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Literatur und Mehrsprachigkeit

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Literatur und Mehrsprachigkeit

Ein Handbuch

Till Dembeck / Rolf Parr

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0045-8

Inhalt

  Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung (Till Dembeck und Rolf Parr)

 I. Kulturelle und soziale Rahmenbedingungen literarischer MehrsprachigkeitSprache und Kultur (Till Dembeck)a) Begriffsbestimmungb) Die historische Semantik von Kultur in ihrem Verhältnis zur Sprachec) Systematische ÜberlegungenSprachliche und kulturelle Identität (Till Dembeck)a) Begriffsbestimmungb) Historische Semantiken sprachlicher und kultureller Identitätc) Systematische ÜberlegungenEinsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit (David Gramling)a) Begriffsbestimmungb) Historische Bestandsaufnahmec) Systematische Überlegungend) Literarische und andere MehrsprachigkeitenSprache als Medium von (Des-)Integration (Jörg Roche)a) Grundbegriffe: Leitsprachigkeit, Quersprachigkeit und Mehrsprachigkeitb) Wertschätzung und Wertschöpfung: Sprache als kulturelles Kapitalc) Sprache und Milieud) Monolinguale Grundorientierung und Leitkulture) Zur integrativen Wirkung der LiteraturEthik der Mehrsprachigkeit (Arvi Sepp)a) Ethik und Mehrsprachigkeitb) Alterität und Sprachreflexivitätc) Übersetzung und Ethik

 II. Sprachliche Rahmenbedingungen literarischer MehrsprachigkeitEbenen der Sprachstandardisierung (Heinz Sieburg)a) Standardsprache, Nationalsprache, Literaturspracheb) Dialekt, Soziolektc) Mündlichkeit/Schriftlichkeit›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca (Heinz Sieburg)LiteraturSprachkontakt: Pidgins und Kreolsprachen (Heinz Sieburg)LiteraturKünstliche Sprachen (Plansprachen/Welthilfssprachen) (Heinz Sieburg)LiteraturSpezialsprachen: Fachsprachen, Wissenschaftssprachen etc. (Heinz Sieburg)LiteraturSchriftsysteme, Sprachen, Mehrsprachigkeit (Monika Schmitz-Emans)LiteraturDurchsetzung von Sprachstandards (Helmut Glück)a) Begriffsbestimmungb) Kodifikation von Standardsc) Agenturen von SprachstandardsPragmatik der Mehrsprachigkeit (Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer)a) Pragmalinguistische Grundlagen: Von der Ein- zur Mehrsprachigkeitsforschungb) Linguistik der Mehrsprachigkeitc) Pragmatik der Mehrsprachigkeit in der Literaturd) Vermittlungsaspektee) Desiderate

 III. Basisverfahren literarischer MehrsprachigkeitSprachwechsel/Sprachmischung (Till Dembeck)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispielee) Offene ForschungsfragenMehrsprachigkeit in der Figurenrede (Till Dembeck)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispielee) Offene ForschungsfragenZitat und Anderssprachigkeit (Till Dembeck)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispielee) Offene ForschungsfragenMehrschriftlichkeit (Monika Schmitz-Emans)a) Beschreibung des Verfahrensb) Typologie und Analysebeispielec) Offene Forschungsfragen

 IV. Formen der ÜbersetzungSemantische Übersetzung (Henri Bloemen und Arvi Sepp)a) Beschreibung des Verfahrensb) Forschungsgeschichtec) Anwendungs-/Analysebeispield) Offene ForschungsfragenHomophone Übersetzung (Till Dembeck)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispielee) Offene Forschungsfragen

 V. Gattungs- und medienspezifische Verfahren literarischer MehrsprachigkeitVersform (Till Dembeck)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispielee) Offene ForschungsfragenDramatik/Theater (Claude D. Conter)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispiele) Offene ForschungsfragenErzählen (Rüdiger Zymner)a) Begriffeb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Offene ForschungsfragenLiedtexte (Anne Uhrmacher)a) Beschreibung des Verfahrens und Begriffsgeschichteb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispielee) Offene ForschungsfragenHörspiel/Hörbuch (Natalie Binczek)a) Beschreibung des Verfahrensb) Sachgeschichtec) Forschungsgeschichted) Anwendungs-/Analysebeispiele) Offene ForschungsfragenFilm (Claude Kremer)a) Gegenstandb) Grundproblematikc) Verfahrend) SchlussbemerkungenFernsehen (Rolf Parr)a) Gegenstandb) Grundproblematikc) Verfahren der Präsentation von Mehrsprachigkeit im Fernsehend) Rote Fäden

 VI. Anhang1. Institutionen mehrsprachiger Literatur und ihrer Erforschunga) Literaturpreis für mehrsprachige Literaturb) Forschung und Lehre (Verbände, Vereinigungen, Institute)c) Wissenschaftliche Zeitschriften und Buchreihen2. Auswahlbibliographie

  Nachspann Autorenverzeichnis Personenindex

Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung

Till Dembeck und Rolf Parr

a) Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung

In der internationalen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Mehrsprachigkeit in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Ein Stück weit schließen die Philologien damit an eine Entwicklung an, die in der Linguistik, vor allem in der Soziolinguistik, und in den Erziehungswissenschaften schon länger Fahrt aufgenommen hat und die vor allem aus dem Gebiet, in dem sich beide Disziplinen überschneiden, nämlich in der sog. Fremdsprachendidaktik (die aber teils nicht mehr so heißen will), nicht mehr wegzudenken ist. Mit Blick darauf ist unlängst bereits der unvermeidliche ›Turn‹ konstatiert worden.1Sugiharto, Setiono Von einem Mehrsprachigkeits-Turn zu sprechen wäre mit Blick auf die Philologien jedoch stark übertrieben: ›Literarische Mehrsprachigkeit‹ ist weit entfernt davon, als eigenes Forschungsgebiet neben den Nationalphilologien anerkannt zu werden.

Mit der wie auch immer zögerlichen Hinwendung zu Fragen der Mehrsprachigkeit reagieren die Literaturwissenschaften unter anderem auf eine Neuausrichtung, die auch andere Forschungsfelder der Disziplin betrifft: auf die Anreicherung philologischer Forschung um vormals der Linguistik vorbehaltene Beschreibungsmodelle und auf die Überschreitung nationalphilologischer Eingrenzungen. Die Literaturwissenschaften jenseits der Nationalphilologien haben das Paradigma der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ längst hinter sich gelassen und operieren mit Begriffen wie Inter- und Transkulturalität, Hybridität und anderen mehr. Demgegenüber ist der Einfluss der Linguistik auf die Literaturwissenschaften ungleich weniger gut sichtbar. Er artikuliert sich beispielsweise in einem vorsichtig erwachenden neuen Bewusstsein für die sprachliche Formanalyse (von Lyrik wie von Erzähltexten).

Alles in allem lassen sich mindestens drei gute Gründe dafür anführen, die erwachende Konjunktur literaturwissenschaftlicher Mehrsprachigkeitsforschung zu begrüßen: Erstens verspricht die Beschäftigung mit und die Analyse von Mehrsprachigkeit und insbesondere mehrsprachiger Literatur allen, die sich für Fragen der Inter- und Transkulturalität sowie der Migration interessieren, einen wichtigen Zugang zu Phänomenen sprachlicher, kultu­reller und auch sozialer Differenz. Zweitens kommen mehrsprachige literarische Texte dem neu erstarkten Interesse an der sprachlichen Struktur der literarischen Textualität entgegen. Damit stellen sie auch eine Herausforderung an die philologischen Arbeitsinstrumente dar, die sich zunehmend linguistischer Konzepte und Terminologien bedienen bzw. diese sogar adaptieren müssen, um ihren Gegenständen gerecht zu werden. Drittens schließlich bietet Mehrsprachigkeit die Möglichkeit, die Einschränkungen der nationalphilologischen Betrachtungsweise zu überwinden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um ›Weltliteratur‹ und die sich wandelnde Rolle der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ reizvoll.

 

Das Handbuch will allen drei Perspektiven auf den Gegenstand ›Mehrsprachige Literatur‹ gerecht werden und deren fachpolitische Konsequenzen ausloten. Neuere Diskussionen haben nämlich gezeigt, dass sich das Forschungsfeld ›Mehrsprachige Literatur‹ keineswegs über die Sammlung ihrer Gegenstände konstituieren lässt, denn dann findet sich kaum noch eine Möglichkeit zur Eingrenzung. Das liegt nicht nur daran, dass – welthistorisch betrachtet – keinesfalls Einsprachigkeit, sondern Mehrsprachigkeit den Normalfall menschlicher Kommunikation darstellt; hinzu kommt nämlich, dass es letztlich definitorisch kaum möglich ist, zu sagen, was ein einsprachiger Text eigentlich ist. Denn Spannungen und Interferenzen zwischen unterschiedlichen Sprachstandards (im Sinne von Polyphonie oder Heteroglossie) finden sich immer und überall, und es spricht vieles dafür, auch hier von Mehrsprachigkeit zu reden.

Von daher liegt es nahe, zu sagen, dass sich die Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit in erster Linie durch ihr spezifisches Interesse, durch ihre Fragerichtung und durch ihre Methodik auszeichnet, was nichts anderes bedeutet, als dass sie im Grunde eine neue disziplinäre Ausrichtung der Literaturwissenschaft mit sich bringt. Will man das damit entstehende Arbeitsfeld umreißen, muss man sich also in erster Linie der Methodik widmen, die seine Erschließung allererst möglich macht. Damit kommen die drei eingangs aufgezeigten Perspektiven ins Spiel, denn die Methodik einer literaturwissenschaftlichen Philologie der Mehrsprachigkeit hat einerseits das strukturelle Gefüge von Sprachdifferenzen im Text zu beschreiben, andererseits aber auch deren kulturpolitischen Einsatz.

b) Konzeption des Handbuchs

Aus diesen Vorüberlegungen leitet sich die Konzeption des Handbuchs ab: Geboten wird kein Überblick über den Gegenstand ›Mehrsprachige Literatur‹, sondern ein Überblick über die Voraussetzungen ihrer Analyse und über das Inventar an Verfahren, die für die Analyse zur Verfügung stehen. Das bedeutet unter anderem, dass ein Stück weit offengelassen wird, was Mehrsprachigkeit eigentlich ›ist‹. Relevanter erscheint demgegenüber die Frage, was auf welcher Grundlage als Mehrsprachigkeit oder sprachliche Vielfalt wahrgenommen wird. Aus linguistischer Perspektive ist es relativ unproblematisch, unterschiedliche Ebenen zu beschreiben, auf denen sich einzelne Idiome unterscheiden lassen – man kann dann etwa Dialekte, Soziolekte oder standardisierte Nationalsprachen voneinander abgrenzen. Von literarischer Mehrsprachigkeit kann man aber nicht nur dann sprechen, wenn sich in einem Text Segmente aus diversen derart voneinander unterschiedenen Idiomen finden, wenn also beispielsweise Deutsch und Französisch in dem Roman eines deutschen Nobelpreisträgers vorkommen oder wenn ein amerikanischer Romancier des 19. Jahrhunderts die unterschiedlichen Soziolekte der amerikanischen Bevölkerung abzubilden versucht.

Beobachten lassen sich darüber hinaus beispielsweise Formen von ›latenter‹ Mehrsprachigkeit – so etwa dann, wenn gesagt wird, eine Person spreche jetzt Spanisch, die Worte, in denen man diese Rede vor sich sieht, aber klar dem Englischen zugehören. Aber auch die Verwendung ›fremdsprachlicher‹ metrischer Muster, die ›wörtliche Übersetzung‹ anderssprachiger idiomatischer Wendungen, die Verwendung übersetzter anderssprachiger Zitate – um nur einige Beispiele zu nennen – sind unter dem Schlagwort literarischer Mehrsprachigkeit zu diskutieren. Schließlich ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit in der Literaturwissenschaft nicht nur durch Übernahme linguistischer Begrifflichkeiten und Verfahren behandelt werden kann und darf, sondern dass sich die Verbindung dieser Begrifflichkeiten und Verfahren mit genuin philologischen anrät. Denn auch im Grunde nur als rhetorisch zu beschreibende Textverfahren – beispielsweise die freiwillige Beschränkung der französischen Schriftsprache auf alle Buchstaben außer dem ›e‹ – erzeugen Effekte, die denen der Verwendung einer anderen Sprache nahekommen. Im Einzelfall – und für den sollte sich Philologie ja interessieren – muss man neben der Vielfalt linguistischer ›Codes‹ im literarischen Text auch zu beschreiben versuchen, welchen rhetorischen, stilistischen, diskursiven oder sonstigen Strategien ihre Anwendung, Mischung und Dekonstruktion gehorcht.

Eine solche Herangehensweise verspricht nicht zuletzt Aufschluss über die Frage, wie literarische Mehrsprachigkeit kulturell zu werten und zu beschreiben ist. Die in der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ geführte Debatte über ›Weltliteratur‹ steht dazu durchaus in Bezug. Einer der wichtigsten Punkte in dieser Debatte besteht in der Einschätzung des Stellenwerts von Übersetzung. Einerseits wird Weltliteratur als Netzwerk von Texten und Übersetzungen beschrieben, die weltweit migrieren. Weltliteratur erscheint dann als sprachgrenzüberschreitende Textbewegung. Andererseits beharrt man auf der Unübersetzbarkeit von Literatur, so dass die Weltliteratur gerade ihre intrinsische Inkommensurabilität ausmacht. Geht man methodisch von Mehrsprachigkeit aus, versucht man also, wie es hier vorgeschlagen wird, immer abzuschätzen, wie beliebige Texte mit sprachlicher Vielfalt umgehen oder zu ihr Stellung beziehen, so lassen sich Sprachgrenzüberschreitungen – glückende und scheiternde – auch in den einzelnen Texten feststellen. Weltliteratur lässt sich dann als Netzwerk nicht nur von Texten fassen, sondern auch von wie auch immer näher aussehenden mehrsprachigen Textverfahren. Insofern Sprachdifferenzen immer auch eine kulturelle Wertigkeit haben, gewinnt man durch dieses Vorgehen auch die Möglichkeit, eine Art kulturpolitische ›Agency‹ der literarischen Texte selbst zu analysieren: die Art und Weise, wie sie schon in ihrer sprachlichen Form, in ihrem Umgang mit Sprachdifferenz, kulturell und sozial wirken wollen.

c) Aufbau des Handbuchs

Der Aufbau des Handbuchs entspricht diesen methodischen Grundüberlegungen: Die ersten zwei Kapitel bieten einen Überblick über die im Weiteren vorausgesetzten grundlegenden Begrifflichkeiten und Hintergründe; die dem folgenden drei Kapitel widmen sich konkret den unterschiedlichen Verfahren des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt bzw. den Möglichkeiten ihrer Analyse. Gegenstand der ersten beiden Kapitel sind die sozialen bzw. kulturellen und die sprachlichen Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit: Es geht um unterschiedliche Varianten von Sprachdifferenz und Einsprachigkeit (wobei hier nicht nur Nationalsprachen in den Blick kommen, sondern alle Formen und Ebenen von Sprachstandards), um den Zusammenhang von Kultur und Sprache, um die Pragmatik der Mehrsprachigkeit und um die ethischen Fragen, die Sprachvielfalt aufwirft. Dabei werden zum einen die derzeit noch erheblichen konzeptionellen und terminologischen Differenzen zwischen linguistischen und philologischen Beschreibungen von Mehrsprachigkeit dargestellt; zum anderen wird versucht, auf dieser Grundlage eigenständige philologische Beschreibungsmodelle von Sprachdifferenz zu entwickeln.

Mit dem ersten Teil des Handbuchs wird ein Instrumentarium bereitgestellt, auf das die Kapitel III bis V dann Bezug nehmen. Dieser zweite Teil des Handbuchs widmet sich den Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit, wie sie Gegenstand der Analyse und Grundlage von Interpretationen sein können. In diesem Teil wird die eigentliche Syntheseleistung des Handbuchs erbracht, wird hier doch eine Metaperspektive auf das eröffnet, was die Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit schon seit einiger Zeit praktiziert, ohne dies bisher jedoch immer systematisch reflektiert zu haben. Behandelt werden zunächst die Basisverfahren der literarischen Mehrsprachigkeit (Kapitel III). Darunter verstehen wir alle diejenigen Verfahren, die dafür sorgen, dass Sprachdifferenzen aller Art in (literarischen) Texten in Erscheinung treten können. Dabei gehen wir davon aus, dass sich diese Verfahren medien- und gattungsunabhängig und natürlich auch außerhalb der Literatur finden lassen. Zu diesen Verfahren zählen erstens Sprachwechsel und Sprachmischung (III.1) – wobei der Unterschied zwischen Wechsel (Segmente in unterschiedlichen Sprachen wechseln sich ab) und Mischung (Strukturvorgaben unterschiedlicher Sprachen werden miteinander verschränkt oder eben vermischt) letztlich fließend ist. Zweitens wird Mehrsprachigkeit in der Figurenrede behandelt, also die Zuordnung von Sprechern zu einzelnen Sprachen (III.2). Dem ähneln Verfahren der anderssprachigen Zitation (III.3), denn auch hier werden unterschiedliche Sprachen auf unterschiedliche Quellen zurückgeführt. Ein bemerkenswertes Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit stellt schließlich die Mehrschriftlichkeit dar, also die Verwendung unterschiedlicher Arten von Schrift in ein und demselben Text. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Übersetzung (IV) – einem Verfahren, das zwar auch eine grundlegende Art und Weise des literarischen Umgangs mit Mehrsprachigkeit darstellt, das aber zumindest in seiner ›Normalvariante‹, der semantischen Übersetzung (IV.1), darauf aus ist, Sprachdifferenzen eher unsichtbar zu machen. Die homophone Übersetzung ist demgegenüber ein Verfahren, das Formen der Sprachmischung nahesteht, denn sie setzt sich zum Ziel, (auch) die klangliche Gestalt des Originals in der Übertragung beizubehalten (IV.2).

Das Kapitel V ist gattungs- bzw. medienspezifischen Verfahren gewidmet. Hierbei wird nicht die vollständige Abdeckung ›aller‹ literarischen Genres und Medien angestrebt. Vielmehr werden nur solche Gattungstraditionen und Medien behandelt, die spezifische Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit entwickelt haben; diese Gattungstraditionen und Medien werden zudem vor allem mit Blick auf diese spezifischen Verfahren betrachtet. Für die Versform (V.1) beispielsweise ist charakteristisch, dass versbauliche Formen über Sprachgrenzen hinweg verwendet werden können; für Dramatik (V.2), dass mit der Möglichkeit der Ergänzung des sprachlich vermittelten Geschehens durch die Mittel der Bühne gerechnet werden kann. Mit Blick auf das Erzählen (V.3) ist insbesondere die Selbstreflexion auf die Sprachigkeit des Erzählakts entscheidend. Hörspiel und Hörbuch bieten als literarische Gattungen (V.4) erstmals die Möglichkeit, fremde, ungewöhnliche oder einfach nur dialektale Sprachklänge analog zu reproduzieren. Im (Ton-)Film schließlich wird diese Möglichkeit kombiniert mit der Möglichkeit, Sprachdifferenz zu zeigen; durch Untertitelung und durch die Verwendung diegetisch eingebetteter Schriften (V.5). Diese Möglichkeiten bestehen im Fernsehen grundsätzlich auch, allerdings tritt hier als Besonderheit hinzu, dass in der Regel mehr noch mit einem ›einsprachigen‹ Publikum und dementsprechend einer ›Grundsprache‹ gerechnet wird, was zur Entwicklung spezifischer Formen der Mehrsprachigkeitssimulation in Fernsehformaten wie der Serie geführt hat (V.6).

Die Artikel der Kapitel III bis V sind jeweils ähnlich aufgebaut: An die Beschreibung des Verfahrens und Begriffsgeschichte (a) schließen sich ein Überblick über die Sachgeschichte (b) und die Forschungsgeschichte (c) an. In den Analysebeispielen (d) sollen die jeweils betrachteten Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit konkret vor Augen geführt werden; nicht zuletzt kann so auch die Leistungsfähigkeit einer ›Philologie der Mehrsprachigkeit‹ unter Beweis gestellt werden. Am Ende der Kapitel steht jeweils die Erörterung offener Forschungsfragen (e). Im Anschluss an die Artikel findet sich jeweils eine Bibliographie; Texte, die nicht zum einschlägigen Forschungsbestand zum Thema des Artikels zählen, aber dennoch nachgewiesen werden müssen, finden sich ebenso wie Referenzen auf literarische Beispieltexte in den Fußnoten. Die Gesamtbibliographie am Ende des Bandes umfasst einen Überblick über die derzeit wichtigsten Arbeiten des noch jungen Forschungsfeldes ›Mehrsprachige Literatur‹.

Das abschließende Kapitel VI bietet eine Zusammenstellung über aktuelle Institutionalisierungen literarischer Mehrsprachigkeit – in Gestalt von Forschungsschwerpunkten, Studienprogrammen, Literaturpreisen, Verlagsprogrammen etc. Dieses Kapitel sucht potentielle Anschlussstellen der im Handbuch betriebenen methodischen Theoriebildung an die wissenschaftliche Erschließung literarischer Mehrsprachigkeit in der Gegenwart und der mit ihnen verbundenen Kulturpolitiken zu markieren.