Methoden der Theaterwissenschaft

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From the series: Forum Modernes Theater #56
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1. Ohne Grund

Nicht selten unterliegt die Theaterwissenschaft dem Spott, es handle sich angesichts der Flüchtigkeit der Aufführung in ihrer unwiederholbaren Einmaligkeit nicht nur um ein Fach ohne Methode, sondern vor allem auch um ein Fach ohne Gegenstand: Während die Literaturwissenschaftler*innen auf die Bibliotheken und die Historiker*innen darüber hinaus auf die Archive verweisen können, blieben den Theaterwissenschaftler*innen von dem, was im Zentrum ihres Interesses steht, nur die Erinnerung in den Köpfen der Zuschauer*innen, die Dokumentation in der zumeist eher unzuverlässigen Form der Theaterkritik oder des Werbetextes der Theater selbst, außerdem die meist unzuverlässigen Zeugnisse der Beteiligten. Dieser Spott verliert nicht sein Moment von Wahrheit angesichts neuerer Aufzeichnungsmethoden und Speichermedien. Sie erweitern zwar die Grundlage, doch stellen sie die Theaterwissenschaft zugleich vor neue Probleme: Der Raum wird hier auf ein Bild verkürzt, das Bild auf binär codierte Daten. Veränderungen der Perspektive, der Rahmung, der Lichtverhältnisse und der Akustik, des Abstands zum Bühnengeschehen und darüber hinaus die meist komplette Unterschlagung der Interaktion im Zuschauerraum sind ebenso zu bedenken wie jene Veränderungen, die sich aus der Ablösung der aufgezeichneten Aufführung vom Ort und aus der Zeit ihrer Aufzeichnung ergeben. Wie gelungen auch immer in technologischer Hinsicht die Aufzeichnung ausfällt, das Resultat taugt allenfalls als Gedächtnisstütze, das hilft, die Erfahrung zu fixieren, als Indiz mit begrenzter Aussagekraft. Kurz: Soweit im Zentrum der Theaterwissenschaft die Inszenierungs- oder Aufführungspraxis bzw. das als Kunst begriffene Theater stehen soll – und nicht eine als gleichsam kybernetische Grundlage konzipierte ‚Theatralität‘ oder ‚Performativität‘ –, taucht zurecht der Verdacht mangelnder ‚Substanz‘ oder fehlender ‚Essenz‘ auf.

Dieser Verdacht soll hier nicht zurückgewiesen werden, lässt er doch tatsächlich auch eine mögliche Stärke des Faches erkennen. Im Unterschied zu Fächern, die sich auf ‚Grundlagen‘ stützen, muss sich eine Theaterwissenschaft, in deren Zentrum das Theater als Kunst steht, ihrem je besonderen und potentiell singulären Gegenstand ohne Vorbehalt ausliefern. Sie kann nichts als unverrückbares Fundament voraussetzen, was nicht im Verlauf der Auseinandersetzung mit ihren Untersuchungsgegenständen einer rückhaltlosen Kritik und Revision unterliegen könnte. Sie hat ihren Gegenstand nicht, sie muss ihn allererst ‚konstituieren‘ und dies in jedem einzelnen Fall. Dieser Ausgangspunkt eines in keiner Weise ontologisierbaren Forschungsobjekts und insofern gewissermaßen einer Leere im Zentrum kennzeichnet das Fach als ein sehr spezifisch modernes. Dies geht weit über die historische Tatsache hinaus, dass die Theaterwissenschaft eine junge Disziplin ist, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich aus dem Umkreis der Literaturwissenschaft ablöste und zum eigenen Fach wurde,1 und die insofern bis in die jüngste Zeit mit gutem Recht für sich in Anspruch nehmen konnte, dass sie noch am Aufbau ihrer Grundlagen zu arbeiten hätte.

Was aber heißt Konstitution: Als grundlegend und genauer abgründig für die Theaterwissenschaft in diesem Sinne erweist sich zunächst einmal, was eher missverständlich als „linguistic turn“2 diskutiert wird. Theater ist uns nur vermittelt durch ein Medium zugänglich: durch die Sprache der Beschreibung seiner Wahrnehmung bzw. Erfahrung. Dieser Einsicht korrespondiert nun allerdings in der neueren Theaterwissenschaft eine zweite, auf die speziell die Erforschung der „theatricality“ oder „théatralité“ in den USA3 und Frankreich4 neue Aufmerksamkeit gelenkt haben: Das sprachliche Medium ist nicht im Sinne eines Instruments zu begreifen, mit dem etwas gesagt werden kann, und auch nicht als ‚begreifbarer Gegenstand‘, sondern viel eher „als ein höchst problematischer Vorgang, in den wir verstrickt, ja eingeschrieben sind“5. Exakt das, was hierbei als ‚Verstrickung‘ bezeichnet wird, kann aber mit Derrida, Nancy und Lacoue-Labarthe auch als Archi-Theater6 oder schlichter als das anfängliche unhintergehbare Theater in jeder sprachlich verfassten Äußerung bezeichnet werden: Diese findet sich von Beginn an in einer ihr gleichursprünglichen, zeiträumlichen und materialen Anordnung vor, die sie zugleich verändert, wie sie auch von ihr verändert wird. Sprache und Theater, so könnte man von daher formulieren, lassen sich nur ausgehend von ihrer wechselseitigen Beziehung betrachten: Theater ist nur sprachlich vermittelt zugänglich, Sprache jedoch immer schon theatral konstituiert und destituiert.

Missverständlich kann die Bezeichnung eines linguistic turn für diese Erkenntnis – des Verstricktseins von Sprache in Theater, Theater in Sprache – erscheinen, weil sich bei genauerer Betrachtung speziell literarischer, aber auch philosophischer Quellen kaum mehr ausmachen lässt, wann dieser ‚turn‘ denn noch nicht stattgehabt hat. Setzt die Rede von einem „turn“ voraus, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt, so wird man bei genauerer Lektüre der philosophischen Texte der abendländischen Tradition keinen ausfindig machen können, der nicht in gewisser Hinsicht bereits von jener Verstricktheit in Sprache gekennzeichnet ist, die mit dem ‚linguistic turn‘ benannt wird. Statt von einem ‚turn‘ zu reden, sollte man also vielleicht eher konstatieren, dass in wiederholter Einmaligkeit der mit diesem ‚turn‘ bezeichnete Wechsel in der Perspektive vollzogen und als nicht mehr hintergehbar erkannt wurde: Bei Platon, bei Rousseau, Kant, Hölderlin, Nietzsche, Freud, Benjamin, Heidegger, Blanchot, Levinas und zuletzt vor allem im Umkreis des ‚Poststrukturalismus‘ bzw. der ‚Dekonstruktion‘ Paul de Mans7 und Jacques Derridas,8 welche die ihnen vorausgehende Tradition auf den Begriff gebracht und in ihr an einer Öffnung hin auf das ‚Singuläre‘9 gearbeitet haben.

Das Singuläre erscheint, wie speziell Jean-Luc Nancy zu denken gibt, in jedem Fall zusammen mit anderen Singularitäten. Singulär sein, heißt paradoxerweise immer schon: zugleich auch plural sein.10 Wir sind – jede*r einzelne – in dem Maß singulär, wie jede*r in ein spezifisches Netz von Beziehungen verstrickt ist, in einem je anderen Gefüge steht, durch ein anfängliches mitgeprägt wird. Theater in seiner allgemeinsten Form, ‚Theater überhaupt‘11, kann als der paradigmatische Begriff für diese singulär plurale Seinsweise und Erscheinungsform des ‚Mit‘ begriffen werden. Dies wirft nun allerdings die berechtigte Frage auf, wie sich jenes in keiner Weise essentialisierbare ‚Theater‘ zu den je besonderen Fragestellungen einer Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft verhält und welche methodischen Konsequenzen die Einsicht in die theatrale Verfasstheit hat.

2. Die Methode (oder der Umweg) der Lektüre

Die Öffnung auf das Singuläre – des je spezifisch konstituierten Gegenstandes wie der je spezifischen Konstitution in seiner Betrachtung – setzt methodologisch zunächst einmal ein jeder Methode entgegenlaufendes Einspruchs- und Mitgestaltungsrecht des Gegenstandes voraus. Einer der Begriffe, die in die Theaterwissenschaft für die damit bezeichnete Praxis aus dem Kontext vor allem der US-amerikanischen ‚Literary Theory‘ übernommen werden können, ist derjenige der ‚Lektüre‘. Lesen, so gaben Theoretiker wie Paul de Man, Werner Hamacher, Carol Jacobs, Hillis Miller oder Samuel Weber1 zu bedenken, ist im Zentrum der Interpretation wie der Institutionen, die auf ihr aufbauen (Disziplinen, Institute, Fakultäten, Universitäten) ein Akt, der sich auf keine Weise formalisieren lässt. Die Interpretation eines Textes fußt auf dessen Lektüre, ja einem Imperativ der Lektüre – man muss lesen. Und das Lesen unterscheidet sich dabei prinzipiell nicht vom Schauen und Hören der Theaterbesucher*innen. Hier wie da wird in einem einmaligen, wenngleich nur in der Wiederholung zugänglichen Akt ein Netz von Verknüpfungen hergestellt, in dem sich ein Gegenstand erkennen lässt. Doch dieses Erkennen muss zwangsläufig vorläufig, überstürzt, blitzhaft bleiben. Im tendenziell unendlichen Aufschub des Sinns eingeschrieben, eignet es sich so wenig wie die einmalige Konstitution eines Theatervorgangs in seiner Analyse zur dauerhaften Grundlage. Auch die Wiederholbarkeit des Lektüreakts, die etwa Hans-Thies Lehmann als Unterscheidungsmerkmal zwischen Theater- und Literaturwissenschaft anführt2, ändert daran nichts, denn niemals steigen wir als derselbe Leser bzw. dieselbe Leserin in den gleichen Fluss der Sinnproduktion ein. Eben das, worauf die Interpretation fußen möchte, verweist von daher in der Interpretation und über sie hinaus auf den prinzipiellen Zweifel an der Lesbarkeit jedes Textes, einen Zweifel, der sich – kurz und andeutungsweise formuliert – aus dem Textcharakter des Textes selbst ergibt.3 Er muss überall dort vergessen werden, wo Texte auf Thesen reduziert werden, eine von mehreren Les- und Bedeutungsarten auf Kosten aller anderen privilegiert wird. Mit diesem Zweifel beginnt andererseits ein Lesen, das den Text selbst bereits als Inszenierung begreift, als Resultat eines Kompromisses zwischen unterschiedlichen Interessen, bedingt wie begrenzt durch Ort und Zeit seiner Niederschrift wie seiner Lektüre. Jede so verstandene ‚Lektüre‘ bedeutet auch die Eröffnung einer Chance für die in solchem Kompromiss unterdrückten Tendenzen, für das, was sich in einer bestimmten geschichtlichen Situation nicht äußern, bzw. keine Rolle spielen konnte.

Nur wenn man allerdings den Text bereits als Inszenierung, als Theater begreift – und die zitierten Theoretiker wie eine ganze Reihe weiterer legen dies nahe – können umgekehrt die Inszenierung oder Aufführung auch neuerlich mit einem Text verglichen werden – ohne dass dies die Theaterwissenschaft unmittelbar zurückwirft auf die lange Zeit vorherrschende Auffassung, Theater sei nur die Fortsetzung oder Umsetzung von Literatur auf einer Bühne und insofern mit den Mitteln literaturwissenschaftlicher Interpretationstechniken, letztlich als Teil von Literaturwissenschaft erforschbar. Übertragen auf die Inszenierungs-, Aufführungs- und Dispositivanalyse oder auch nur auf die Analyse und Deutung einzelner Elemente aus diesen – etwa einer schauspielerischen Geste, des bestimmten Verhaltens in einer Szene, einer Sequenz von aufeinanderfolgenden szenischen Anordnungen oder einer räumlichen Einrichtung – ergibt sich aus der Einsicht in die Aporien des Lesens eine doppelte Grundannahme: Jedes theatrale Ereignis ist prinzipiell unendlich ausdeutbar. Jede Lektüre ist prinzipiell unabschließbar. Beide Annahmen ergeben sich, noch einmal anders ausgedrückt, daraus, dass Arbeiten im Theater wie Texte, mit einer von Walter Benjamin geprägten Formulierung, kaum anders denn als „von Spannungen gesättigte Konstellationen“4 zu begreifen sind. Wo ihrer doppelten Unendlichkeit und Unabschließbarkeit zum Trotz eine Beschreibung unternommen, eine Deutung versucht wird, da ist diese unweigerlich an ein Moment gebunden, das man – vielleicht missverständlich – als subjektiv oder – mit Foucault und Butler als kritisch5, in jedem Fall aber als nicht weiter legitimierbar, als nicht länger anders denn im Zusammenhang einer Politik der Lektüre halt- und begründbar bezeichnen müsste.

 

Es könnte nun so scheinen, als sollte damit einer willkürlichen, letztlich relativistischen Deutungspraxis das Wort geredet werden: Tatsächlich geht es aber ganz im Gegenteil darum, die Voraussetzung gängiger Deutungspraxis – und damit einer Archi-Methodologie, einer allen weiteren Praktiken der Theaterwissenschaft zugrundeliegenden Methode vor aller Methodenvielfalt – offenzulegen und dadurch auf die Verankerung der Analyse, Interpretation, Lektüre und Kritik in einem Bereich hinzuweisen, den man in den klassischen Kategorien der Ethik zuweisen müsste. Die „mikrologischen“ Lektüren Adornos6, die sich in ihrer Vertiefung ins Detail Maß und Takt von ihrem Gegenstand diktieren lassen, oder die Lektüre der „Spur des Anderen“ bei Lévinas und vor allem Derrida können als exemplarische Formen solcher Praxis gelten7: Eben weil der Andere mir immer schon vorausgegangen sein wird im Moment meiner Auseinandersetzung, bzw. meiner Deutungspraxis, gibt er mir zugleich eine unendliche Aufgabe wie auch das unausweichliche Scheitern an dieser vor – gemessen am Anspruch eines das Ganze umfassenden Verständnisses. Dem korrespondierend folgt aus dem Lesen von Spuren (und nicht von Zeichen oder Botschaften) des Anderen einerseits ein Imperativ des Verstehens und daraus resultierend ein mit allen Mitteln traditioneller Hermeneutik vorgehender Deutungsprozess, andererseits aber notwendig zugleich dessen Umschlag in einen Imperativ des Nicht-Verstehens. Dieser Umschlag resultiert aus der Grenze des Verstehens in der schon aufgrund der Differenz von Zeit, Ort und Lebensgeschichte niemals restlos erschließbaren Andersheit des Anderen. ‚Der Andere‘ als Denkfigur der Alterität unterliegt allerdings mit einiger Berechtigung einer Kritik, die der mit ‚ihm‘ häufig verbundenen Homogenisierung gilt. Weist Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Levinas auf dessen tendentielle Unterschlagung der sexuellen Differenz in der unifizierenden Rede vom Anderen im – vermutlich generisch intendierten, jedoch darauf nicht reduzierbaren – Maskulinum hin, so kritisiert Spivak mit Blick auf Foucault und Deleuze die Rede vom homogenen Anderen als eine „unser Wohlwollen […] verriegeln[de]“ Form der Ersetzung einer auf keine Weise auf ein Gemeinsames reduzierbaren Vielheit unterschiedlicher ‚Subalterner‘ durch ein ‚alter ego‘.8 Die Aporien und immer neuen und je anderen Folgen aus der jeden Grund erschütternden Grundfigur der Alterität nicht zu vergessen, vielmehr für sie die Verantwortung zu übernehmen, könnte als (an-)archi-methodologischer Imperativ bezeichnet werden, der eine Allgemeine Theaterwissenschaft wenn nicht zu begründen und zu fundieren, so doch von jeder anderen Form des Umgangs mit Theater zu unterscheiden vermag.

3. Absehen vom Ganzen

Mit Bezug auf den Status quo der deutschsprachigen Theaterwissenschaft stellt die bis hier in groben Zügen skizzierte Position einen Einspruch dar, der im Rahmen eines in seinem Umfang begrenzten Aufsatzes in seinem Ausmaß wie seinen Grenzen lediglich angedeutet werden kann: Unstrittig erscheint mir im Einklang mit der von Christopher Balme gegebenen Beschreibung des Faches, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Theater über eine geschichtliche, eine theoretische und eine analytische Dimension verfügt.1 Alle drei Dimensionen und die aus ihnen folgende Verknüpfung theaterwissenschaftlicher Forschung und Lehre mit Fragestellungen, Methoden und Forschungsansätzen der Nachbardisziplinen – der Geschichtswissenschaft, der Philosophie, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Soziologie, Psychologie, Kunstgeschichte etc. – wären jedoch kritisch daraufhin zu untersuchen, was sich unter der Voraussetzung der beschriebenen Erfahrung, in einer Art von „Archi-Theater“2 bzw. einem Medium zu sein, das wir nicht restlos zu überblicken vermögen, ändert. Die erste Konsequenz wäre in jedem Fall die Einsicht in die Unmöglichkeit, jemals das Ganze oder die Gesamtheit zu erfassen: Unter dem Vorzeichen einer Allgemeinen Theaterwissenschaft wäre also paradoxerweise genau die Grenze jeder Allgemeinheit und jedes Ganzen sowie die notwendig unbegründbar bleibende Überschreitung zu bedenken, die mit jedem Verfahren der Deutung verbunden ist. Mit ihr verbunden wäre also nicht eine allumfassende Metatheorie des Gegenwartstheaters oder gar der theatralen Formen als solcher, sondern genau die irreduzible Grenze aller Bemühungen in diese Richtung. Das Wissenschaftliche der Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft, ihr Forschen, ist von daher nicht kategorisch von der ihren künstlerischen Gegenständen inhärenten Erkenntnis trennbar: Kann Theater in allen seinen Erscheinungsformen zwar auch selbst bereits als Forschungsarbeit oder mit Derrida gar als Form des Denkens3 begriffen werden, so unterscheidet es sich doch andererseits von wissenschaftlicher Forschung und philosophischem Denken durch die Flüchtigkeit seiner Resultate. Eine Theaterwissenschaft, die nicht zur Normalisierungsinstanz dessen werden soll, was an Theater als Abweichendes, Anstößiges oder, um bei der gewählten Begrifflichkeit zu bleiben: Singuläres mit den Traditionslinien der Entwicklung bricht, hätte dem Flüchtigen, Widerständigen, dem stummen Einspruch der theatralen Formen in ihrer Vielfalt, ein Vetorecht gegen ihre Vereinnahmung durch zu grobschlächtige Oberbegriffe oder Unifikationen einzuräumen. Anders verfehlte sie eben das, was Theater als Einspruchsinstanz gegen jede Totalisierung auszeichnet, die Begrenzung des Ganzen. Sie wäre dann in letzter Instanz keine Theaterwissenschaft mehr.

Damit soll allerdings nicht der berechtigte Anspruch aufgegeben werden, der im Willen zur Großtheorie im besten Fall enthalten ist und den die Formulierung einer „Allgemeinen“ Theaterwissenschaft in Erinnerung hält: Dieser Anspruch könnte mit Benjamin als der bezeichnet werden, dass man ein Kunstwerkes als nicht weniger als „einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche“4 begreifen muss. Problematisch wird dieser Anspruch allerdings, wo die inkommensurable einzelne Arbeit einem allgemeinen Begriff unterworfen wird, der Singularität auf das Besondere eines Allgemeinen reduziert. Plastisch führt Benjamin dagegen, was er mit diesem „integralen“ Ausdruck meinen könnte, in seinem Moskauer Tagebuch aus, wo er eine Diskussion zum Thema „Theater und Materialismus“ referiert, die er mit Bernhard Reich geführt hat:

Ich suchte ihm zu entwickeln, welcher Gegensatz zwischen materialistischer und universalistischer Darstellungsweise besteht. Die universalistische sei immer idealistisch, weil undialektisch. Die Dialektik nämlich dringe notwendig in der Richtung vor, daß sie jede Thesis und Antithesis, auf die sie stoße, wieder als Synthese triadischer Struktur darstelle, sie komme auf diesem Wege immer tiefer ins Innere des Gegenstandes hinein und stelle ein Universum nur in ihm selber dar.5

Hier wie im zitierten Anspruch wird mit Blick auf das Kunstwerk ein gewissermaßen monadologisches Verständnis von diesem entworfen: Als „Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche“ scheint es genau dort lesbar zu werden, wo nicht danach gefragt wird, wie es sich zu diesen – als äußerlich gedachten, irgendwie hinzutretenden – verhält, sondern vielmehr danach, wie sich diese in ihm manifestieren. Die vielfältigen „Tendenzen einer Epoche“ könnten anders als primordiales Netzwerk oder prägendes Gefüge begriffen werden, als eine Art archi-theatrale in sich zusammen gehaltene unauflösbare Zerklüftung oder Konstellation, die sich, wenn überhaupt, so nur aus dem Gegenstand heraus erschließen lässt, nachträglich und in jeder Lektüre je einmalig. Mit den theater- und tanzwissenschaftlichen Analyse-Katalogen6 sind alle Einzelaspekte einer Aufführung zu erkunden und ist das, was sie als Ganzes ausmacht, in seine Teile zu zerlegen – in einer ihrer Tendenz nach unendlichen Bewegung der Auflösung. Über diese Kataloge hinaus muss in dem Maß, in dem eine Aufführung geprägt ist von dem, was ihr als Rahmen vorausgeht und was sich mit ihr in ihrer späteren Erinnerung verknüpft, die Analyse einer Inszenierung auch aufgreifen, was als Dispositiv die Vorgänge im Rahmen einer künstlerischen Arbeit begründet wie begrenzt. Und schließlich wären über die Analyse dieses voranfänglichen Gefüges hinaus die immer noch kommenden je anderen Adressat*innen7 mitzubedenken, so oder so also das Netzwerk, das jedem ‚Theater des Menschen‘ im klassischen Sinne vorausgeht und es überdauert.

4. Der unterbrochene Weg – die Verantwortung der Theaterwissenschaft

Was aber heißt, bezogen auf die Frage nach ihrer Methode, die Übernahme der Verantwortung für die Aporien der Alterität wie der Singularität eines jeden Gegenstandes der Theaterforschung? Wenn der Begriff der Methode, entlehnt aus dem spätlateinischen ‚methodus‘ vom griechischen ‚methodos‘1, vom Weg auf ein Ziel hin spricht, so wäre vor dem Hintergrund des hier Dargelegten auf die Frage nach der eigenen Methode einer Theaterwissenschaft, zumindest einer, die sich als Vergleichende und Allgemeine begreift, als Antwort zu geben, dass für diese Methode in jedem Fall – paradoxerweise – der potentielle Verzicht auf das Eigene charakteristisch sein müsste, der mit Blick auf das Ziel hin – am Verständnis dessen zu arbeiten, was sich dem gegenwärtigen und vielleicht jedem Verständnis widersetzt – unterbrochene Weg.

Die Theaterwissenschaft gibt es erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, ein Nachdenken über das ‚Theater‘ – in unterschiedlichster Form und mit unterschiedlichstem Verständnis dessen, was dieser Begriff umfasst – aber bereits seit der Antike. Mit Blick auf das in der Theaterwissenschaft wie über sie hinaus aufgetauchte Problem der Alterität des Singulären wäre aber zu betonen, dass sich aus heutiger Sicht nicht sagen lässt, ob die Begründung einer eigenständigen Disziplin der Theaterwissenschaft von Dauer sein wird oder ob sie mit Blick auf die in ihr vorübergehend vergessene Krise des Gegenstandes nur eine Form der Verdrängung dessen darstellt, was unter dem Namen des Theaters seit der Antike das Denken von Sprache, Kultur und Philosophie immer wieder von Neuem heimsucht. Eine Theaterwissenschaft, die es mit dem unter dem Vorzeichen des Singulären aufgetauchten Zweifel am Ganzen aufnehmen will, muss in jedem Fall, darin der über ihr Ende nachdenkenden Philosophie2 verwandt, zu allererst die mit ihrem Namen gesetzten Voraussetzungen – das Theater wie die Wissenschaft – radikal infrage stellen. Eine am Singulären orientierte Theaterwissenschaft ist eine solche, die sich dieser Infragestellung und insofern ihres Hervortretens aus einem abendländischen Denken und einer Tradition des Ästhetischen bewusst ist, damit aber einer Tradition der Auflösung, der sie sich im Einklang mit den Künsten nicht entledigen kann, der sich zu stellen zunächst aber heißt, um der Gegenstände und ihrer Fragen willen die Zertrümmerung aller vermeintlichen Grundlagen, von denen ausgegangen werden könnte, hinzunehmen. Wenn es von daher nicht sicher sein kann, ob es überhaupt eine Wissenschaft vom Theater geben kann, so lässt sich doch mit Sicherheit sagen, dass jede gegenwärtige Theaterwissenschaft, sofern sie die Erfahrung der Sprache und der Anderen, der Alterität des Singulären, an die hier exemplarisch, vom Denken Benjamins, Derridas, Spivaks und verschiedener an sie anknüpfender Wissenschaftler*innen her, erinnert wurde, nicht vergessen will, von dieser Unsicherheit ihren Ausgang zu nehmen hat.