Methoden der Theaterwissenschaft

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From the series: Forum Modernes Theater #56
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III. Doing Method

Wissenschaft übersetzt die Komplexität ihrer Umwelt in eine andere, eine ihr eigene Komplexität (was in der Beobachtung als Komplexitätssteigerung erscheinen kann). Das tut sie, indem sie die Gegenstände des Erkenntnisinteresses ins Verhältnis zu einer Theorie oder einem Modell setzt. Dabei ergibt sich aus der Wahl eines theoretischen Paradigmas selbstredend noch keine Methode. Methodisches Vorgehen setzt vielmehr eine operative Grundhaltung voraus – etwa: Genaues Lesen (z.B. von historischen Quellentexten), systematisierende Bildbetrachtung, das achtsame Verfolgen einer Aufführung, auch Zählen, Messen, Wiegen – aber es erschöpft sich nicht in ihr. Denn auch die gebannte Leserin von Søren Kierkegaards Berichten über die Berliner Antigone-Aufführung von 1842 kann sicherlich viel über die Texte sagen, das macht sie aber noch nicht zum Theaterhistorikerin. Ein Besucher von Hans Neuenfels’ Münchner Antigone-Inszenierung hat vielleicht eine differenzierte Meinung, aber dadurch wird er noch nicht zum Aufführungswissenschaftler; und zwar auch dann nicht, wenn er seine Beobachtungen in strukturierter und intersubjektiv nachvollziehbarer Form kommuniziert.

Erst wenn die operative Grundhaltung durch eine spezifische, begrifflich präzisierte (oder zumindest als präzisierbar gedachte) Beobachtungseinstellung konturiert wird, sind die Voraussetzungen für methodisches Arbeiten im engeren, wissenschaftlichen Sinne gegeben. Dann wird etwas als etwas beobachtbar: etwa Theater als sozialer Prozess, eine Aufführung als ein Netz unabschließbarer Mediatisierungsprozesse, der Prozess des Zuschauens als Prozess des Erprobens und Verwerfens kognitiver Konstrukte eines Geschehens, oder Kierkegaards Berichte als Quellen für hegelianisch grundierte Antigone-Lektüren des mittleren 19. Jahrhunderts. Zentral dafür ist, dass Schlussfolgerungen vor einem als plausibel angenommenen und explizierbar gedachten (im besten Fall auch explizierten) Hintergrund begründet werden. Methodisches Vorgehen entsteht demnach im ständigen Messen von Beobachtungseinstellung, operativer Grundhaltung und Objektbereich aneinander und ist eher konstellativ denn linear zu denken: Linearität, die Annahme eines abzuschreitenden Wegs zum Ziel also, so eine erste Hypothese, ist in diesem Sinne eben nicht die Voraussetzung für Methodik.1

Methodisches Vorgehen reduziert so die unvorhersehbare, unabschließbare Komplexität des Gegenstandes und ersetzt sie durch die anders geartete Komplexität wissenschaftlichen Ausdrucks. Systemtheoretisch formuliert hieße das: Komplexitätssteigerung ermöglicht Komplexitätsbewältigung. Und das könnte man das Ziel des wissenschaftlichen Methodos nennen – ein Ziel freilich, das selbst wieder zum Ausgangspunkt wird. Dabei soll nicht etwa etwas wie eine generative Transformationsgrammatik der Methoden angestrebt werden: Was etwa als eine operative Grundhaltung zu identifizieren sei, ist Gegenstand der disziplinären Aushandlung und des Dialogs – und ist seinerseits (fach-)historischem Wandel unterworfen.

IV. Methode im Plural

Wenn ich von Methode im Plural spreche, so ist das natürlich einerseits eine Anspielung auf den Titel, den der vorliegende Band trägt, andererseits aber auch eine Selbstverständlichkeit: Wahrscheinlich mit allen Fächern, die gegenwärtig im Kanon europäischer Universitäten vertreten sind, teilt die Theaterwissenschaft die Annahme, dass es zur wissenschaftlichen Komplexitätsbewältigung nicht eine methodos ariste, nicht einen Königsweg gebe, unter anderem auch deswegen, weil das ,Wesen‘ oder der zentrale Gegenstand eines Fachs nicht mehr so eindeutig bestimmbar scheint, wie vor 100 Jahren: „Will die Theatergeschichte eine Wissenschaft werden, so muss sie ihre eigene Methode erhalten“,1 schrieb Max Herrmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an der Wiege einer akademischen Disziplin – und er schlug aus Gründen, die verschiedentlich erörtert worden sind, die Methode der „Rekonstruktion des verpassten Ereignisses“ vor.2 Noch bis in die 1940er Jahre konnte Artur Kutscher der Überzeugung sein, dass die Methode sich aus dem Gegenstand des Fachs zu definieren und dessen Ort im Kanon der akademischen Disziplinen zu bestimmen habe.3

Heute hält sich die Theaterwissenschaft ein breites und heterogenes Spektrum an Untersuchungsmethoden zur Verfügung. Dass nicht mehr von einer Methode auszugehen ist, die ein fachliches Selbstverständnis oder eine akademische Disziplin konstituiere, hat seine Gründe sicherlich auch in einem Wissenschaftsverständnis, das spätestens mit Paul Feyerabends schon in ihrem Erscheinungsjahr 1970 vielbeachteter Streitschrift Against Method4 nicht nur die Methode in den Plural setzte, sondern das Primat des Methodischen als Voraussetzung von Wissenschaftlichkeit ganz generell zur Disposition stellte. Andererseits hat sie mit einer Debatte um den Gegenstand, seine mediale Spezifik und seine mediale Hybridität zu tun, die zur Diskussion um die Pluralität im Methodischen komplexe Beziehungen unterhält.

In der Theaterwissenschaft ist nicht allein eine Pluralität der Methoden, sondern auch eine Pluralität der Verständnisse von ‚Methode‘ zu beobachten. Der Begriff wird auf unterschiedlichen Ebenen zur Charakterisierung wissenschaftlicher Arbeitsweisen eingesetzt: Neben Methoden strukturaler Analyse stehen praxeologische Ansätze, phänomenologische Verfahren der Beobachtungseinstellung oder Formen digital gestützter Quellenerschließung – und alle heißen ‚Methode‘ mit jeweils gutem Grund. Entsprechend impliziert das vorgeschlagene rudimentäre und dabei integrativ gedachte Konzept des Methodischen nicht die festgelegte Reihenfolge von Analyseschritten, sondern geht, eben im Sinne eines dynamischen doing method, von der gegenseitigen Konturierung von operativer Grundhaltung, Beobachtungseinstellung und Gegenstand im Sinne eines Fließgleichgewichts aus.

Aus einer Vielfalt theoretischer Perspektiven und der Offenheit gegenüber transdisziplinärem Theorietransfer wäre noch keine spezifische Differenz der Theaterwissenschaft zu anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern zu konstruieren (wenngleich – möglicherweise – eine graduelle). Was sie jedoch – soweit ich das sehen kann – auszeichnet, ist ihr experimentell-exploratives Umgehen mit operativen Grundhaltungen, die dann wieder theorie- und methodenproduktiv sein können. Theaterwissenschaft ist eine lesende und schreibende Wissenschaft, schon dadurch, dass sie ihren Gegenstand oft retrospektiv generiert. Aber sie ist auch eine des körperlichen Nachvollzugs beschriebener oder der experimentellen Erzeugung zu beschreibender Abläufe – etwa, wenn sie sich auf dem Wege der experimentellen Rekonstruktion historischer Raum-Körper-Konstellationen ihre eigenen hybriden Quellen schafft.5 Methoden der Theaterpraxis können nicht nur Gegenstand der Analyse sein, sondern auch zu Modellen für wissenschaftliches Vorgehen werden. Dies evoziert aber auch die Frage danach, ob sich dieser zweifellos produktive Grenzverkehr, die produktive Durchdringung von wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis, selbst als methodengeleitet beschreiben lässt.

V. Trans- vs. Inter-Disziplinarität

Dass Theaterwissenschaft auf verschiedenen Ebenen zur Ausweitung ihrer Grenzen und – so könnte man sagen – zur transdisziplinären Phagozytose tendiert, ist wahrhaftig keine neue Erkenntnis. Diese Tendenz hat zumindest zum Teil mit ihrem Gegenstand und dessen theoretischen Modellierungen zu tun – von der Polyfuktionalität und Mobilität der theatralischen Zeichen,1 von der je historisch, bedingt durch das spezifische Theatralitätsgefüge2 und seine theatralen Interaktionen,3 verschiedenen Faktur des Dispositivs Theater oder von der theoriehistorisch folgenreichen Annahme, Theater sei ein Hypermedium,4 – von diesen so unterschiedlichen Perspektiven auf das Gegenstandsfeld der Theaterwissenschaft ist an dieser Stelle kaum ausführlich zu handeln.

Doris Kolesch beschreibt die Theaterwissenschaft zu Recht als eine interdisziplinäre Wissenschaft, die – je nach Gegenstand und akutem Erkenntnisinteresse – als Kunst-, Medien- oder Kulturwissenschaft agiere und argumentiere;5 und schon einführende Standardwerke bestimmen das Fach als Grenzgänger an den Rändern der Disziplinen.6 Der methodische Status quo wird fachintern zumeist nicht als ein strukturiertes Feld passgenau sich ergänzender, je problembezogener Methoden wahrgenommen, und glücklicherweise auch nicht in erster Linie als eine Situation der Methodenkonkurrenz oder des Methodenstreits, sondern als ein Bündel von Perspektivierungsinstrumenten; und das stört in der täglichen Praxis von Forschung und Lehre auch nicht. Anders mag das gelegentlich für den fachexternen Beobachter aussehen, wenn er dem Fach vorwirft, ihm fehle seine originäre Methode; und insbesondere für die in vieler Hinsicht spezifische Textsorte des Drittmittelantrags können sich hier auch für das Fach selbst Probleme auftun. Der oftmals methodenproduktive heuristische Eklektizismus der Theaterwissenschaft in Terminologie und Theoriesprache führt bei den beliehenen Fächern bisweilen zu Irritationen. So etwa in der Diskussion des theaterwissenschaftlichen Performativitätsbegriffs, der sich bekanntlich bei der analytischen Sprachphilosophie bedient,7 aber auch beim Konzept des Embodiment und seinen kybernetischen Vorbedingungen.8 Insbesondere historisch begründete Implikationen philosophischer Grundlagenbegriffe spielen oft eine eher marginale Rolle für deren konkrete Verwendung. Das gilt etwa für den Begriff der Ästhetischen Erfahrung, der seine Vorgeschichte in der Philosophie des Deutschen Idealismus hat und der auch die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägte, oder für den Ereignisbegriff, den die Theaterwissenschaft sehr viel pragmatischer setzt als zum Beispiel die philosophische Phänomenologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und auch sehr viel weniger formalistisch als etwa die Lotman’sche Kultursemiotik).

 

Mit zahlreichen Nachbarwissenschaften teilt das Fach dabei ein zentrales Merkmal, dem das plurale Spektrum nicht nur an Methoden, sondern auch an Methodologie zumindest zum Teil geschuldet scheint: Eine Vielfalt an prinzipiell verfügbaren, intradisziplinär erprobten und interdisziplinär vermittelbaren Theorieangeboten. Diese ermöglichen eine je spezifische Perspektive und müssen je gegenstandsorientiert angepasst werden, unterscheiden sich jedoch nicht so sehr darin, dass sie prinzipiell auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche bezogen sind. Und speziell in dieser Form der Pluralität als Multiperspektivität unterscheiden sich viele geistes- und kultur- und manche sozialwissenschaftliche Disziplinen wohl grundsätzlich von natur- und lebenswissenschaftlichen: Methodenvielfalt ist in Natur- und Lebenswissenschaften, mehr noch in anwendungsorientierter Forschung, etwa in den Ingenieurswissenschaften, prinzipiell einem distribuierten Arbeiten geschuldet, das der Notwendigkeit entspringt, zur Erreichung eines Forschungsziels hochspezialisierte Forscher*innen zu vernetzen.9 Als trans-theoretische und trans-methodische Kommunikationsebene bietet sich dabei eine hinreichend formalisierte Sprache an – sei es die einer mathesis universalis, sei es das Englische als Sprache der Präsentation von Spezialdiskursen, seien es die verschiedenen (nur scheinbar) aus sich selbst heraus evidenten bildgebenden Verfahren. Für Disziplinen hingegen, die Sprache als Erkenntnisinstrument nutzen (und das scheinen mir in erster Linie die zu sein, die sich als geistes- oder kulturwissenschaftlich verstehen), ist ein arbeitsteiliges Vorgehen in der Forschungspraxis weder immer wünschenswert, noch im strengen Sinne möglich.10

Wie ist nun vor dem Hintergrund dieser Überlegungen mit der zu konstatierenden Pluralität der theaterwissenschaftlichen Methoden umzugehen – im Sinne der Etablierung einer methodenübergreifenden Fachdebatte, die es erlaubt, das Methodische theaterwissenschaftlichen Arbeitens kommunizierbar zu halten, und die der fachlichen Selbstverständigung zuarbeiten könnte? Ich möchte einen Vorschlag machen für ein pragmatisches Umgehen mit innerdisziplinärer Methodenvielfalt, für die ich vorläufig drei Generierungsebenen ausmache: Wie skizziert, hat Methodenvielfalt – erstens – mit der großen Bereitschaft der Theaterwissenschaft zum interdisziplinären Dialog und zum Methodenimport zu tun. Plausibel ist es – zweitens – die Methodenvielfalt im Fach als eine Folge von dessen Theorienvielfalt zu verstehen. Drittens verlangen die unterschiedlichen medialen Dispositive, mit welchen man sich zu beschäftigen hat, je spezifische methodische Zugriffe: Denn Theater ist ja nicht nur selbst durch intermediale Prozesse gekennzeichnet, sondern es wird oft genug in mediatisierter Form – in seinen Dokumenten und Monumenten – zum Gegenstand der Forschung.11

Diese drei Generierungsebenen lassen sich in praxi schwer auseinanderhalten und sind in ständiger In- und Interferenz zu denken: Die Theaterwissenschaft bezog schon in ihrer Gründungsphase Anregungen aus Modellen und Methoden anderer Disziplinen und tut dies heute noch. Der Aspekt der medialen Diversität spielt für die Theaterwissenschaft eine besonders offensichtliche Rolle; denn über Theater nachzudenken ganz ohne über Medialität nachzudenken (oder zumindest implizite Konzepte des Medialen zu transportieren) ist kaum möglich.12 So könnte man sagen, dass die Methodenvielfalt der Theaterwissenschaft einerseits einer produktiven Diversität der operativen Grundhaltungen und Beobachtungseinstellungen geschuldet ist, andererseits aber auch der medialen Komplexität ihres Gegenstandsbereichs.

Wie mit Situationen methodischer Diversität in disziplinenübergreifenden Projekten umzugehen sei, darüber hat Jürgen Mittelstraß ausführlich nachgedacht. In einem Aufsatz zu „methodischer Transdisziplinarität“, der eine Synopse seiner früheren Überlegungen darstellt, hat er eine Verfahrensweise zur Erzeugung einer transdisziplinären Argumentationsebene entworfen.13 Dabei ist es ihm nicht um ein Theoriedesign zu tun, das auf der Ebene von Forschungsparadigmata anzusiedeln wäre, und schon gar nicht um eine Methode, sondern pragmatisch um

ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip […], das überall dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird.14

Als in diesem Sinne pragmatisches, „forschungsleitendes Prinzip“15 stelle Transdisziplinarität fachliche und disziplinäre Argumentationsstrukturen und Perspektivierungen dort zur Disposition, wo sie sich nicht vom Forschungsgegenstand her begründen ließen, sondern vielmehr historisch kontingenten Prozessen und Figurationen wissenschaftlicher Enkulturation geschuldet seien. Als Aufgabe methodischer Transdisziplinarität markiert Mittelstraß, dass diese Aufhebung selbst argumentativ erzeugt und auch durch transdisziplinäre Forschungsergebnisse gerechtfertigt wird.

Dass das Konzept der Transdisziplinarität, wie es Mittelstraß fasst, auf der Suche nach einer heuristischen Methodologie der Theaterwissenschaft nur bedingt sinnvoll ist, zeigt sich dann, wenn es um den Prozess der Erzeugung methodischer Transdisziplinarität und um ihr Ziel geht: „,Entdisziplinierung‘ im Argumentativen, Transdisziplinarität als argumentative Einheit.“ Mittelstraß konstatiert: „Die gesuchte Einheit […] [wird] über unterschiedliche Disziplinen hinweg und gleichzeitig durch diese hindurch argumentativ erzeugt.“16

Gerade eine solche argumentativ erzeugte Einheit ist aber nicht das Ziel geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung, der es nicht so sehr um Lösungen für Probleme, sondern um deren Perspektivierung und Diskussion geht und gehen muss; nicht um Komplexitätsreduktion also, sondern um Komplexitätssteigerung. Transdisziplinarität bedeutet in ihnen gerade nicht, sich über Forschungsergebnisse interdisziplinär auszutauschen, um dann mit neuen Erkenntnissen und angepassten Methoden in die eigene Disziplin zurückzukehren;17 ein Vorgehen, dass durchaus legitim sein kann und produktive, gar im Sinne einer heuristischen Veränderung der Beobachtungseinstellung einigermaßen bewusst herbeigeführte Miss- oder Neu-Verständnisse mit einschließt.18 Gerade dass unterschiedliche Erkenntniswege eben nicht in einem Konzept des Transdisziplinären aufgehen, macht einen Gutteil der spezifischen Form von Komplexitätssteigerung aus, die die Arbeit der Kultur- und Geisteswissenschaften kennzeichnet. Methodendialog – sei er ein innerdisziplinärer, sei es einer, der sich nach außen öffnet – hat dann gerade den Zwischenraum der Methoden als Diskussions- und Begegnungsraum zu erhalten und sich über die Heterogenität des (freilich weniger modischen) ‚Inter‘ zu definieren, denn über eine Behauptung des immer konsistenten, konsensuellen ,Trans‘.

Was kann sich daraus nun für die Theaterwissenschaft oder generell: für die ‚Kleinen Fächer‘ ergeben? – Zunächst ein Bekenntnis zur Pluralität nicht nur von Methoden, Modellen und Theorien, sondern v.a. auch von Methodologien und ihre Diskussion im Fach und über Fächergrenzen hinweg. Die Bereitschaft zum produktiven Widerstreit mit Positionen, die aus der eigenen Perspektive zunächst vielleicht nicht ‚theaterwissenschaftlich‘ sind. Die Identifikation von ‚Schulen‘ und ihre Öffnung. Für die hier in Rede stehende Trans-Methodologie geht es freilich um einen innerdisziplinären Prozess der Verständigung, der Prozesse explizit macht, die oftmals implizit ablaufen (und damit störanfällig sind). Im Grunde können wir ja bei aller Differenz – vielleicht glücklicherweise – in einem eher agonistischen denn konsensuellen Modus ganz gut miteinander reden.

Der unterbrochene Weg. Zu einer Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft

Nikolaus Müller-Schöll

Am 26. Mai 1965 begründet der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, warum er in Absetzung von der bis dahin gebrauchten Bezeichnung „Vergleichende Literaturwissenschaft“ die Komparatistik fortan als „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ bezeichnet wissen will:

Zur historischen Untersuchung der faktischen Zusammenhänge zwischen den Nationalliteraturen, die einst die einzige Aufgabe des Faches bildete, ist längst eine systematische, aufs Ganze der Literatur zielende theoretische Bemühung hinzugekommen, die […] der Erforschung des Gemeinsamen gilt.1

In Anlehnung an diese Definition möchte ich nachfolgend skizzieren, was es unter methodologischen Gesichtspunkten heißen könnte, Theaterwissenschaft im Sinne Szondis und über ihn hinaus als eine nicht nur Vergleichende, sondern auch Allgemeine zu begreifen.

Dabei setze ich voraus, dass das Fach in seinem gegenwärtigen Stand bereits seit längerem in vielerlei Hinsicht als Vergleichende Theaterwissenschaft bezeichnet werden kann: In ihm wird das lange Zeit – und sei es unreflektiert – als Norm und Maßstab genommene abendländisch-europäische Theater in seiner maßgeblich auf das 17. und 18. Jahrhundert zurückgehenden nationalstaatlichen Ausprägung in den Kontext anderer Kulturbereiche gesetzt, mit denen es, wie sich dabei zeigt, auf vielfältige Weise verflochten ist. So wird zugleich an der Dekolonisierung der eigenen Geschichte und der Öffnung hin auf andere Geschichten gearbeitet. In die Untersuchungen einbezogen werden die vielfältigen Ausprägungen einer im engeren wie im weiteren Sinne theatralen Praxis in Bereichen wie Musiktheater, Tanz, Performancekunst, Happening, Installationskunst sowie Figuren-, Puppen und Objekttheater, aber auch alle jene Erscheinungsformen von Theatralität und Performativität, welche im Anschluss an Rudolf Münz, Andreas Kotte, Helmar Schramm und Gerda Baumbach als „kulturgeschichtlich bedeutsame Materialfelder“2 eines „Theatralitätsgefüges“3 bezeichnet werden können: Neben dem Kunsttheater also auch „die Theatralisierung des Lebens“, das „Anti-Theater“ und das „Nicht-Theater“.4 Über die Betrachtungen von Drama, Skript, Theater und Performance hinaus, die Richard Schechners Modell zufolge zur Analyse theatraler Praktiken gehören5, richtet sich der Blick der vergleichend angelegten Theaterwissenschaft auch auf die unterschiedlichen Organisationsmodelle und Öffentlichkeitsvorstellungen in ihrer historischen Genese und Genealogie.6 Der als spatial7 oder besser topographical turn8 in den Geistes- und Sozialwissenschaften diskutierten neuen Aufmerksamkeit für Raumfragen9 korrespondieren in der vergleichend arbeitenden Theaterwissenschaft Untersuchungen zu unterschiedlichen Ausprägungen des mit Theater verbundenen Raumverständnisses. Sie begreifen den Raum nicht länger als ‚Container‘ oder ‚Schachtel‘, sondern eher als ‚Existential‘ oder ‚Dispositiv‘.10 Untersuchungen der Zeit lösen diese aus einem Verständnis heraus, welches Zeit nur als abstraktes, gleichförmiges Maß begreift. Im Einklang mit einer auf die Phänomenologie, Walter Benjamin und Martin Heidegger zurückgehenden Tradition beziehen sie die Zeitwahrnehmung in die Untersuchung mit ein.11 Die jüngere Diskussion der Illusionsbildung begreift Illusion nicht länger als einen in den Oppositionen von Realismus und Verzeichnung oder Fiktion begreifbaren falschen Schein oder Trug, sondern eher im Sinne des frühen Marx als Ideologie oder notwendige Täuschung.12 Im Einklang mit neueren philosophischen Ansätzen13 wird der Körper in der theatralen Darstellung nicht länger instrumentell begriffen14 und die Rolle des Zuschauers als eine historisch wandelbare betrachtet, als Episteme, die sich in der heute noch geläufigen Form Ende des 18. Jahrhunderts herausbildet, um im Verlauf des 20. Jahrhunderts in eine Krise zu geraten.15 Technik wird mit Heidegger, Kittler, Ronell16 und anderen nicht länger als äußerliche Voraussetzung des theatralen Ereignisses angesehen, sondern als dessen ko-originale oder primordiale Veränderung.17 Untersuchungen des Probenprozesses legen neue Praktiken der Gemeinschaftsbildung im und durch Theater frei.18 Mit Blick auf die französische Unterscheidung von le und la politique (das Politische und die Politik) wird das Verhältnis von Theater und Politik radikal neu bestimmt.19 Theater wird von daher – mit unterschiedlichem Verständnis des von Foucault, Deleuze und Agamben geprägten Begriffes – auch als ‚Dispositiv‘ analysiert, also als „Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen“20.

 

Während mithin evident ist, dass man das Fach seiner gegenwärtigen Erscheinungsform nach als ein vergleichendes bezeichnen kann, bedarf seine Erweiterung in Richtung auf eine Allgemeine Theaterwissenschaft, der es, mit Szondis Formulierung für eine Erweiterung der AVL gesprochen, ums „Ganze“ des Theaters oder die „Erforschung des Gemeinsamen“ geht, weiterer Erläuterung. Diese möchte ich nachfolgend in vier Schritten versuchen: 1. Insofern sich als Allgemeines, Ganzes und Gemeinsames des Theaters das Fehlen eines festen Grundes, Fundaments oder metaphysischen Ersten bezeichnen ließe, hätte eine Allgemeine Theaterwissenschaft vom Fehlen einer Grundlage oder eines Fundaments auszugehen. 2. Die solchem Fehlen korrespondierende Methode könnte in einem bestimmten, genauer einzugrenzenden Sinn als Lektüre bezeichnet werden. 3. Als Wissenschaft des fehlenden Grundes wäre eine Allgemeine Theaterwissenschaft in der Tradition des Versprechens ihres Gegenstandes, des Theaters, paradoxerweise exakt die Wissenschaft von der Prüfung und Auflösung der Allgemeinheits-Postulate, Systeme und Methoden. Sie wäre insofern 4. aber auch mit einer radikalen Infragestellung der im Begriff der Methode angelegten Logik von Weg und Ziel und nicht zuletzt der Disziplin der Theaterwissenschaft selbst verbunden.