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© 2017 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH
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AGNES, zwischen 40 und 45
FANNY, zwischen 45 und 50
ORLANDO, zwischen 20 und 25
SASCHA, zwischen 25 und 30
ANNABELLE, zwischen 20 und 25
CORDULA, zwischen 20 und 25
ADRIAN, zwischen 45 und 50
ELIAS, zwischen 20 und 25
ORT
Eine Altbauwohnung
ZEIT
Ein Wochenende
Dieses Werk ist eine Auftragsarbeit des Deutschen Theaters Göttingen.
„Mes yeux sont trop blessés; et la cour, et la ville,
Ne m'offrent rien qu'objets à m'échauffer la bile:
J'entre en un humeur noire, en un chagrin profond,
Quand je vois vivre entre eux, les hommes comme ils font;
Je ne trouve, partout, que lâche flatterie,
Qu'injustice, intérêt, trahison, fourberie;
Je n'y puis plus tenir, j'enrage, et mon dessein
Est de rompre en visière à tout le genre humain.“
Molière, „Le Misanthrope“
„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Ingeborg Bachmann
FREITAG
Neunzehn Uhr
Agnes in einem Sitzsack aus den Achtzigern. Fanny, bester Laune, macht sich im Hintergrund ausgehfertig. In einer Ecke liegt Elias und liest.
AGNES
Ich habe diese Paare satt. Diese Paare, die sich ständig an einen ranschmeißen, weil sie ihre Zweisamkeit nicht aushalten. Ich habe diese Singles satt. Diese Singles mit ihrem verlogenen Geschwätz von Freiheit. Ich hab diese Künstler satt. Diese Stipendien-Parasiten, die ihre müden kleinen Affären mit anderen Parasiten aufblasen zu welthaltigen Seelendramen und damit die Atmosphäre zumüllen. Ich hab diese Kosmopoliten satt. Diese dreitagebärtigen Besserwisser, die sich weißgottwie weltgewandt fühlen, bloß weil sie ein paar Monate durch Südamerika gelatscht sind mit ihrem dämlichen Rucksack. Ich habe diese Geliebten satt, die sich über die Ehefrauen ihrer Lover lustig machen und sich für das Bessere, Intensivere halten. Ich habe diese fremdgehenden, verlogenen, pseudogewissensverbissenen Ehemänner satt. Ich habe diese nichtfremdgehenden, verlogenen, pseudonichtuntervögelten Ehemänner satt. Ich habe diese gemütlichen Rotweintrinker satt mit ihren gemütlichen Rotweinnasen. Ich habe diese uralten Galeristen mit ihren jungen asiatischen Frauen satt. Ich habe diese schicken schwulen Agenten mit ihren hohl grinsenden Begleitern satt. Ich habe diese Sportler satt, diese miesen Kreaturen, die jeden Morgen um Fünf in ihren dämlichen Thermo-Klamotten durch die Pampa rennen und damit angeben, wie fit und ausgeglichen sie sich fühlen. Ich habe diese Raucher satt. Ich habe diese militanten Ex-Raucher satt. Ich habe diese Gelegenheitsraucherschweine satt. Ich habe diese Alkoholiker satt, die bereits um siebzehn Uhr in ihren immer gleichen Denk-und Redeschleifen verschwinden, die stinken, fuchteln und dann umfallen, so dass man sie entweder, schlechten Gewissens, liegenlassen oder, zähneknirschend, schultern und nach Hause schleppen muss. Ich habe diese Kokser satt, diese chemisch aufgeblähten Gockel. Ich habe diese Kiffer satt, diese Teechen trinkenden Sofa-Philosophen mit ihren ewigen Metalldosen voll Hasch. Ich habe diese Abstinenzler satt. Ich habe diese fettgefressenen, selbstgefälligen, ihren eigenen Mythos in Zement gießenden Großschriftsteller in ihren schäbigen Großschriftsteller-Jacken satt. Ich habe diese Großschriftsteller-Gattinnen satt, die hinter ihren Männern herrennen und ihnen die Schuppen von den Schultern bürsten. Ich habe diese in Würde alternden Musiker satt. Ich habe diese Schauspielerinnen mit ihren leeren Hirnen und ihren piepsenden Stimmchen satt. Ich habe diese Wenderoman-Autoren satt mit ihren Tausendseiten-Schwarten voll lähmend öder Kindheitserinnerungen. Ich hab diese Kulturverwaltungstussen satt, diese fleißigen Bienchen mit Einsnullerabi und Haifischgebiss. Ich habe diese redeschwingenden Regional-Politiker satt, die glauben, sie hätten irgendeine Ahnung von Kunst, nur weil ihre Mama sie mal mit zwölf in eine Dali-Ausstellung geschleppt hat. Ich habe diese Hundefreunde satt. Diese vom Mitmensch enttäuschten Schrullen, die als letzte anzapfbare Zuneigungsquelle das Tier missbrauchen, das Tier, das sich an jedem schabt, der ihm zu fressen gibt und das dafür seine animalische Ehre an den Nagel hängt. Ich habe diese auf Lolita gestylten, überreifen Frauen satt, die kreischend in den Großstadt-Bars rumhängen und ihre verdorrten Eierstöcke mit ihren teenierosa Mäntelchen bemänteln. Ich habe diese internationalen Netzwerker satt mit ihren blöden überteuerten Laptops auf ihren blöden internationalen Schößen. Ich habe diese Witzereißer satt, die in jeder Gesprächsrunde mit ihrem verbalen Elan punkten müssen. Ich habe diese schleimigen Laudatoren satt. Ich habe diese Schönen satt, die so tun, als hätten sie die Gunst der Welt durch irgendeinen edlen Charakterzug verdient, obwohl sie nur rumstehen und dumm wie Wurst sind und sich von den notgeilen Trotteln aus der Hand fressen lassen. Ich habe diese kapitalismuskritischen Künstler satt, die steuergeldfinanziert herumgrölen und wie Welpen in die sie fütternde Hand beißen, ohne die sie längst verreckt wären in einem muffigen Büro mit Gummibaum. Ich habe diese Kunstsammler satt. Ich habe die Komiker satt, diese lebensunfähigen Lemuren. Ich habe diese therapiegeschädigten Narzissten mit ihren Vater-Komplexen und Mutter-Phobien satt. Ich habe die Poeten satt, diese emotionsdiarrhoetischen Liebesbriefschreiber und Blätterbetrachter, diese Edleseelengewächshausgezüchte mit ihren staats-subventionierten Gedichtbändchen in Kleinstauflagen. Ich habe diese Installationskünstler satt. Ich habe die dummschwätzenden Filmstudenten satt, diese schamhaarlosen Godard-Versteher und Brillenfuchtler. Ich habe diese Männer satt. Ich habe diese Frauen satt. Ich habe diese Kinder satt. Ich hab die ganze Menschheit satt.
FANNY
Tschüss. Ich geh dann mal.
AGNES
Ja. Geh. Geh zu deiner Ver-an-stal-tung. Amüsier dich. Versuch es. Ich sage dir, wer von uns beiden den intellektuell anregenderen Abend verbringen wird. Ich. Weil ich mich in der besseren Gesellschaft befinde. Nämlich der meinigen.
FANNY
Du meinst das auch noch ernst.
AGNES
Geh und sammle verlogene Komplimente in dein Sammelkörbchen. Kleb dich den wichtigen, wichtigen Menschen an die Hacken. Und vor allem: Vergiss nicht, zu saufen. Saufen macht jedes verpfuschte Leben bunt. Sogar deins.
FANNY
Kann doch ich nichts dafür, dass du dieses Jahr nicht eingeladen wurdest.
AGNES
Ich wurd nicht eingeladen, weil man wusste, dass ich eh nicht kommen würde. Ich wurd nicht eingeladen, weil man mir in einem Restbewusstsein von Feingefühl die Peinlichkeit, mir eine Ausrede für mein Nichtkommen zu überlegen, ersparen wollte. Weil man ja weiß, dass ich nicht lügen kann.
FANNY
Klar.
AGNES
Du glaubst doch nicht, dass ich mir diesen schönen Freitagabend mit einer solchen Ver-an-stal-tung versaut hätte?
FANNY
Natürlich nicht.
AGNES
Dir blüht viel Lächeln und viel Lügen.
FANNY
Ich lächle gern. Und ob so eine kleine Übertreibung an der rechten Stelle gleich eine Lüge ist –
AGNES
Du wirst, ab dem Moment, in dem du die Schwelle der Ver-an-stal-tung überschreitest, lügen. Lügen über deine Laune. Lügen über den Grad der Freude angesichts des Wiedersehens mit einer bestimmten Person. Lügen über die Schmackhaftigkeit der Häppchen. Lügen über die Schönheit von Blusen, die Qualität von Kunstwerken, das Witzniveau von Witzen.
FANNY
Humanes Lügen. Erfand der Mensch, um sich nicht zu zerfleischen.
AGNES
Und weil das viele Lügen so anstrengend ist, wirst du dich besaufen. Und der Suff wird dir ein Fenster öffnen, durch das du die Wahrheit locker aus der Hüfte ins Haus der Heuchelei schmeißen könntest wie einen Molotowcocktail, aber du wirst vorher in ein Taxi hechten, nach Hause fahren und all das schöne Pulver sinnlos in diesem Wohnzimmer verschießen.
FANNY
Mit trunkenen Beleidigungen hat noch keiner je die Welt verändert. Das führt nur zu inneren Verletzungen. Und Hausverboten.
Pause
AGNES
Ich hatte Recht.
FANNY
Du hattest Recht. Es war so klug, den Chefredakteur der BILD UND TON als Mini-Goebbels zu bezeichnen.
AGNES
Wenn er ein Mini-Goebbels IST?
FANNY
Das will nicht dringend öffentlich gesagt sein.
AGNES
Ach. Begegnet man also Goebbels, sagt man nicht, hallo, Goebbels, sondern hallo, Sonnenblume? Oder was? Und außerdem, was willst du: Er misst eins achtundsechzig. Ist das nun Mini oder nicht?
FANNY
Und ist mit Leib und Seele Linker.
AGNES
Der sich sprachlich sehr weit rechts bedient.
FANNY
Sein Opa wurde in Auschwitz ermordet.
AGNES
Ein Grund mehr für das Abstandhalten von der faschistoiden Sprachfigur.
FANNY
Dein Satz war taktlos.
AGNES
Aber wahr.
FANNY
Wahrheit und Takt sind nicht die besten Freunde.
AGNES
So ist es, liebe Fanny, so ist es.
FANNY
Es gibt gute Gründe, warum die Gesellschaft die Höflichkeit erfand.
AGNES
Wenn deine liebe Höflichkeit nicht eine solche Schlampe wär! Und am liebsten macht sie für die Ignoranz, die Falschheit und das Mimosentum die Beine breit.
FANNY
Du forderst absolute Ehrlichkeit? Dann sag ich dir ganz ehrlich: Ich mach mir Sorgen.
AGNES
Um mich?
FANNY
Wenn du so weiter machst, dann endest du an einem sehr, sehr finsteren Ort.
AGNES
Was mag das für ein Ort sein?
FANNY
Er nennt sich das soziale Abseits.
AGNES
Ha. Zufällig mein Lieblingsort. Ich schnitzte dort schon meinen Namen in jeden Baum der Parkanlage.
FANNY
Noch achtet man dich.
AGNES
Oh, hört das NOCH, das drohende.
FANNY
Man achtet deine Meinung, nicht jedoch dein Verhalten.
AGNES
Und warum achtet man meine Meinung? Weil ich unkorrumpierbar bin.
FANNY
Du mit deinem werbefreien Blog. Ja, wer sich's leisten kann! Unsereins muss sich ernähren.
AGNES
Seit seiner Scheidung schon.
FANNY
Ich hab mich vorher schon höchstselbst ernährt.
AGNES
Die Chirurgengattin hat sich die Hälfte ihres Zweihundert-Quadratmeter-Lofts mit ihrer wöchentlichen LE-BENS-STIL-Kolumne eines Online-Magazins allein erschrieben.
FANNY
Klaus und ich, wir haben nie so aufgerechnet.
AGNES
Weshalb die Wahrheit nie ans Licht kam.
FANNY
Der Mensch in der Ideenwelt, der mag vielleicht unfehlbar sein, der echte Mensch aus Fleisch und Blut hat so seine Schwachstellen. Was ihn sympathisch macht! Mir mein finanzielles und amouröses Scheitern vorzuwerfen, ist nicht sehr ladylike.
AGNES
Fanny, Scheitern, mir egal. Mach, was du willst, wohne hier, so lang du willst, für lau. Du musst nicht mal ein müdes Brötchen kaufen. Du bist meine Freundin. Und ich erwarte nicht von meinen Freunden, dass sie funktionstüchtige Leistungsträger sind. Aber ich erwarte von ihnen, dass sie ehrlich sind. Vor allem zu sich selbst.
FANNY
Dann fang mal mit dem Griff an die eigene Nase an. Schönen Abend, Tugendterroristin.
geht
AGNES
Ich zieh aufs Land.
Zwanzig Uhr
Orlando kommt mit Gitarre.
ORLANDO
Einen wunderschönen guten Abend.
AGNES
Nein.
ORLANDO
Die Freude ist ganz auf meiner Seite.
AGNES
Er hat es mitgebracht, sein Instrument des Grauens. Wenn ich was hasse, dann sind es Jungs mit Gitarren.
ORLANDO
Weil du keinen Sinn für Romantik hast.
AGNES
Sag mir bitte nicht, dass du schon wieder verliebt bist.
ORLANDO
Ich bin in einem Alter, in dem man das noch kann.
AGNES
Beileid.
ORLANDO
Wohl eher Neid.
AGNES
Sag bitte nicht, dass du schon wieder ein Liebeslied verfasst hast.
ORLANDO
Wenn ich dann mal in die Saiten greifen dürfte?
AGNES
Orlando. Es ist sehr schwer, ein wirklich gutes Liebeslied zu schreiben.
ORLANDO
Kommt auf das Sujet an.
AGNES
Nein, eben nicht. Es kommt auf deine Haltung an. Poesie kommt nämlich nicht von Pose.
ORLANDO
Ich würd das neue Lied gern bei unserem Konzert am Samstag als Zugabe singen. Unplugged.
AGNES
Weil du hoffst, dass SIE dann auch da sein wird. Du hoffst, dass SIE, von deiner zu Kunst geronnenen Großartigkeit in Wort und Ton hypnotisiert, blind und willig in dein weit geöffnetes Herz stolpert. Reine Schwanzverlängerung, dein Lied.
ORLANDO
Wie jede Kunst. Außer natürlich deiner. Deine Kunst: Schwanzersatz.
AGNES
Ich mache keine Kunst.
ORLANDO
Nicht mehr.
AGNES
Ob nicht oder nicht mehr ist unerheblich. Fakt ist, ihr macht Kunst, ich mache keine. Eure Verantwortung also, nicht meine.
ORLANDO
Ja ja. Darf ich jetzt bitte mal?
AGNES
Nein.
ORLANDO
Der Song heißt SCHWARZER FRÜHLING.
AGNES
Nein.
Orlando schlägt einen Akkord an. Agnes sinkt theatralisch stöhnend in ihrem Sitzsack zusammen.
ORLANDO
singt und spielt Gitarre dazu
Das Vogelkind fällt tot aus allen Bäumen
Der schwarze Frühling ist da
Der Wind singt schief von kollektiv versäumten Träumen
Der schwarze Frühling ist da
Und immerzu regnet regnet regnet regnet regnet es
Durch das Fenster meiner Gier
Das ich aus Dummheit
Offen ließ
Der Teppich meiner Hoffnung ist verschimmelt
Er war so teuer und antik
Ich bin der, der den fernsten Mond anhimmelt
In mir tobt ein unbenannter Krieg
Und immer zu regnet regnet regnet regnet regnet es
Durch das Fenster meiner Gier
Das