Methoden der Theaterwissenschaft

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From the series: Forum Modernes Theater #56
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Methoden der Theaterwissenschaft
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Christopher Balme / Berenika Szymanski-Düll

Methoden der Theaterwissenschaft

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Umschlagabbildung: Entwurfszeichnung von Katrin Brack für Iwanow (Regie: Dimiter Gotscheff, Volksbühne Berlin, 2005).

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8333-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0227-7 (ePub)

Inhalt

  Einleitung Methoden und Methodologie Aufführungs- und Inszenierungsanalyse Praxis und künstlerische Forschung Theaterhistoriographie Sozialwissenschaftliche Ansätze

  Methode im Plural. Eine Methodologie des Heuristischen für die Theaterwissenschaft? I. Methode: Weg oder Ziel? II. Methode und Antimethode III. Doing Method IV. Methode im Plural V. Trans- vs. Inter-Disziplinarität

  Der unterbrochene Weg. Zu einer Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft 1. Ohne Grund 2. Die Methode (oder der Umweg) der Lektüre 3. Absehen vom Ganzen 4. Der unterbrochene Weg – die Verantwortung der Theaterwissenschaft

 Theatergeschichte machen. Überlegungen zu einer praxeologischen TheaterhistoriographiePraxistheorie in der TheaterwissenschaftKanonische ProvokationenVerkörperung von WissenÄsthetische EpistemePraxeologie – PraxistheorieAus der Werkstatt der praxeologischen Theaterhistoriographie1) Schaffung eigener Quellen und Erfahrungen2) Aushandlung zwischen Eigenem und Fremdem3) Theaterhistorisches Modell vs. Diversität der Szenischen AngeboteAusblick

  Transnationale Theatergeschichte(n): Der biographische Ansatz Mobilität Verknüpfung und Vernetzung Individuelle Perspektive Aushandlung und Produktivität Resümee

  Theaterwissenschaftliche Forschung und die Methoden des Archivs Theater und theatrale Praktiken als Forschungsobjekt Herausforderungen des Archivs Anwendungsfelder: Archiv/Praxis

  Affekttheorie und das Subjektivismus-Problem in der Aufführungsanalyse 1. Was ist Aufführungsanalyse? 2. Zur Virulenz des Subjektivismus-Problems 3. Affekt versus Emotion 4. Eine relationale Perspektive

  Von der Aufführung zum Dispositiv Zur Definition des Dispositivs Definition der Aufführung als Dispositiv Dispositivforschung in anderen Disziplinen Methode und Anwendung Fallbeispiel: Dispositiv Regietheater

 Akteur-Netzwerk Theorie und AufführungsanalyseWarum ANT?ANT und Aufführungsanalyse: Berührungspunkte und EinsätzeMethodischer Test: CarmenZwischenergebnis und Ausblick1.2.3.

 „Gequietsche, Gewaber oder Gewummer“EinleitungAd 1. Genese: Interviews, Probenethnographien, Practice as Research2. Musizieren als liminale Performance: Musicking / Music as Performance / Musical Personae3. Wirkung und BedeutungSchluss

  Die Oper und das Performative

  Wie stehen? Ein Vorschlag zur Kombination von Tanz- und Bewegungsanalyse mit Kontextualisierungs- und Referenzialisierungsstrategien Herausforderungen Stehen Kontextualisierung: Metareflexion des Theaters // Referenzialisierung: Blickbeziehungen Kontextualisierung: Potentialität extremaler Bewegung // Referenzialisierung: Erwartungen Kontextualisierung: Decolonial Thought // Referenzialisierung: Zuschreibungen Kontextualisierung: „Standing Man“ als Meme // Referenzialisierung in der (theatrical) public sphere

  Probe als Aufführung Probenbeobachtung Aufführungsaspekte bei Proben Publikum Akteure der Probe Räume Zeiten Organisation und Ablauf

  Im Theater-Laboratorium: Zur Methodikforschung als Partnerschaft von Theaterwissenschaft und Theaterpraxis Von practice as research zur theatralen Methodikforschung Regie-Methodikforschung: Ansätze und Perspektiven einer praxis-orientierten Theaterwissenschaft

 Theater zwischen Reproduktion und Transgression. Theaterwissenschaft als sozialwissenschaftliche Differenzierungsforschung1. Die Infrastruktur von Theater2. Die öffentliche Außenseite von Theater2.1 Das Transgressionsversprechen des Theaters3. Das Spannungsverhältnis zwischen Transgression und Reproduktion3.1 Vor den Kulissen: Transgression – Gender- und Racecrossing3.2 Hinter den Kulissen: Reproduktion von Geschlechts- und Rassestereotypen4. Schluss

  Empirisch-quantitative Methoden in der Theaterforschung Theaterwissenschaftliche Theorie trifft auf Paradigma der Empirie Empirische Forschung als sinnliche Beobachtung von Realität Wissenschaftliche Bezugsdisziplinen empirischer (Theater-)Forschung Linearität, Standardisierung und Komplexitätsreduktion als zentrale Herausforderungen Ausblick

 

 Intendanzwechsel als Auslöser institutionellen Wandels. Eine qualitative Studie am Fallbeispiel der Münchner KammerspieleEinleitungZwischen Beharrung und Transformation: Intendanzwechsel am StadttheaterDas Fallbeispiel der Münchner KammerspieleDas Experteninterview als MethodeDie Öffnung des Stadttheaters als critical junctureZu 1)Zu 2)Zu 3)Zu 4)Fazit

  Die Ethnografie als Methode der Theaterwissenschaft? Einleitung Teil 1: Versuche des Dialogs und das Dilemma der Performance Studies Teil 2: Die ethnografische Herangehensweise Teil 3: Neuorientierung des Diskurses Diskussion

  Dramaturgie als Methode? Prolegomena für eine ‚Arbeit am Drama‘ Einleitung Geschichte der Theaterwissenschaft als Wissenschaft der Dramaturgie Neue Wege der Dramaturgie Die Frage der Methode Dramaturgie als Arbeit am Drama The Practice of Dramaturgy Dramaturgie als Arbeit der Dekonstruktion Zusammenfassung

  Zum Verhältnis von Drama und Theater. Wirklich? Nochmals? Einleitung Henne oder Ei? Einschreibungen Horizonte Ausblick auf medien- und kulturgeschichtliche Perspektiven

  Bild-Anthropologie als Methode im Kontext der Theaterwissenschaft. Eine Re-Vision. Vorbemerkung Einleitung 1. Öffnung und Analogisierung der Begriffe: Medium – Bild – Körper 2. Theaterwissenschaftliche Begriffsperspektive 3. Körper als Medium des Bildes 4. Medium – Medienensembles – sozialer Raum 5. Bild und Zeit. Anachronistische Bilder und das Theater 6. Drei methodische Schritte

  Bühnenbild und Szenographie als Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft: Forschungsansätze, Perspektiven, Methoden 1. Bühnenbild und Szenographie: Annäherungen an ein Forschungsfeld 2. Perspektivwechsel auf den Gegenstand: ‚Scenography in and as performance‘ 3. Das szenographische Dispositiv

  Autorinnen und Autoren

  Bibliographie

  Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Christopher Balme und Berenika Szymanski-Düll

Der vorliegende Band basiert auf einem Symposium, das im Februar 2017 am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München stattgefunden und sich zum Ziel gemacht hat, einen Austausch über die Methoden des Faches anzuregen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass bei Forschungsförderorganisationen wiederholt Beanstandungen hinsichtlich der Methodologie theaterwissenschaftlicher Anträge verzeichnet worden waren. Da die Darstellung der Methode bzw. ‚Methodologie‘ einen zentralen Bestandteil von Forschungsanträgen ausmacht und für fachfremde Gutachter*innen nachvollziehbar sein muss (da in der DFG-Fachgruppe kein Fachgutachter bzw. keine Fachgutachterin aus der Theaterwissenschaft vertreten ist), könne eine Darlegung der Methoden auch fachextern von Nutzen sein. Zum anderen liegt eine solche Reflexion auch fachintern sehr lange zurück.1 Seit den 1990er-Jahren lässt sich eine Pluralisierung der Forschungsansätze im Fach beobachten, die mit einer zunehmenden ästhetischen Heterogenität des Theaters und der Öffnung des Faches zum interdisziplinären Dialog korrespondiert. Diese Erweiterung ist bis dato jedoch ohne Reflexion der damit notwendig verbundenen methodischen Fragen geblieben.

Obwohl die Theaterwissenschaft über ein breites Angebot an Einführungen und Propädeutika verfügt, richten sich diese meistens an Studienanfänger*innen und bilden naturgemäß eine kompetitive und oft stark interdisziplinäre Forschungspraxis nicht ab.2 Auch wenn die Aufführungs- bzw. Inszenierungsanalyse nach wie vor als fachspezifisches Alleinstellungsmerkmal gelten kann (die vorliegenden Beiträge untermauern dies) und deren Vermittlung zum Grundangebot jedes theaterwissenschaftlichen Studiums gehört, deckt sie keineswegs das ganze Spektrum der Forschungsansätze ab, die heute gebräuchlich sind.

Die hier versammelten Autorinnen und Autoren bilden mit wenigen Ausnahmen eine Generation ab, die in den 1970er Jahren geboren, in den 1990er und 2000er wissenschaftlich akkulturiert und daher bereits von Anfang an im Fach sozialisiert wurde. Diese Erfahrung unterscheidet sie von ihren Lehrer*innen, die in den 1940er und 1950er Jahren auf die Welt kamen und zumeist über die Literaturwissenschaft zur Theaterwissenschaft gelangten. Sie sind Produkt einer Expansion des Fachs in den 1980er Jahren, als neue Institute gegründet und zusätzliche Professuren an älteren Instituten eingerichtet wurden. Die Kategorie ‚Generation‘ kann, wie die zeitgeschichtliche Forschung nachweist, sowohl als Differenzbegriff als auch als Kontinuitätsnachweis untersucht werden.3 Wer Kontinuität sucht, wird fündig, insbesondere im Festhalten an der Aufführungsanalyse, gelegentlich bis zu häufigem Zitieren der eigenen Lehrer*innen. Dies ist nicht verwunderlich angesichts der institutionellen Verfasstheit der deutschen Universität, die einen Begriff wie ‚Stallgeruch‘ internalisiert hat. Wer sich aber für Differenzen oder gar Brüche interessiert, kann sicherlich in der Generation der ‚Neunziger‘ und ‚Zweitausender‘ bemerkenswerte neue Schwerpunkte finden. Die wohl wichtigste Neuakzentuierung ist die Hinwendung zur künstlerischen Praxis als Forschungsfrage und -methode. Die beiden Institute in Gießen und in Hildesheim widmeten sich seit den 1980er Jahren der Theaterpraxis und haben zahlreiche renommierte Künstler*innen wie auch Theatergruppen hervorgebracht. Eine vielleicht unbeabsichtigte Nebenwirkung dieser Ausrichtung war deren Rückstrahlung in die Forschungstheorie und -praxis, die von ähnlichen internationalen Entwicklungen, insbesondere in Großbritannien, unterstützt wurde.

Das Ziel der vorliegenden Publikation ist es daher, eine Auswahl der Methoden unseres Faches vorzustellen, zu reflektieren und zu diskutieren. Die hier versammelten Beiträge sind in acht Blöcke gegliedert und reichen von grundlegenden methodischen Überlegungen über historiographische und aufführungsanalytische Ansätze bis hin zu sozialwissenschaftlichen Methoden sowohl quantitativ als auch qualitativ.

Methoden und Methodologie

Der Begriff ‚Methode‘ stammt, wie Julia Stenzel in ihrem Beitrag ausführt, vom Griechischen methodos und „beschreibt einen spezifischen ὁδός (hodos), einen Weg, μετά (meta), nach irgendwo, aber auch auf irgendetwas hin.“ Die Sichtbarmachung der Methoden ist in jedem wissenschaftlichen Prozess unabdingbar, weil sie im wahrsten Sinne des Worts, den ‚Weg‘ des Erkenntnisgewinns sichtbar und (in den Natur- und gelegentlich den Sozialwissenschaften) sogar potentiell replizierbar macht. Da Methoden im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess meistens selbst nicht Gegenstand der Reflexion oder gar der Erforschung sind (vgl. hierzu Stenzel), gelten sie oft als gegeben oder bereits verfügbar, manchmal im Sinne eines Werkzeugkastens, aus dem gewählt werden kann, ohne dass Forscher*innen diese extra beschreiben oder erklären müssen. Methoden sind daher dem Forschungsprozess vorgängig: Sie markieren bereits beschriebene und vielfach begangene Wege und nicht das unbekannte Ziel. Da geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung (zu der die Theaterwissenschaft im weitesten Sinne gehört) nie repliziert, sondern im bestenfalls kommentiert wird, wird auf eine genaue Explizierung des Wegs oft verzichtet zugunsten einer Fokussierung auf das Ziel. Der Rekurs auf ein pluralisches Verständnis von theaterwissenschaftlicher Methodik, die Stenzel vorschlägt, ist naheliegend angesichts der plurimedialen Konstitution der Aufführung, die Sprache, menschliche Bewegung, Bilder, Klang (manchmal auch als Musik) verbindet. Auch wenn Aufführungen und/oder Inszenierungen häufig den Gegenstand der Forschung bilden, erschöpft sich das mögliche Feld darin keineswegs, sodass auch die disziplineigene Methode der Aufführungsanalyse nur eine mögliche sein kann. Allerdings kann man die Logik von ‚Weg‘ und ‚Ziel‘ mit ihrem instrumentellen Telos in Frage stellen, wie Nikolaus Müller-Schöll in seinem Beitrag zeigt. In seinem Plädoyer für eine „vergleichende und allgemeine Theaterwissenschaft“ in Anlehnung an die Literaturwissenschaft macht er sich für eine Methode der ‚Lektüre‘ stark, nicht allerdings im Sinne der reinen Textlektüre, sondern mit dekonstruktivistischem Zugriff als unabschließbaren Akt der Auseinandersetzung mit „prinzipiell unendlich ausdeutbar(en)“ theatralen Ereignissen.

Methodik, auch im Plural, ist jedoch keinesfalls mit Methodologie gleichzusetzen, auch wenn es sogar innerhalb der Wissenschaften oft zu semantischen Unschärfen kommt. Im Englischen wird klar zwischen methods und methodology unterschieden. Letztere bezieht sich auf das ganze Arbeitsprogramm oder Forschungsdesign, während method auf einen spezifischen zur Datengewinnung eingesetzten Ansatz meint. Mit anderen Worten: Die Methodologie eines Forschungsprojekts kann mehrere Methoden beinhalten. Diese terminologische Unterscheidung spiegelt sich auch im Aufbau von Forschungsanträgen wider. So heißt es bei Anträgen der Deutschen Forschungsgemeinschaft: „2.3 Arbeitsprogramm inkl. vorgesehener Untersuchungsmethoden“. Hierzu merkt die DFG an, dass dieser Teil des Antrags ca. 50 % des Gesamtumfangs ausmachen. Bei den Anträgen des Europäischen Forschungsrats (ERC) heißt es schlicht: „Section b. Methodology“. Auch hier ist eigentlich das Arbeitsprogramm einschließlich verwendeter Methoden gemeint. In den beiden Fällen wird deutlich, dass ein Forschungsprojekt nicht nur inhaltlich (was), sondern auch methodisch (wie) beschrieben werden muss.

Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

Die Fixierung der Theaterwissenschaft auf die Aufführungsanalyse bringt ein weiteres Problem mit sich, nämlich die Verwechselung bzw. Verunklarung von Methode und Gegenstand. Wenn der Forschungsgegenstand eine oder mehrere Aufführungen bzw. die Regiearbeiten eines Regisseurs bzw. einer Regisseurin sind, so ist es fast tautologisch, dass zur Analyse dieser ‚Theaterkunstwerke‘ die Aufführungsanalyse eingesetzt wird. Der vorliegende Band macht nun deutlich, dass die Aufführungsanalyse selbst nicht mehr auf eine einzelne, klar umrissene Vorgehensweise reduziert werden kann, sondern dass sie sich inzwischen in verschiedenen Ansätzen ausdifferenziert hat. Das ist kein Defizit, sondern ein normaler Vorgang des wissenschaftlichen Fortschritts, der mit Wissensakkumulation und Komplexitätsbewältigung einhergeht. Zwischen der Erstveröffentlichung des dritten Bandes der Theatersemiotik von Erika Fischer-Lichte 1983, Die Aufführung als Text, wo ein äußerst komplexes, an die Textsemiotik von Algirdas Julien Greimas und Juri M. Lotman angelehntes System umrissen wurde, und der von Jens Roselt und Christel Weiler 2017 vorgelegten Aufführungsanalyse: Eine Einführung liegen nun über drei Jahrzehnte. Dazwischen liegt Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (2004) eine theoretische und inhaltliche Neubestimmung des Aufführungsbegriffs, die nun den theaterwissenschaftlichen Gegenstandsbereich erheblich erweitert, um der Performance-Kunst und den diversen Strömungen des postdramatischen Theaters gerecht zu werden. Auf theoretischer Ebene ist die Ergänzung der Semiotik durch die Phänomenologie die signifikanteste Neuerung, die insofern methodologische Implikationen aufwirft, als die subjektive Erfahrung des/r Zuschauers*in bzw. Wissenschaftlers*in nun affirmativ beglaubigt wird. Hier wird auch die Bedingung der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen für jede Art von Aufführung festgeschrieben.

 

Trotz der zentralen Stellung, die Aufführungsanalyse in der Lehre einnimmt, vor allem im Propädeutikum, konstatiert Matthias Warstat in seinem Beitrag, dass die Aufführungsanalyse paradoxerweise in der „theaterwissenschaftlichen Forschungsliteratur […] eher ein Schattendasein“ führe. Dies hänge vor allem damit zusammen, dass „Theateraufführungen der Gegenwart in Monographien und Aufsätzen [selten] so detailliert beschrieben und untersucht [werden], dass das aufführungsanalytische Vorgehen tatsächlich im Einzelnen transparent wird.“ Die Aufführungsanalyse hat sich jedoch inzwischen von ihrer rein semiotischen Dependenz emanzipiert und weitere theoretische und methodische Ansätze integriert, die im vorliegenden Band von der Phänomenologie (Clemens Risi und Alexander Jacob) über ethnographisch geprägte teilnehmende Beobachtung (Jens Roselt) bis hin zur Akteur-Netzwerk-Theorie (Wolf Dieter Ernst) reichen und in das Feld der Bewegungsanalyse vordringen (Katja Schneider), aber auch die Frage nach Szenographie stellen (Birgit Wiens) und der Bedeutung von Theatermusik als Ansatzpunkt für prozess-, produktions- bzw. rezeptionsästhetische Untersuchungen nachgehen (David Roesner). Neben dem von Warstat konstatierten „Subjektivismus-Problem“ zeichnet sich die Aufführungsanalyse vor allem durch ihre methodische Vielfalt und Fähigkeit aus, andere Ansätze zu absorbieren. Es sind jedoch vor allem die eher sozialwissenschaftlich geprägten Ansätze, die die wichtigsten Ergänzungen zur eher ‚klassisch‘ semiotisch-phänomenologisch grundierten Aufführungsanalyse markieren. Auch die Theaterwissenschaft befindet sich in einem social turn, in dem weniger das Theaterkunstwerk in seiner splendid isolation den zentralen Forschungsgegenstand bildet als vielmehr Theater in seiner komplexen gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Relationalität. 1 Aufführungen, die auf keiner Bühne mehr stattfinden, sondern in der Stadt ein partizipatives Erlebnis organisieren, lassen sich genauer mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung als mit der Zeichenlehre erfassen (auch wenn Zeichen immer im Spiel sind). Der social turn lässt sich ebenfalls auf den theatralen Produktionsprozess selbst anwenden, der im Beitrag von Jens Roselt zur „Probe als Aufführung“ deutlich wird. Die Probe wird für die/den teilnehmend beobachtende/n Theaterwissenschaftler*in zu einer Aufführung ohne formales Publikum, wo aber „permanent Zuschausituationen hervorgebracht werden.“ Die Interaktionen auf der Probebühne im Stadt- und Staatstheater mit ihren immer noch anzutreffenden hierarchischen Strukturen vom Regisseur*in über die Schauspieler*innen und Regieassistent*innen bis hin zu Kaffee kochenden Hospitant*innen bilden einen gesellschaftlichen Mikrokosmos ab, der vor allem eine ethnographisch-soziologische Analyse verlangt. Dies gilt ebenfalls für die kollaborativ-kollektiven Arbeitsweisen der Freien Szene, die einen gesellschaftlichen Habitus des Egalitären demonstrativ als Legitimationsdiskurs nach Außen tragen.

Die Erweiterung des Aufführungsbegriffs über den klar umrissenen raumzeitlichen Rahmen zwischen Vorhang auf und Schlussapplaus schlägt sich im Beitrag von Gerald Siegmund und Lorenz Aggermann nieder „Von der Aufführung zum Dispositiv“. Mit dem Begriff des Dispositivs, der nach Michel Foucault im weitesten Sinne ein Ensemble von Elementen mit ordnender Kraft meint, lässt sich die Aufführung als eine besondere Anordnung von heterogenen Elementen, als eine je spezifische Materialisation des aktuellen Theaterdispositivs begreifen. Nach dieser Lesart wäre Regietheater ein eigenes Dispositiv (mit bereits absehbarem Ablaufdatum?) und dessen Aufführungen wären vor dem Hintergrund dieser je besonderen Anordnung von Elementen zu untersuchen. Methodisch hat dies zur Folge, dass das analytische Spektrum erheblich erweitert wird: Theater als Dispositiv zu betrachten, bedeutet, es in all seinen Dimensionen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen, der Produktions- wie der Rezeptionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Diskurse und ihrer materiell-technischen Praktiken zu beschreiben, und jene Momente der Dysfunktion oder Fiktion, die im Rahmen der Materialisation evident werden, als jene raren Momente zu verstehen, an welchen ein Dispositiv sinnlich erfahrbar wird.

Wenn man diese Dimensionen genauer betrachtet, so wird deutlich, dass sie unterschiedliche analytische Methoden verlangen: Fragen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen können nicht mit den gleichen Methoden untersucht werden wie Rezeptionsverhältnisse.