sagten, die Kindheit sei eine Erfindung der Renaissance, davor gabs keine Kinder und Erwachsenen, da gabs nur alte und junge Menschen, und alle anderen Kinder haben uns beneidet, aber wir haben nie Comics gekriegt, sie sind vor drei Jahren gegen einen Baum geprallt, die kamen von einer Hochzeit von Freunden, und dann hats sie aus der Kurve getragen, und weg waren sie, weg für immer, es war der schlimmste Tag meines Lebens, trotzdem bin ich wütend, jetzt sitzen wir da mit diesen Namen, es ist ein Fluch.

Schweigen

GEORG Das sind doch sehr schöne Namen. Es kommt nicht auf die Herkunft an, sondern den Klang. Ma-scha. Ma-scha. Das klingt wie ein indisches Mantra, das man zur Beruhigung vor sich hin murmeln möchte in Zeiten der Gefahr.

MASCHA kichert Also ich weiß nicht. Andrej!

 

OLGA Und das Resultat? Irina liest alle Kinderbücher und Comics, die sie in ihrer Kindheit versäumte, jetzt. Stell dir ihre geistige Verfassung vor: Tut den ganzen Tag nichts, hat keinen Liebhaber, liegt bei schönster Sonne in Omas Nachthemd im Bett und liest Pippi Langstrumpf, Foucault und Asterix. In zehn Jahren ist sie komplett verrückt und wir können sie in die Klapse abschieben. Andrej!

Andrej kommt. Er und Georg umarmen sich begeistert.

ANDREJ Schön, du hier, hör zu: Ich hab den Titel geändert. Der Titel ist jetzt Authentisch. Also nicht der Titel ist authentisch, sondern der Titel ist Authentisch, verstehst? Titel: Authentisch.

GEORG Verstehe.

ANDREJ ungebremst atemlos high speed begeistert, nur zu Georg Also wie gehabt, Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer, alles funktioniert maschinell, Arbeiter werden nicht mehr gebraucht, die neue Elite ist eine Medienelite, die malt Anführungszeichen in die Luft irgendwas mir Kunst macht und nur einer Betätigung nachgeht: Selbstreflexion. Schnittstelle von echt und inszeniert, Die Künstlerelite benötigt ständig frisches Blut für ihre Arbeiten, die so malt Anführungszeichen in die Luft authentisch wie möglich sein sollen, das malt Anführungszeichen in die Luft echte Leben der malt Anführungszechen in die Luft kleinen Leute abbilden, deshalb ist sie permanent im Kampf um das unverbildete Menschenmaterial, auch auf sexueller Ebene. Die sich selbst Reflektierenden bilden zwar häufig Paare, in denen sie eine große intellektuelle Nähe zelebrieren, haben aber keinen Sex mehr, zumindest nicht miteinander, ha, dazu sind die Armen, Schönen, Dummen da, deren einzige ökonomische Überlebenschance es ist, sich zu verkaufen. Große Sehnsucht der Elite ist malt Anführungszeichen in die Luft der Moment, etwas, das man erlebt, ohne es sofort reflektierend zu verfremden. Wie ein Blutsauger nährt sich die Elite vom scheinbar echt gelebten Leben der Unterschicht, erstes Kapitel: Eine Elitäre schaut aus dem Fenster –

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