Free

Literatur und Mehrsprachigkeit

Text
Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

Literatur

Ammon, Ulrich/Hans Bickel/Alexandra N. Lenz (Hrsg.), Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen, Berlin/Boston 2016.

Besch, WernerBesch, Werner, »Dialekt, Schreibdialekt, Schriftsprache, Standardsprache. Exemplarische Skizze ihrer historischen Ausprägung im Deutschen«, in: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, 2. Halbbd., Berlin/New York 1983, S. 961–990.

Koch, PeterKoch, Peter/Wulf OesterreicherOesterreicher, Wulf, »Schriftlichkeit und Sprache (Writing and Language)«, in: Hartmut GüntherGünther, Hartmut/Otto LudwigLudwig, Otto (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research, Berlin/New York 1994, S. 587–604.

Löffler, HeinrichLöffler, Heinrich, Germanistische Soziolinguistik, Berlin 52016.

ReichmannReichmann, Oskar, Oskar, »Nationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft«, in: Andreas GardtGardt, Andreas (Hrsg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin/New York 2010, S. 419–469.

Siebs, TheodorSiebs, Theodor (Begr.), Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch, hrsg. v. Helmut de BoorBoor, Helmut de/Hugo MoserMoser, Hugo/Christian WinklerWinkler, Christian, Berlin 191969.

Sieburg,Sieburg, Heinz Heinz, »Zur Problematik des generischen Maskulinums. Positionen und kritische Analyse«, in: Ders. (Hrsg.), ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte. Bilder – Identitäten – Konstruktionen, Bielefeld 2015, S. 211–240.

2. ›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca

Heinz Sieburg

Unter anderen zählt die numerische Stärke von Sprachen zu den soziolinguistisch relevanten Differenzkriterien. Unterschieden wird dabei meist zwischen der Zahl der Muttersprachler und Fremdsprachler bzw. der zahlenmäßigen Größe als Erstsprache oder Zweitsprache. Entsprechende Statistiken sind aufgrund unvermeidlicher methodischer Probleme stets kritisch zu betrachten und weisen eine teilweise erhebliche Schwankungsbreite in Hinblick auf die dargestellten Quantitätsverhältnisse auf. Gravierende Abweichungen bestehen bereits in Bezug auf die Quantifizierung der Sprachen dieser Welt. Hier schwanken die Angaben – je nach Zählung – zwischen 2.500 und 10000. Als ›Weltsprachen‹ kommen davon nur ganz wenige in Betracht. Dabei gilt, dass der Begriff der Weltsprache linguistisch nicht einheitlich definiert ist, sondern, abhängig von den jeweils zugrunde gelegten Kriterien, variabel verwendet wird.

Die überwiegende Mehrzahl aller Sprachen ist an kleine und kleinste Sprachgemeinschaften gebunden. Nach einigen Zählungen (KönigKönig, Werner/ElspaßElspaß, Stephan/MöllerMöller, Robert, dtv-Atlas Deutsche Sprache, 37) haben nur 88 Sprachen mehr als 10 Millionen und nur 8 Sprachen mehr als 100 Millionen muttersprachliche Sprecher. Wie belastbar derlei Zählungen im Einzelnen sind, sei dahingestellt. Die Kernaussage, dass nur wenige Sprachen numerisch exponiert sind, ist dagegen zweifellos richtig. Diese werden oft in Ranglisten vorgestellt, die allerdings wiederum eine erhebliche Variabilität zeigen, begründet zum einen durch dynamische demografische Entwicklungen in einzelnen Sprachgemeinschaften, zum anderen aber auch dadurch, dass mitunter statt auf belastbare Datenerhebungen auf grobe Schätzungen zurückgegriffen werden muss.

Für die Stellung einer Sprache als Weltsprache spielen Größenverhältnisse eine entscheidende Rolle, mitunter wird allein das Frequenzmerkmal als Kriterium für eine Weltsprache herangezogen: »Weltsprachen sind also die meistgesprochenen Sprachen der Welt.« (http://www.weltsprachen.net/ [Stand: 10.1.2016]) Eine aktuelle Rangfolge vermittelt die Übersicht in Abbildung 1.

Die Grafik verdeutlicht, dass auch im Vergleich der weltweit größten Sprachen extreme Quantitätsunterschiede bestehen. So umfasst das hier an Position 12 platzierte Koreanische nur etwa rund 1,2 % des auf Position 1 rangierenden Englischen. Erkennbar wird zudem, wie sehr sich Sprachen in Hinblick auf die Relation der Erstsprache zur Zweit-/Fremdsprache unterscheiden.

Die Stärke einer Sprache allein auf die Zahl ihrer Sprecher zu stützen, verstellt jedoch den Blick auf eine Reihe weiterer Kriterien, die ebenfalls maßgeblich für die Position einer Sprache im Sinne einer Weltsprache sein können. Relevant sind insbesondere die geografische Verteilung einer Sprache, ihre internationale Verbreitung als Amtssprache, ihre Funktion als Arbeitssprache in der internationalen Kommunikation sowie, nach HaarmannHaarmann, Harald (Weltgeschichte der Sprachen, 342), ihr »globales Prestige als Modernitätsikon[e]«. Wichtige flankierende Kriterien hierbei sind die politische, ökonomische, wissenschaftliche oder kulturelle Stärke der zugrundeliegenden Sprachgemeinschaft.

Weltsprachen in diesem Sinne zeichnen sich durch eine besonders große ›kommunikative Reichweite‹ bzw. internationale Verbreitung aus. Weltsprachen können so zum Instrument übereinzelsprachlicher globaler Kommunikationsbewältigung werden. Funktional sind sie hierbei als Verkehrssprache (Lingua Franca) zu bezeichnen, da sie die durch Sprachdifferenz bedingten Sprachbarrieren überwinden und somit einen kommunikativen Austausch (Verkehr) in einem größeren mehrsprachigen Raum ermöglichen. In diesem Sinne ist das Arabische beispielsweise Lingua Franca im arabisch-nordafrikanischen Raum oder Französisch in der Frankophonie.

Unter den Voraussetzungen globaler Verbreitung sind eine Reihe der oben aufgelisteten Sprachen jedenfalls nicht Weltsprachen im engeren Sinne. So zählt das Deutsche zwar zu den zahlenmäßig großen Sprachen, Deutsch ist zugleich international verbreitet (Amtssprache in sieben Ländern, mit insgesamt rund 87,5 Mio. Muttersprachlern und ca. 8,5 Mio. Fremdsprachlern; vgl. AmmonAmmon, Ulrich, Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt [2015], 170) und zudem eine weit verbreitete Fremdsprache. Dennoch ist hier die Bezeichnung Weltsprache aufgrund der weitgehenden (monopolaren) Beschränkung auf einen Raum (Europa) problematisch. Im engeren Sinne sind damit nur Englisch, Spanisch, Französisch und Portugiesisch, unter besonderen Voraussetzungen auch Arabisch und Russisch, als Weltsprachen anzusehen.

Voraussetzung für die Etablierung von (neuzeitlichen) Weltsprachen war in der Regel die Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete/Länder durch europäische Mächte und die damit einhergehende Implementierung und Ausbreitung der Kolonisatoren-Sprachen. Diese bestehen als Amtssprache nach Beendigung der Kolonialzeit in den ehemaligen Kolonien häufig fort. Ein Grund hierfür kann in ihrer Funktion gesehen werden, die oft unterschiedlichen lokalen Sprachen im Sinne einer nationalen Lingua Franca zu überdachen. Heute ist Französisch weiterhin Amtssprache in zahlreichen Ländern Afrikas, während Spanisch und Portugiesisch in Südamerika verbreitet geblieben sind.

Wenngleich das Chinesische die mit Abstand größte Muttersprache ist, hat sich das Englische inzwischen als die eigentliche Weltsprache und damit als »die lingua franca, die Verkehrssprache schlechthin« (LeitnerLeitner, Gerhard, Weltsprache Englisch, 8) etabliert. Aufgrund der voraussehbaren Entwicklung zu einem vom Großteil der Menschheit gleichermaßen verwendeten Kommunikationsmittel ist hier auch die Bezeichnung Universalsprache angemessen. Die exponierte Stellung des Englischen basiert politisch auf der globalen Ausdehnung des (ehemaligen) Englischen Empires und dem seit dem 20. Jahrhundert zunehmenden Einfluss der USA, sprachpraktisch aber insbesondere auch auf den mit der zunehmenden Globalisierung und digitalen Vernetzung einhergehenden Kommunikationserfordernissen. Englisch dominiert in Hinblick auf den Status als Amtssprache, wenngleich auch hier die Zahlenangaben, je nachdem, wie abhängige Gebiete gezählt werden, erheblich schwanken können. Gemäß Fischer Weltalmanach ’97 fungiert Englisch in 48 Ländern als solo- oder ko-offizielle Amtssprache.


Abb. 1: Die meistgesprochenen Sprachen weltweit (Muttersprachler und Sprecher in Millionen

(Quelle: http://de.statista.com/graphic/1/150407/die-zehn-meistgesprochenen-sprachen-weltweit.jpg [Stand: 10.1.2016])

Im Vergleich hierzu ist Französisch Amtssprache in 27 Ländern, Arabisch in 23, Spanisch in 20, Portugiesisch und Deutsch in jeweils 7 und Italienisch in 4 Ländern (nach AmmonAmmon, Ulrich, »Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt« [2003], 347). Auch in ökonomischer Hinsicht, etwa in Bezug auf das ›Handelsvolumen der Muttersprachgemeinschaften weltweit‹, rangiert das Englische an erster Stelle, deutlich vor Deutsch und Französisch (vgl. ebd., 347). Englisch dominiert zugleich als die weltweit am meisten erlernte Fremdsprache (bei stark schwankenden Größenangaben). Bezogen auf Deutschland geben gemäß einer repräsentativen Allensbach-Umfrage von 2008 insgesamt 98 % der Befragten an, Englisch sei die wichtigste Fremdsprache bzw. solle in der Schule vor allem gelernt werden (HobergHoberg, Rudolf/Eichhoff-CyrusEichhoff-Cyrus, Karin M./SchulzSchulz, Rüdiger, Wie denken die Deutschen, 36). Zudem ist das Englische die am weitesten verbreitete Verkehrssprache in zahlreichen internationalen Organisationen wie UNO, NATO, EU oder ASEAN. Auch als Wissenschaftssprache hat sich das Englische im Verlauf des letzten Jahrhunderts, vor allem der letzten Jahrzehnte, – unter Zurückdrängung anderer Wissenschaftssprachen wie Deutsch, Französisch oder Russisch – vielfach durchgesetzt, vor allem in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. Als Vorteile gelten hierbei die dadurch gewährleistete (vermeintlich) barrierefreie Verständigung innerhalb der wissenschaftlichen ›Community‹ und die Chance auf eine möglichst breite Rezeption von Fach-Publikationen. Zunehmenden Einfluss gewinnt das Englische aber inzwischen auch in philologischen Disziplinen, wenngleich insbesondere diese Entwicklung durchaus kritisch gesehen wird.

 

Hervorzuheben ist der besondere ›Marktwert‹ des Englischen, seine »reale politische und psycho-soziale Macht« (LeitnerLeitner, Gerhard, Weltsprache Englisch, 20) gegenüber anderen Sprachen. Insbesondere an die Kompetenz der englischen Sprache knüpfen sich vorwärtsweisende bildungspolitische Konzepte der Teilhabe an einer breiten internationalen (und interkulturellen) Alltagskommunikation, an Ausprägungen der (vor allem westlichen) Kultur, des Tourismus, der Informationstechnologie, insbesondere aber Bestrebungen in Hinblick auf eine konkurrenzfähige wirtschaftliche Entwicklung im Rahmen der Globalisierung.

Ein begünstigender Faktor für die zunehmende Verbreitung des Englischen kann auch in der vergleichsweise einfachen und daher lerngünstigen grammatischen Struktur gesehen werden sowie in der damit einhergehenden Möglichkeit, sich dieser Sprache als Instrument des Ausdrucks der eigenen Kultur zu bemächtigen (empowerment). Sprachtypologisch ist das Englische heute zu den isolierenden Sprachen zu zählen. So sind aufgrund sprachhistorischer Prozesse die Flexive weitgehend abgebaut, ebenso die Genusdifferenzierungen. Die Pluralkategorie wird ebenso wie das Tempussystem weitgehend regelmäßig gebildet. Auch der Wortartwechsel ist häufig ohne spezifische Wortbildungsmorpheme möglich (I read a book vs. I book a flight). Der Nachteil der deutlich unphonetischen Schreibung fällt dagegen kaum ins Gewicht.

Die Bedeutung des Englischen zeigt sich nicht nur in seiner Funktion als globale Lingua Franca, sondern auch in Hinblick auf seine Rolle als Gebersprache. So ist etwa auch im Deutschen ein zunehmender Einfluss von Anglizismen, insbesondere auf das Lexikon, erkennbar. Während eine bereits ältere Schicht mit Wörtern wie Sport, Keks oder Streik heute als unproblematisch angesehen wird, gilt dies für jüngere Entlehnungen wie Event, Brainstorming oder Meeting nur bedingt. Sprachpflegerische und sprachpuristische Ambitionen führen hier mitunter zu einer kritischen Reserve. In historischer Sicht hat das Englische auch hier andere Sprachen (hauptsächlich Französisch und Latein) als Hauptgebersprachen verdrängt.

Die insgesamt breite Akzeptanz des Englischen als Weltsprache und Lingua Franca verhindert nicht das Festhalten an der eigenen Muttersprache im alltagssprachlichen Bereich, da primär diese als soziales und kulturelles Identifikationsmedium dient. Aus diesem Grund wird Mehrsprachigkeit in aller Regel als Mehrwert verstanden, trotz aller damit notwendig einhergehenden Anstrengungen. So fordern in der oben genannten Allensbach-Umfrage nur 13 % eine Einheitssprache innerhalb der EU (11 % Englisch, 2 % Deutsch), aber 78 % sprechen sich dagegen aus (HobergHoberg, Rudolf/Eichhoff-CyrusEichhoff-Cyrus, Karin M./SchulzSchulz, Rüdiger, Wie denken die Deutschen, 44).

Unter literaturwissenschaftlicher Sicht ist die Rolle der Weltsprachen (im weiten Sinn) für die Literaturproduktion und Rezeption herauszustellen. Indiz hierfür ist die Verteilung der Literaturnobelpreise. Diese gingen bisher weit überwiegend an Autoren mit englischem, französischem, deutschem und spanischem Sprachhintergrund. Kleinere Literaturen und Sprachen sind demgegenüber unterrepräsentiert.

Die Stellung von Sprachen im Sinne von Weltsprachen ist kein allein neuzeitliches Phänomen, sondern findet Parallelen bereits in der Antike und im Mittelalter. In der Antike treten mit Blick auf den Hellenismus und das römische Reich Griechisch und Latein als Linguae Francae und Weltsprachen hervor. Auch im Mittelalter bleibt dieser Status erhalten, wenngleich weitgehend eingeschränkt auf die Bildungs-Eliten und unter zunehmendem Verlust des Muttersprachcharakters. Insbesondere das mit hohem sozialdistinktivem Prestige verbundene Latein dominiert im europäischen Mittelalter als Sprache des Klerus, der Wissenschaft und der Verwaltung, der gegenüber sich die Volkssprachen erst allmählich zu vollwertigen Literatursprachen etablieren müssen. So bleibt Latein auch lange die vorherrschende Schreib- und Druckersprache. Mit Blick auf den deutschen Sprachraum überwiegen beispielsweise erst im späteren 17. Jahrhundert deutsche gegenüber lateinischen Drucken. Auch an den Universitäten ist Latein bis in die Neuzeit dominant. (Vulgär-)Latein wurde zudem zur Ausgangsbasis für die Herausbildung der heutigen romanischen Sprachen (z.B. Französisch, Spanisch, Italienisch). Aber auch Sprachen wie die deutsche entwickelten sich seit dem Frühmittelalter unter gravierender Einwirkung des lateinischen Musters, insbesondere in Hinblick auf die Lexik und Syntax. Nicht zuletzt deswegen wird Latein mitunter als ›die Sprache Europas‹ bezeichnet. Deutlich erkennbarer nachwirkender Einfluss des Lateinischen als Weltsprache ist die lateinische Alphabetschrift, die heute global am weitesten verbreitet ist. Zudem basieren die meisten Internationalismen auf lateinischer, daneben aber auch auf griechischer Basis (z.B. Kopie, Motor, Television). Auch tradiert insbesondere der Bildungswortschatz und die Wissenschaftsterminologie das Spracherbe weiter (z.B. Philosophie, Hermeneutik, narrativ).

Angreifbar sind Weltsprachen zum einen in Hinblick auf ihre Entstehung. Hintergrund ist meist eine imperialistische Expansion und die hegemoniale Verwaltung eroberter Gebiete (Kolonialismus). Ein weiterer Nachteil natürlicher Weltsprachen ist die Privilegierung der Muttersprachler dieser Sprachen. Gerade diese Mängel wurden zum Ausgangspunkt der Schaffung künstlicher Weltsprachen bzw. Plansprachen oder Welthilfssprachen. Beide Bereiche, natürliche Weltsprachen und künstliche Weltsprachen, lassen sich terminologisch mit dem Begriff ›Interlinguistik‹ (im weiteren Sinne) verbinden (vgl. II.4).

Eine besondere Privilegierung können Sprachen auch dadurch erfahren, dass ihnen Sakralität zugesprochen wird. Entsprechende Zuweisungen finden sich in unterschiedlichen Kulturen und Religionen. So ist etwa der Begriff Hieroglyphe mit ›heiliges Zeichen‹ zu übersetzen. Auch Runen dienten bis zu einem gewissen Grad kultisch-religiösen Zwecken. Assoziationen zwischen einzelnen Religionen und ihnen zugeordneten ›heiligen‹ Sprachen finden sich in der Verbindung zwischen Hinduismus und Sanskrit, Arabisch und Islam, Hebräisch und Judentum.

Mit Blick auf das Christentum sind drei Sprachen hervorzuheben, denen eine besondere Sakralität zugesprochen wurde: Hebräisch, Griechisch und Latein, die Sprachen der Kreuzesinschrift (INRI). Grundlage hierfür ist die neutestamentliche Überlieferung, wonach der römische Statthalter Pontius PilatusPontius Pilatus angeordnet haben soll, am Kreuz JesuJesus die Aufschrift ›JesusJesus von Nazareth, König der Juden‹ in den drei genannten Sprachen anzubringen (Joh 19,20). In der christlichen Überlieferung werden diese Sprachen seit dem Kirchenlehrer Isidor von SevillaIsidor von Sevilla (ca. 560–636; Etymologiae 9, 1, 3) als die ›drei heiligen Sprachen‹ (tres lingua sacrae) bezeichnet.

Das Hebräische galt im Christentum lange auch als adamitische Sprache, also die Sprache Adams und zugleich des Paradieses. Mit ihr geht die ursprüngliche Spracheinheit verloren, als Strafe Gottes für die Hybris des Menschen (Turmbau zu Babel). Sprachenvielfalt ist aus dieser Perspektive Folge einer vom Menschen selbstverschuldeten Urkatastrophe. Bedeutender als Hebräisch und Griechisch war in der klerikalen Schreibpraxis des Mittelalters die lateinische Sprache. Latein war lange Zeit auch die maßgebliche Sprache der Bibel, der ›heiligen Schrift‹. Gegenüber den ›beglaubigten Kirchensprachen‹ bedurfte die Verwendung der Volkssprachen der besonderen Begründung. Bekanntes Beispiel hierfür ist der althochdeutsche Dichter Otfrid von WeißenburgOtfrid von Weißenburg, der den Gebrauch der deutschen Volkssprache (›Fränkisch‹) für seine Bibeldichtung (Evangelienharmonie, ca. 865) gegenüber seinem vorgesetzten Bischof in einem lateinischen Approbationsschreiben rechtfertigt und zugleich die »erste Literaturtheorie zu einer deutschsprachigen Dichtung« (HaugHaug, Walter, »Vulgärsprache als Problem«, 30) verfasst. OtfridOtfrid von Weißenburgs Ziel ist die Entwicklung der deutschen Volkssprache zu einem dem Latein ebenbürtigen Medium für das Wort Gottes. Auch DanteDante Alighieri (De vulgari eloquentia, 1303–1305), der »den Traum einer poetischen Welt-Sprache […], einer neuen Sprache des Paradieses [träumt]« (TrabantTrabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken, 75), muss Jahrhunderte später das vulgare, die italienische Volkssprache, gegenüber der grammatica (Latein) rechtfertigen. Die religiöse Urfunktion der Sprache steht dabei auch für ihn außer Zweifel (vgl. I.1 und I.3).

Literatur

Ammon, UlrichAmmon, Ulrich, »Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt«, in: Alois WierlacherWierlacher, Alois/Andrea BognerBogner, Andrea (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart/Weimar 2003, S. 345–355.

Ammon, UlrichAmmon, Ulrich, Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt, Berlin/München/Boston, Mass. 2015.

Fischer Weltalmanach ’97, Frankfurt/M. 1996.

Haarmann, HaraldHaarmann, Harald, Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart, München 2006.

Haug, WaltHaug, Walterer, »Die Vulgärsprache als Problem. Otfrid von WeißenburgOtfrid von Weißenburg und die literaturtheoretischen Ansätze in althochdeutscher Zeit«, in: Ders., Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 2009, S. 25–45.

Hoberg, RudolfHoberg, Rudolf/Karin M. Eichhoff-CyrusEichhoff-Cyrus, Karin M./Rüdiger SchulzSchulz, Rüdiger, Wie denken die Deutschen über ihre Muttersprache und über Fremdsprachen? Eine repräsentative Umfrage der Gesellschaft für deutsche Sprache in Zusammenarbeit mit dem deutschen Sprachrat durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach, Wiesbaden 2008.

König, WernerKönig, Werner/Stephan ElspaßElspaß, Stephan/Robert MöllerMöller, Robert (Hrsg.), dtv-Atlas Deutsche Sprache, München 182015.

Leitner, GerhardLeitner, Gerhard, Weltsprache Englisch. Vom angelsächsischen Dialekt zur globalen Lingua franca, München 2009.

Trabant, JürgenTrabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken. Von PlatonPlaton bis WittgensteinWittgenstein, Ludwig, München 2006 [2003].