Fräulein Agnes

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Fräulein Agnes
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© 2017 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH







Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin





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AGNES, zwischen 40 und 45



FANNY, zwischen 45 und 50



ORLANDO, zwischen 20 und 25



SASCHA, zwischen 25 und 30



ANNABELLE, zwischen 20 und 25



CORDULA, zwischen 20 und 25



ADRIAN, zwischen 45 und 50



ELIAS, zwischen 20 und 25





ORT





Eine Altbauwohnung





ZEIT





Ein Wochenende



Dieses Werk ist eine Auftragsarbeit des Deutschen Theaters Göttingen.




„Mes yeux sont trop blessés; et la cour, et la ville,



Ne m'offrent rien qu'objets à m'échauffer la bile:



J'entre en un humeur noire, en un chagrin profond,



Quand je vois vivre entre eux, les hommes comme ils font;



Je ne trouve, partout, que lâche flatterie,



Qu'injustice, intérêt, trahison, fourberie;



Je n'y puis plus tenir, j'enrage, et mon dessein



Est de rompre en visière à tout le genre humain.“



Molière, „Le Misanthrope“



„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“



Ingeborg Bachmann






FREITAG









Neunzehn Uhr











Agnes in einem Sitzsack aus den Achtzigern. Fanny, bester Laune, macht sich im Hintergrund ausgehfertig. In einer Ecke liegt Elias und liest.







AGNES

 Ich habe diese Paare satt. Diese Paare, die sich ständig an einen ranschmeißen, weil sie ihre Zweisamkeit nicht aushalten. Ich habe diese Singles satt. Diese Singles mit ihrem verlogenen Geschwätz von Freiheit. Ich hab diese Künstler satt. Diese Stipendien-Parasiten, die ihre müden kleinen Affären mit anderen Parasiten aufblasen zu welthaltigen Seelendramen und damit die Atmosphäre zumüllen. Ich hab diese Kosmopoliten satt. Diese dreitagebärtigen Besserwisser, die sich weißgottwie weltgewandt fühlen, bloß weil sie ein paar Monate durch Südamerika gelatscht sind mit ihrem dämlichen Rucksack. Ich habe diese Geliebten satt, die sich über die Ehefrauen ihrer Lover lustig machen und sich für das Bessere, Intensivere halten. Ich habe diese fremdgehenden, verlogenen, pseudogewissensverbissenen Ehemänner satt. Ich habe diese nichtfremdgehenden, verlogenen, pseudonichtuntervögelten Ehemänner satt. Ich habe diese gemütlichen Rotweintrinker satt mit ihren gemütlichen Rotweinnasen. Ich habe diese uralten Galeristen mit ihren jungen asiatischen Frauen satt. Ich habe diese schicken schwulen Agenten mit ihren hohl grinsenden Begleitern satt. Ich habe diese Sportler satt, diese miesen Kreaturen, die jeden Morgen um Fünf in ihren dämlichen Thermo-Klamotten durch die Pampa rennen und damit angeben, wie fit und ausgeglichen sie sich fühlen. Ich habe diese Raucher satt. Ich habe diese militanten Ex-Raucher satt. Ich habe diese Gelegenheitsraucherschweine satt. Ich habe diese Alkoholiker satt, die bereits um siebzehn Uhr in ihren immer gleichen Denk-und Redeschleifen verschwinden, die stinken, fuchteln und dann umfallen, so dass man sie entweder, schlechten Gewissens, liegenlassen oder, zähneknirschend, schultern und nach Hause schleppen muss. Ich habe diese Kokser satt, diese chemisch aufgeblähten Gockel. Ich habe diese Kiffer satt, diese Teechen trinkenden Sofa-Philosophen mit ihren ewigen Metalldosen voll Hasch. Ich habe diese Abstinenzler satt. Ich habe diese fettgefressenen, selbstgefälligen, ihren eigenen Mythos in Zement gießenden Großschriftsteller in ihren schäbigen Großschriftsteller-Jacken satt. Ich habe diese Großschriftsteller-Gattinnen satt, die hinter ihren Männern herrennen und ihnen die Schuppen von den Schultern bürsten. Ich habe diese in Würde alternden Musiker satt. Ich habe diese Schauspielerinnen mit ihren leeren Hirnen und ihren piepsenden Stimmchen satt. Ich habe diese Wenderoman-Autoren satt mit ihren Tausendseiten-Schwarten voll lähmend öder Kindheitserinnerungen. Ich hab diese Kulturverwaltungstussen satt, diese fleißigen Bienchen mit Einsnullerabi und Haifischgebiss. Ich habe diese redeschwingenden Regional-Politiker satt, die glauben, sie hätten irgendeine Ahnung von Kunst, nur weil ihre Mama sie mal mit zwölf in eine Dali-Ausstellung geschleppt hat. Ich habe diese Hundefreunde satt. Diese vom Mitmensch enttäuschten Schrullen, die als letzte anzapfbare Zuneigungsquelle das Tier missbrauchen, das Tier, das sich an jedem schabt, der ihm zu fressen gibt und das dafür seine animalische Ehre an den Nagel hängt. Ich habe diese auf Lolita gestylten, überreifen Frauen satt, die kreischend in den Großstadt-Bars rumhängen und ihre verdorrten Eierstöcke mit ihren teenierosa Mäntelchen bemänteln. Ich habe diese internationalen Netzwerker satt mit ihren blöden überteuerten Laptops auf ihren blöden internationalen Schößen. Ich habe diese Witzereißer satt, die in jeder Gesprächsrunde mit ihrem verbalen Elan punkten müssen. Ich habe diese schleimigen Laudatoren satt. Ich habe diese Schönen satt, die so tun, als hätten sie die Gunst der Welt durch irgendeinen edlen Charakterzug verdient, obwohl sie nur rumstehen und dumm wie Wurst sind und sich von den notgeilen Trotteln aus der Hand fressen lassen. Ich habe diese kapitalismuskritischen Künstler satt, die steuergeldfinanziert herumgrölen und wie Welpen in die sie fütternde Hand beißen, ohne die sie längst verreckt wären in einem muffigen Büro mit Gummibaum. Ich habe diese Kunstsammler satt. Ich habe die Komiker satt, diese lebensunfähigen Lemuren. Ich habe diese therapiegeschädigten Narzissten mit ihren Vater-Komplexen und Mutter-Phobien satt. Ich habe die Poeten satt, diese emotionsdiarrhoetischen Liebesbriefschreiber und Blätterbetrachter, diese Edleseelengewächshausgezüchte mit ihren staats-subventionierten Gedichtbändchen in Kleinstauflagen. Ich habe diese Installationskünstler satt. Ich habe die dummschwätzenden Filmstudenten satt, diese schamhaarlosen Godard-Versteher und Brillenfuchtler. Ich habe diese Männer satt. Ich habe diese Frauen satt. Ich habe diese Kinder satt. Ich hab die ganze Menschheit satt.



FANNY

 Tschüss. Ich geh dann mal.



AGNES

 Ja. Geh. Geh zu deiner Ver-an-stal-tung. Amüsier dich. Versuch es. Ich sage dir, wer von uns beiden den intellektuell anregenderen Abend verbringen wird. Ich. Weil ich mich in der besseren Gesellschaft befinde. Nämlich der meinigen.



FANNY

 Du meinst das auch noch ernst.



AGNES

 Geh und sammle verlogene Komplimente in dein Sammelkörbchen. Kleb dich den wichtigen, wichtigen Menschen an die Hacken. Und vor allem: Vergiss nicht, zu saufen. Saufen macht jedes verpfuschte Leben bunt. Sogar deins.



FANNY

 Kann doch ich nichts dafür, dass du dieses Jahr nicht eingeladen wurdest.



AGNES

 Ich wurd nicht eingeladen, weil man wusste, dass ich eh nicht kommen würde. Ich wurd nicht eingeladen, weil man mir in einem Restbewusstsein von Feingefühl die Peinlichkeit, mir eine Ausrede für mein Nichtkommen zu überlegen, ersparen wollte. Weil man ja weiß, dass ich nicht lügen kann.



FANNY

 Klar.



AGNES

 Du glaubst doch nicht, dass ich mir diesen schönen Freitagabend mit einer solchen Ver-an-stal-tung versaut hätte?



FANNY

 Natürlich nicht.



AGNES

 Dir blüht viel Lächeln und viel Lügen.



FANNY

 Ich lächle gern. Und ob so eine kleine Übertreibung an der rechten Stelle gleich eine Lüge ist –



AGNES

 Du wirst, ab dem Moment, in dem du die Schwelle der Ver-an-stal-tung überschreitest, lügen. Lügen über deine Laune. Lügen über den Grad der Freude angesichts des Wiedersehens mit einer bestimmten Person. Lügen über die Schmackhaftigkeit der Häppchen. Lügen über die Schönheit von Blusen, die Qualität von Kunstwerken, das Witzniveau von Witzen.



FANNY

 Humanes Lügen. Erfand der Mensch, um sich nicht zu zerfleischen.



AGNES

 Und weil das viele Lügen so anstrengend ist, wirst du dich besaufen. Und der Suff wird dir ein Fenster öffnen, durch das du die Wahrheit locker aus der Hüfte ins Haus der Heuchelei schmeißen könntest wie einen Molotowcocktail, aber du wirst vorher in ein Taxi hechten, nach Hause fahren und all das schöne Pulver sinnlos in diesem Wohnzimmer verschießen.



FANNY

 Mit trunkenen Beleidigungen hat noch keiner je die Welt verändert. Das führt nur zu inneren Verletzungen. Und Hausverboten.







Pause







AGNES

 Ich hatte Recht.



FANNY

 Du hattest Recht. Es war so klug, den Chefredakteur der BILD UND TON als Mini-Goebbels zu bezeichnen.



AGNES

 Wenn er ein Mini-Goebbels IST?



FANNY

 Das will nicht dringend öffentlich gesagt sein.



AGNES

 Ach. Begegnet man also Goebbels, sagt man nicht, hallo, Goebbels, sondern hallo, Sonnenblume? Oder was? Und außerdem, was willst du: Er misst eins achtundsechzig. Ist das nun Mini oder nicht?



FANNY

 Und ist mit Leib und Seele Linker.

 



AGNES

 Der sich sprachlich sehr weit rechts bedient.



FANNY

 Sein Opa wurde in Auschwitz ermordet.



AGNES

 Ein Grund mehr für das Abstandhalten von der faschistoiden Sprachfigur.



FANNY

 Dein Satz war taktlos.



AGNES

 Aber wahr.



FANNY

 Wahrheit und Takt sind nicht die besten Freunde.



AGNES

 So ist es, liebe Fanny, so ist es.



FANNY

 Es gibt gute Gründe, warum die Gesellschaft die Höflichkeit erfand.



AGNES

 Wenn deine liebe Höflichkeit nicht eine solche Schlampe wär! Und am liebsten macht sie für die Ignoranz, die Falschheit und das Mimosentum die Beine breit.



FANNY

 Du forderst absolute Ehrlichkeit? Dann sag ich dir ganz ehrlich: Ich mach mir Sorgen.



AGNES

 Um mich?



FANNY

 Wenn du so weiter machst, dann endest du an einem sehr, sehr finsteren Ort.



AGNES

 Was mag das für ein Ort sein?



FANNY

 Er nennt sich das soziale Abseits.



AGNES

 Ha. Zufällig mein Lieblingsort. Ich schnitzte dort schon meinen Namen in jeden Baum der Parkanlage.



FANNY

 Noch achtet man dich.



AGNES

 Oh, hört das NOCH, das drohende.



FANNY

 Man achtet deine Meinung, nicht jedoch dein Verhalten.



AGNES

 Und warum achtet man meine Meinung? Weil ich unkorrumpierbar bin.



FANNY

 Du mit deinem werbefreien Blog. Ja, wer sich's leisten kann! Unsereins muss sich ernähren.



AGNES

 Seit seiner Scheidung schon.



FANNY

 Ich hab mich vorher schon höchstselbst ernährt.



AGNES

 Die Chirurgengattin hat sich die Hälfte ihres Zweihundert-Quadratmeter-Lofts mit ihrer wöchentlichen LE-BENS-STIL-Kolumne eines Online-Magazins allein erschrieben.



FANNY

 Klaus und ich, wir haben nie so aufgerechnet.



AGNES

 Weshalb die Wahrheit nie ans Licht kam.



FANNY

 Der Mensch in der Ideenwelt, der mag vielleicht unfehlbar sein, der echte Mensch aus Fleisch und Blut hat so seine Schwachstellen. Was ihn sympathisch macht! Mir mein finanzielles und amouröses Scheitern vorzuwerfen, ist nicht sehr ladylike.



AGNES

 Fanny, Scheitern, mir egal. Mach, was du willst, wohne hier, so lang du willst, für lau. Du musst nicht mal ein müdes Brötchen kaufen. Du bist meine Freundin. Und ich erwarte nicht von meinen Freunden, dass sie funktionstüchtige Leistungsträger sind. Aber ich erwarte von ihnen, dass sie ehrlich sind. Vor allem zu sich selbst.



FANNY

 Dann fang mal mit dem Griff an die eigene Nase an. Schönen Abend, Tugendterroristin.

geht



AGNES

 Ich zieh aufs Land.







Zwanzig Uhr











Orlando kommt mit Gitarre.







ORLANDO

 Einen wunderschönen guten Abend.



AGNES

 Nein.



ORLANDO

 Die Freude ist ganz auf meiner Seite.



AGNES

 Er hat es mitgebracht, sein Instrument des Grauens. Wenn ich was hasse, dann sind es Jungs mit Gitarren.



ORLANDO

 Weil du keinen Sinn für Romantik hast.



AGNES

 Sag mir bitte nicht, dass du schon wieder verliebt bist.



ORLANDO

 Ich bin in einem Alter, in dem man das noch kann.



AGNES

 Beileid.



ORLANDO

 Wohl eher Neid.



AGNES

 Sag bitte nicht, dass du schon wieder ein Liebeslied verfasst hast.



ORLANDO

 Wenn ich dann mal in die Saiten greifen dürfte?



AGNES

 Orlando. Es ist sehr schwer, ein wirklich gutes Liebeslied zu schreiben.



ORLANDO

 Kommt auf das Sujet an.



AGNES

 Nein, eben nicht. Es kommt auf deine Haltung an. Poesie kommt nämlich nicht von Pose.



ORLANDO

 Ich würd das neue Lied gern bei unserem Konzert am Samstag als Zugabe singen. Unplugged.



AGNES

 Weil du hoffst, dass SIE dann auch da sein wird. Du hoffst, dass SIE, von deiner zu Kunst geronnenen Großartigkeit in Wort und Ton hypnotisiert, blind und willig in dein weit geöffnetes Herz stolpert. Reine Schwanzverlängerung, dein Lied.



ORLANDO

 Wie jede Kunst. Außer natürlich deiner. Deine Kunst: Schwanzersatz.



AGNES

 Ich mache keine Kunst.



ORLANDO

 Nicht mehr.



AGNES

 Ob nicht oder nicht mehr ist unerheblich. Fakt ist, ihr macht Kunst, ich mache keine. Eure Verantwortung also, nicht meine.



ORLANDO

 Ja ja. Darf ich jetzt bitte mal?



AGNES

 Nein.



ORLANDO

 Der Song heißt SCHWARZER FRÜHLING.



AGNES

 Nein.







Orlando schlägt einen Akkord an. Agnes sinkt theatralisch stöhnend in ihrem Sitzsack zusammen.







ORLANDO


singt und spielt Gitarre dazu



Das Vogelkind fällt tot aus allen Bäumen



Der schwarze Frühling ist da



Der Wind singt schief von kollektiv versäumten Träumen



Der schwarze Frühling ist da



Und immerzu regnet regnet regnet regnet regnet es



Durch das Fenster meiner Gier



Das ich aus Dummheit



Offen ließ



Der Teppich meiner Hoffnung ist verschimmelt



Er war so teuer und antik



Ich bin der, der den fernsten Mond anhimmelt



In mir tobt ein unbenannter Krieg



Und immer zu regnet regnet regnet regnet regnet es



Durch das Fenster meiner Gier



Das

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