Der Televisionär

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Primär aber verstärkte der Aufenthalt in der britischen Kronkolonie Wolfgang Menges angelsächsisch geprägte Weltläufigkeit. Während seiner Auslandsjahre in den 1940er und 1950er Jahren erschuf sich der junge Autor in seinen Arbeits- und Schreibweisen wie auch als Person so britisch, wie er es als geborener Berliner und in Hamburg Aufgewachsener nur konnte.

Ende 1956 geschah dann dreierlei. Zum Ersten intensivierte sich der Briefwechsel, den Wolfgang Menge mit einer jungen Frau aufgenommen hatte. Marlies Lüder, aus dem Osten Berlins stammend, betreute in Hamburg die Mitgliederzeitung der Ölfirma Esso, fühlte sich in der Stadt jedoch unwohl und suchte einen Au-Pair-Job bei einer britischen Familie, zur Not auch in Hongkong. Zwar hatte man sie gewarnt, dass Wolfgang Menge »nicht sonderlich sympathisch«66 sei, doch nachdem ihr die Einreise in die USA verweigert worden war – »wegen Kommunismusverdacht«, da ihre Familie erst kurz zuvor aus der DDR nach Westdeutschland gezogen war –, musste sie jede Chance nutzen. Bevor er ihr helfen könne, schrieb Wolfgang Menge an Marlies Lüder zurück, müsse er erst einmal wissen, wie sie aussehe: »Ob ich hübsch sei, was er für sich nicht hoffe, oder hässlich, was er für mich nicht hoffe, oder irgendwas dazwischen, was das Praktischste wäre.«67

Zum Zweiten bat ihn die Chefredaktion der Welt, in Asien Reaktionen auf zwei bedrohliche Zeitgeschehnisse zu sammeln: den Volksaufstand in Ungarn und die Suezkrise in Ägypten. »Das hatte ich ganz knapp gemacht. Nur Zitate von Politikern und aus Zeitungen. Ausschließlich Dokumente, nichts von mir.«68 Als er Wochen später die Zeitung erhält, ist er der einzige Korrespondent, dessen Beitrag nicht erschienen ist. Auf Nachfrage erhält er vom stellvertretenden Chefredakteur die Antwort: »Sehr geehrter Herr Menge, ich weiß nicht, warum Sie sich wundern. Sie hätten sich vorstellen können, dass das keinen Platz hatte, denn all die darin vertretenen Ansichten waren denen der Chefredaktion diametral entgegengesetzt.«69 Menge erkannte: Nun, ein paar Jahre, nachdem Springer die Welt übernommen hatte, fing das ›Einmischen‹ ein. Politische Tendenz, d.h. Meinung wurde wichtiger als Fakten.

Zum Dritten aber erhielt der Fernost-Korrespondent nach mehreren Anläufen und als erster westdeutscher Journalist die Genehmigung zu einer Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn von Peking nach Moskau. Im Frühjahr 1957 trat er die 13 000 Kilometer lange Reise an. [Abb. 9] In vierzehn Tagen reiner Fahrzeit – unterbrochen von einem mehrtägigen Aufenthalt in Peking – führte sie ihn von Hongkong beziehungsweise Kanton über Peking und Moskau nach (Ost-) Berlin und schließlich Hamburg. Seine Erlebnisse in Rotchina und der UDSSR schilderte Wolfgang Menge in einer Serie von Einzelberichten.70


Am umfangreichsten und vollständigsten scheint die überlieferte Hörfunk-Fassung, die unter dem Titel Land des müden Lächelns ab dem 7. Mai 1957 an vier Abenden vom NDR gesendet wurde.71 Sie beweist Wolfgang Menge am unmittelbaren Ende seiner Karriere als Auslandskorrespondent als nicht nur ironischen Beobachter, sondern auch – in der ebenso geschickten wie komplizierten Verschränkung der Zeitebenen – als meisterhaften Erzähler. Der Bericht beginnt mit der Rückkehr, der Ankunft in Ostberlin, die den Reisenden als unerhörten Einzelnen inmitten kommunistischer Kollektive einführt. Rückblickend wird dann Spannung aufgebaut, indem Menge schildert, wie schwierig es für westliche Journalisten ist, nach China zu gelangen, und wie unzulänglich die meisten bisherigen Reiseberichte sind. Als er dann überraschend eine Einreisegenehmigung erhält, mag er es kaum glauben:

»China, das meistumstrittene Land der Welt sollte nun von mir angesehen werden, ich sollte es wirklich wahrnehmen und endlich wahrhaft empfinden. Würde es anders sein, als ich es mir nach tausend Erzählungen, Gesprächen, Büchern und Berichten vorstellte?«72

Erst jetzt erfolgt die szenische Schilderung des Reisebeginns, nur um gleich wieder unterbrochen zu werden von einem – durch einen tatsächlichen Blick zurück eingeleiteten – längeren Rückblick auf das vorherige Korrespondenten-Dasein in Hongkong. Vor dem Hintergrund des ›westlichen‹ Alltags in der britischen Kronkolonie zeichnet sich umso deutlicher die Andersheit des Lebens im ›östlichen‹, d.h. kommunistischen China ab; eine Andersheit, die laut Menge zwar mit dem Verlassen Hongkongs beginnt, aber erst weit jenseits der Landesgrenzen Rotchinas wieder enden wird: in Marienborn, dem bei Wolfsburg gelegenen Grenzübergang von Ost- nach Westdeutschland, also mit dem Ende des so genannten Eisernen Vorhangs: »Von Peking bis Pankow hat eine unheimliche Macht die Landschaft uniformiert.«73

Die Vielzahl der teils kritischen, teils amüsanten Einzelbeobachtungen, die Menge auf der langen Reise durch die ebenso fremde wie 1957 noch recht neue Welt des Kommunismus gelingen, reicht von der in Rotchina verbreiteten Vorliebe für Schweizer Armbanduhren als Statussymbol und den Usancen des Umgangs der chinesischen Zensur mit westlichen Korrespondenten über das Verhältnis der Chinesen zu ihren russischen ›Beratern‹ und sein eigenes Verhältnis zu seinem Dolmetscher, der des Deutschen weitgehend unkundig ist, bis zu dem für die damalige China-Berichterstattung klassischen Topos des Schmutzes. Ihn nimmt er zum Anlass, um seine Rolle als Journalist gegenüber den Hörern eindeutig zu definieren.

»Ich hätte den Schmutz gar nicht erwähnt. Aber es scheint mir angebracht, weil so oft das Gegenteil behauptet wird und ich mich herausgefordert fühle, die Dinge so zu beschreiben, wie ich sie angetroffen habe und nicht, wie man sie denn so gern hätte.«74

In dieser Betonung, eben kein Meinungsjournalist, sondern ein Reporter des Tatsächlichen zu sein, schwingt deutlich der Bezug zu dem Konflikt mit, der ihn allererst wieder nach Hamburg geführt hatte. Denn ursprünglich sollte und wollte Menge von Moskau aus wieder nach Hongkong zurückreisen. In der russischen Hauptstadt angekommen entschied er sich jedoch anders: »Ich hatte das Gefühl: Du fährst besser nach Hamburg und haust dem Chefredakteur eine auf die Nuss. Da war schon zu viel Ärger aufgestaut.«75


Als Menge im Februar 1957 an der Alster eintraf, kündigte er als erstes bei der Welt. Danach arbeitete er als freier Journalist, primär für die Wochenzeitung Die Zeit und den NDR. Vor allem aber traf er sich mit seiner Brieffreundin. Die Hochzeit von Marlies Lüder und Wolfgang Menge fand am 7. Juni 1957 im Harvestehuder Standesamt statt. [Abb. 10] Für die Zeremo­nie lieh sich der Bräutigam den Trauring: »Weil – wie er sagte – er nie so ein Ding tragen würde«, erinnert sich Marlies Menge.76 Zur Hochzeitsfeier schickte der befreundete Kabarettist Wolfgang Neuss einhundert rote Rosen. »Der Idiot weiß doch, dass wir morgen früh abreisen!«, schimpfte Menge.77

Nach den Flitterwochen zog das Paar in die Heide, nach Bensdorf. Doch als sich herausstellte, dass ihr im Februar 1958 geborener erster Sohn Moritz schwerbehindert war und in Spandau eine besonders fortschrittliche Behandlung für spastisch kranke Kinder existierte, siedelte die Familie 1961, wenige Monate vor dem Mauerbau, nach Westberlin über; zunächst nach Groß-Glienicke, 1964 dann nach Zehlendorf.78


Um diese Zeit beendete Wolfgang Menge seine Karriere als Journalist, der seinen Lebensunterhalt mit Beiträgen für Tages- oder Wochenzeitungen bestritt. Bis in seine letzten Lebensjahre sollte er zwar weiterhin non-fiktionale Text verfassen, doch nurmehr als Intermezzo und nebenbei. So pub­lizierte der begeisterte Koch – neben einer Vielzahl von Restaurantkritiken79 – als Spätfolge seiner asiatischen Erfahrungen in den sechziger Jahren chinesische Kochbücher, von denen vor allem das zweite ein Werk von literarischer Qualität war.80 1971 erschien nach einjähriger Recherche sein Sachbuch-Bestseller Der verkaufte Käufer, ein »Leitfaden durch die Tricks und Taktiken der Verkaufsstrategen«, der, wie der Spiegel schrieb, »aus dumpfen deutschen Verbrauchern kritische Konsumenten machen« sollte.81 Ebenso gab Menge in den achtziger und neunziger Jahren Sachbücher zu seinen historischen Fernsehspiele heraus.82 Der Schwerpunkt seines Schaffens jedoch verlagerte sich um 1960, nach seiner Rückkehr aus Ostasien und mit seinem Umzug nach Berlin, ins Fiktionale und in die audiovisuellen Medien. Denn wie er, der widerwillig erwachsen gewordene Familienvater, später immer wieder betonte: »Journalism is for boys.«83

5 Film I: Adaptationen, Ironisierungen, dokumentarische Perspektiven84

1959 wurde Wolfgang Menge 35 Jahre alt, während die Bundesrepublik, in der er nun wieder arbeitete, ihren zehnten Geburtstag feierte. Allmählich zeitigten Wirtschaftswunder und Demokratisierung kulturelle Konsequenzen. Die alte Garde derjenigen, die Weimarer Republik, NS-Zeit oder Exil als Erwachsene erfahren hatten und dann die Anfänge der Bundesrepublik dominierten, erlebte die Konkurrenz und Opposition der nachfolgenden Hitlerjungen-Generation. 1959 war in dieser Hinsicht das Annus mirabilis, das Jahr einer Wende, die nicht zuletzt zu einer kritischeren Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi-Zeit führte. Literarisch zeigte sich das mit Heinrich Bölls Billard um halb zehn, dem ersten Band von Uwe Johnsons Jahrestage-Romanen und Günter Grass’ Die Blechtrommel.85

Ähnliche Veränderungen kündigten sich im deutschen Film an. Erfolg hatte seit den frühen 1950er Jahren gehabt, was die Realität der zerbombten Städte und zerstörten Leben radikal verleugnete: Heimat-, Arzt- und Schlagerfilme. Nun geriet dieses Unterhaltungskino in eine doppelte Krise, bedroht zum einen durch den Aufstieg des Fernsehens und zum anderen durch eine wachsende Unzufriedenheit gerade des jüngeren Publikums mit diesen deutschen Produktionen. Zwischen Mitte und Ende des Jahrzehnts fiel die Zahl der jährlichen Kinobesuche von 800 auf 600 Mio.86Ökonomisch unter Druck gesetzt, reagierte die Branche einerseits mit Rückzug auf Bewährtes. Andererseits boten sich auf der Suche nach Marktlücken künstlerische Chancen. Werke wie Wir Wunderkinder, Hunde, wollt ihr ewig leben oder Die Brücke, die allesamt 1959 ins Kino kamen,87 standen formal unter dem Einfluss des italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague und stellten sich inhaltlich dem, was die Presse als ›jüngste Vergangenheit‹ zu umschreiben pflegte.

 

»Ich fand Die Brücke hervorragend«, erinnerte sich Wolfgang Menge einmal.88 Ende der fünfziger Jahre sah er zudem einen Film mit Sonja Ziemann: »Da wurde raffiniert gegengeschnitten. So etwas richtig Filmisches wollte ich unbedingt machen.«89 Die Gelegenheit, das erste Drehbuch für einen Kinofilm zu schreiben, ergab sich durch die Bekanntschaft mit dem Regisseur Harald Philipp. Es ging um die Adaptation des Konsalik-Beststellers Strafbataillon 999.90 »Ich habe die ersten zehn Seiten gelesen. Es war unerträglich! Dann habe ich einfach meinen eigenen Stoff gemacht.«91 Die Produktion war Teil einer Kriegsfilm-Welle, die mit der Wiederbewaffnung Deutschlands einsetzte, und sie war ziemlich schlecht.92 Doch der 1960 uraufgeführte Film zog weitere Aufträge nach sich, darunter die Adaptation eines anderen schlechten Romans: Der rote Kreis.93 »Der Wallace war auch furchtbar. Diese Romane – wenn du einen mal gelesen hattest, kanntest du sie alle ...«94 Menges Adaptation war nach einem Stummfilm aus dem Jahre 1929 die zweite Verfilmung der Roman-Vorlage und zugleich nach Der Frosch mit der Maske (1959) der zweite Edgar-Wallace-Film in einer langen Reihe der von Horst Wendlandt geleiteten Produktionsfirma Rialto-Film.95 Bis 1972 sollten über 30 weitere Adaptationen folgen. Das routinierte Genre-Stück, das Menge ablieferte, bewies, wie schnell er sich das branchenübliche Handwerk angeeignet hatte.


Schon mit dem nächsten Drehbuch, wiederum nach einem Wallace-Ro­man, demonstrierte er jedoch, wie gering sein Interesse war, Konfektionsware zu liefern. Bei Der grüne Bogenschütze96 passte nicht mehr der Autor sich dem Stoff und er den Stoff wiederum filmischen Konventionen an. Stattdessen verfuhr Wolfgang Menge nach eigenen Interessen und Vorlieben und dabei höchst selbstironisch. Das Drehbuch offenbarte ein deutliches Talent zum intelligenten Witz wie zu formaler Innovation. Die rasant geschriebene Handlung – inszeniert von Jürgen Roland mit Gert Fröbe, Karin Dor und Klausjürgen Wussow – spielte mit den Konventionen des Genres bis hin zur Zerstörung filmischer Illusion. Sie begann bereits bei der narrativen Klammer: Eddi Arent in der Rolle des Reporters durchbricht die vierte Wand, indem er sich ein- und ausleitend direkt ans Publikum wendet. Die Dekonstruktion filmischer Konventionen setzt sich in einer Reihe von Frotzeleien fort, die immer wieder den Spielcharakter der Handlung in Erinnerung rufen. So kommentiert Eddi Arent, als in einer Dialogszene im OFF unmotiviert Schüsse fallen, mit Blick aus dem Fenster: »Da wird nur der nächste Wallace-Film gedreht.«

Was heute postmodern wirkt, verstörte damals Teile des Publikums wie der Kritik. Auch dem deutschen Fernsehen der sechziger Jahre war derlei Unernst für massenhafte Abendunterhaltung zu gewagt: Lange Zeit wurde der Kinofilm nur stark geschnitten ausgestrahlt. Ivo Ritzer bezeichnet denn auch beide Wallace-Adaptationen, zu denen Wolfgang Menge das Drehbuch beisteuerte, als »paradigmatische Filme eines postklassischen Kinos«, die »ihr Publikum auf den Prüfstand stellen«, da sie »durch den Bruch mit Konventionen narrative Komplexität zum primären Telos des Erzählens« machen.97 Dies trifft um ein Vielfaches mehr als auf Der Rote Kreis auf Der grüne Bogenschütze zu.

Unter biografischer Perspektive fällt zudem Wolfgang Menges selbstiro­ni­sches Spiel mit der eigenen Britishness ins Auge. Beide Adaptationen – gedreht in Kopenhagen beziehungsweise bei Hamburg – spielen in einem fiktiv-zeitlosen Großbritannien und unter Engländern, bei denen es sich um bekannte deutsche Schauspieler in sichtlich karikierenden Varianten britischer Garderobe handelt. Die einschlägigen und deutlich aus stock footage eingeschnittenen Erkennungszeichen typisch britischer Urbanität und Ruralität mischen sich mit deutschsprachiger Schrift an Läden und Türen. »Beide Filme scheinen situiert in einer Form von Paralleluniversum, das sich aus stilistischen Idiosynkrasien und generischen Versatzstücken konstituiert«, schreibt Ivo Ritzer.98 Was für die – von ihren Machern zugleich unter- und überzeichnete – Welt der beiden Filme gilt, betraf auch ihren Drehbuchautor und seine in jedem Sinne selbstbewusste Inszenierung der eigenen Person:

»An die Stelle einer ›authentischen‹ Signifikation von nationaler Identität tritt folglich eine Hybridisierung der sowohl deutschen wie britischen Referenten, durch die jegliche Stabilität der Zeichen desavouiert wird. [...] Die reziproke Durchdringung des ›Britischen‹ und des ›Deutschen‹ macht eine klare Separation von Fremdem und Eigenem unmöglich.«99

Der grüne Bogenschütze wie zeitgleich die Arbeit an den Adrian und Alexander-Hörfunksendungen gaben Wolfgang Menge Gelegenheit, seiner unerfüllten Liebe für das Kabarett zu frönen. Doch als Drehbuchautor strebte er inzwischen nach anderem, nach mehr. Die Skripte der Wallace-Adaptationen blieben ihm zu sehr der lebensfernen Künstlichkeit und den anspruchslosen Klischees des Genres verhaftet. Diese Sorte von ›Kassenschlagern‹ zu schreiben, langweilte ihn. Menge entschloss sich, mehr ›Leben‹ und neue Formen in die halbtote Traumwelt des deutschsprachigen Kommerzkinos zu bringen – tatsächliche Mordfälle, wirkliche Menschen und überraschende Erzählweisen. Von der satirischen Dekonstruktion des Unterhaltungskinos schritt er so fort zu dessen Innovation durch das, was er in anderthalb Jahrzehnten als journalistischer Autor gelernt hatte: Faktenrecherche und deren narrative Aufbereitung. Für sein nächstes Drehbuch verarbeitete er einen Mordfall, »der im Wien der 1940er Jahre als ›Badewannenmord‹ Furore gemacht hatte: Eine Fabrikantin wird ermordet, und sowohl ihr Geliebter als auch ein geheimnisvoller Geschäftsmann geraten in Verdacht.«100

Den Spielfilm Mann im Schatten101 schrieb Wolfgang Menge für seinen Freund Helmut Qualtinger. »Er galt bis dahin nur als Kabarettist. Und in Deutschland kannte ihn keine Sau.«102 Noch eine zweite schauspielerische Entdeckung gelang Menge für diesen Film:

»Ich habe in München damals einen jungen Schauspieler kennen gelernt, den wollten sie hier nicht. Der hat mir erzählt, wie er in Österreich einen Opernskandal gemacht hatte. Kurz vor der Premiere war seine große Liebe zerbrochen und er hat sich besoffen und während der Aufführung dann die Partien des Bassisten laut mitgesungen. Die sind immer hinter ihm hergelaufen und haben ihn nicht erwischt. Das fand ich eine so schöne Geschichte, dass ich ihn in dem Film haben wollte. Das war Helmut Lohner.«103


Der Film beeindruckt in der Tat durch Lohners und vor allem Qualtingers schauspielerische Leistungen. Von besonderer Qualität sind die geschliffenen, mal witzigen, mal bitteren Dialoge. So flucht eine unbegabte Hilfskraft recht hochdeutsch »Verdammte Scheiße!«, und der vorgesetzte Kommissar Qualtinger antwortet in breitem Wienerisch: »Mir ist bekannt, dass Sie den letzten Krieg bei der Wehrmacht verbracht haben. Aber deshalb brauchen Sie einen Menschen wie mich nicht daran zu erinnern.« Ebenso fragt der deutsche Kommissar aus Düsseldorf den ermittelnden Wiener Kollegen: »Haben Sie einen Anhaltspunkt? Eine Richtung, in die wir vorwärts marschieren können?« Qualtinger reagiert gelassen-herablassend: »Wir marschieren nicht mehr, und vorwärts schon gar nicht.« Das klang damals böser noch als heute – zumal in einem Film, dessen routinierter Regisseur Arthur Maria Rabenalt einst für Leni Riefenstahl gearbeitet und Nazi-Propagandafilme wie Achtung! Feind hört mit inszeniert hatte.104

Dafür aber, dass Mann im Schatten bis heute fesselt, sorgt noch zweierlei. Zum Ersten seine genau recherchierte Milieuschilderung. Bei aller Exotik der Details vermittelt sie ein Bild zeitgenössischen Wiener Lebens. Und zum Zweiten die fantasiereiche, zugleich dokumentarisch-exakte Erzählweise. Auf den ersten Blick operiert Menge zwar mit einer für das Film-Noir-Genre typischen Konstruktion, indem er mit dem Schluss beginnt und die Handlung als fait accompli schildert: Ein Mann hetzt durch die nächtliche Stadt und gesteht schließlich einem Arbeitskollegen, dass er einen Mord begangen habe. Was geschehen sei, wird nun in Rückblende erzählt – bis man am Ende wieder bei der Hetzjagd anlangt und erkennt, dass die Bilder des Anfangs etwas ganz anderes bedeuten. So radikal dieser narrative Rahmen konstruiert ist, so sehr zielt die Haupthandlung auf Realismus. Tag für Tag, Stunde für Stunde wird das Verbrechen nachgezeichnet, wobei eingeblendete Zeitungsschlagzeilen, die zum Beispiel Gagarins ersten Raumflug am 12. April 1961 verkünden, den Fortgang strukturieren und Authentizität wie Aktualität der dokumentarisch inszenierten Haupthandlung verbürgen.

Diese charakteristische Doppelbegabung Wolfgang Menges, als Autor sowohl ein genauer Rechercheur wie auch ein fantasiereicher und spannender Erzähler zu sein, führte schließlich zu dem Kinodrehbuch, das er für sein bestes hielt: Polizeirevier Davidswache.105

»Im Hinterkopf hatte ich eine wirkliche Geschichte eines Polizisten, der ermordet wird. Und dann habe ich sechs Wochen in der Davidswache herumgehangen. Und in allen Kneipen um die Ecke. Jede Nacht. Es liegt ja alles auf der Hand, wenn du dich mit den Leuten unterhältst.«106


Bis zu seinem Tode besaß er noch das Notizbuch, in dem er damals Dialogfetzen, Szenen, Anekdoten, Schicksale aufgeschrieben hatte. »Und aus all dem Kleinkram, den vielen kleinen Geschichten, habe ich dann die Handlung gewebt.« Mit Polizeirevier Davidswache realisierte Menge im ihm vertrauten Hamburger Milieu das, wonach er all die Jahre gestrebt hatte: ein authentisches Kinodrehbuch, tatsachengetreu, wirklichkeitsnah und narrativ abgestützt durch eine spannende, formal originelle Aufarbeitung des recherchierten Materials. »Der mit Berufsschauspielern und Reeperbahn-Professionellen besetzte Film hat, was deutschen Lichtspielen meistens fehlt: Tempo und echtes Milieu«, lobte Der Spiegel.107

6 Film II: Autorschaft im Film, Abschied

Der künstlerische wie kommerzielle Erfolg von Polizeirevier Davidswache bedeutete den Höhepunkt von Wolfgang Menges Karriere im deutschen Film – und zugleich den Anfang von ihrem Ende. Vier Faktoren trugen dazu bei: künstlerische, produktionelle, ökonomische und ästhetische.

Zum Ersten hielt Menge selbst das Genre kriminalistischer Tatsachenberichte für künstlerisch erschöpft. Die Anstrengung, den penibel recherchierten Inhalten innovativen Ausdruck zu geben, sollte ihn daher bald das Korsett des Erzählfilms zumindest vorübergehend abstreifen lassen, um die – inhaltlich nun auch komplexeren Geschichten – mosaikhaft in experimentell-simulativen Formen wie TV-Magazin oder TV-Show zu erzählen.108

Zum Zweiten kam es über Polizeirevier Davidswache zum Zerwürfnis mit Regisseur Jürgen Roland, Menges langjährigem ›partner in crime‹. Anlass war der filmtypische Streit um die Frage, wer Haupturheber des kollaborativ hergestellten Werks sei.

»Jürgen sagte: ›Das ist doch blöd mit diesen vielen Namensnennungen im Vorspann. Wir machen mal einen Anfang ohne Titel.‹ Ich habe zugestimmt. Dann wurde der Film präsentiert, und gleich am Anfang stand: ›Ein Film von Jürgen Roland.‹ Das fand ich unglaublich.«109

Dieser Missachtung, die Drehbuchautoren beim kommerziellen Film erfuhren und mehr oder weniger bis heute erfahren, kontrastierte damals deutlich ihre Hochschätzung beim aufstrebenden neuen Medium Fernsehen.

 

Dass aber nach Drehbüchern zu sieben erfolgreichen Spielfilmen, die Menge binnen fünf Jahren geschrieben hatte, im folgenden Vierteljahrhundert lediglich noch drei weitere Kinofilme nach seinen Vorlagen entstehen sollten,110 lag zum dritten an der eskalierenden ökonomischen Krise. Der Verkauf von Kinokarten war von über 600 Millionen im Jahre 1959 auf unter 300 Millionen im Jahre 1965 geschrumpft; 1975 sollten es nur noch knapp über 100 Millionen sein.111 »Diese Filmproduzenten, wenn du die Jungs gesehen hast, denen glaubtest du nicht, dass sie die Mark in der Tasche hatten – und haben sie ja auch nicht immer gehabt.«112

Zum Vierten entsprach dem ökonomischen Niedergang des deutschen Kinos ein künstlerischer. Die deutsche Filmproduktion dominierten Mitte der sechziger Jahre neben Edgar-Wallace- vor allem Karl-May- und Sexfilme. Wer wie Wolfgang Menge als audiovisueller Erzähler zugleich künstlerisch und kommerziell erfolgreich arbeiten wollte, dem kam in den sechziger Jahren gewissermaßen das Medium Film abhanden.


Hoffnung versprach für kurze Zeit eine Revolte der deutschen Jungfilmer. »Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen«, hieß es 1962 im Oberhausener Manifest.113 Im Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen der sechziger Jahre schien dem so genannten Neuen Deutschen Film, da er sich im Gegensatz zum etablierten Kino der Altproduzenten der Themen der Gegenwart annehmen wollte, die Zukunft zu gehören. Den Versuch, sich mit ihm anzufreunden, unternahm Wolfgang Menge, indem er das Drehbuch für Peter Zadeks Ich bin ein Elefant, Madame114 schrieb, ein experimentelles Werk über die Genese und das Milieu der Jugendrevolte, inszeniert mit einer Bremer Abiturklasse.

»Zadek benutzte meine Dialoge zu 100 Prozent. Aber mit anderen Leuten. Was für eine Lehrerin gewesen war, mussten Männer hersagen. Das war ihm ganz egal. Er hat sich nicht für die Figuren interessiert [...] Aber es war lustig.«115


Der Film, »ein komödiantischer Pop-Essay und ein wahrhaft anarchistisches Feuerwerk über das verkrustete deutsche Schulsystem«,116 wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Silbernen Bären der Berlinale und dem Bundesfilmpreis.

Doch dem Drehbuchautor, im Schnitt ein Jahrzehnt älter als die nun tonangebenden jungen Filmemacher, blieb deren Welt prinzipiell fremd. Weder lag ihm ihre elitäre Publikumsferne noch ihre Regie-Zentrierung, die sie unter dem Banner des Autorenfilms propagierten. Ende der sechziger Jahre nahm er vom Kinofilm Abschied – nach einer Reihe von Kassenschlagern und Kinoexperimenten, mit denen er das bundesdeutsche Kino ein Jahrzehnt lang mitgeprägt hatte: »Der Film war nicht mehr interessant. Es war jedenfalls nichts mehr dabei, das mich interessiert hätte.«117

Erheblich verlockender war das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Es erlaubte, was im Kino nicht mehr möglich war: populäres Geschichtenerzählen, die typische Menge-Mischung aus Fakten und Fiktionen, Kritik und Witz, Erkenntnis und Spannung, Realismus und Satire, Authentizität und Aufklärung. Menges ebenso steile wie kurze Kinokarriere – von den Anfängen um 1960 bis zur Abkehr vom Film um 1970 – dokumentiert so auch eine medienhistorische Wende: den Niedergang des bundesdeutschen Nachkriegskinos. Der Verlust des Films war dabei des Fernsehens Gewinn.

1 Vgl. Webb, Richard C.: Tele-Visionaries: The People Behind the Invention of Television, Hoboken, N.J.: Wiley-Interscience 2005, S. 1-46.

2 Constantin Perskyi verwendete den Ausdruck in einem Forschungspapier, das er bei einem Kongress zur Elektrizität in Paris präsentierte. Vgl. dazu auch: »Before it became known as television, it was called telephotography, telescopy or teleautography.« Winston, Brian: Media Technology and Society: A History From the Telegraph to the Internet, London; New York: Routledge 1998, S. 94.

3 Magoun, Alexander B.: Television: The Life Story of a Technology, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2009, loc. 69. Vgl. ebenso: »By one count, inventors made eighteen new proposals for television systems in the first decade of the twentieth century.« Ebd., loc 253.

4 Ebd., loc. 149ff.

5 Ebd., loc. 178ff.

6 Ebd., loc. 651.

7 Diese Sichtweise verdanke ich Barbara Naumanns Vortrag »Überdachte Literaturwissenschaft und institutionelle Phantasie. Gedenkrede auf Eberhard Lämmert«, gehalten am 3. Mai 2016 in der Freien Universität Berlin.

8 A. B. Magoun: Television, loc. 564. Realiter sollten freilich noch über zwei Jahrzehnte vergehen, bis das Fernsehen vom technischen und sozialen Experiment zum Massenmedium werden konnte.

9 Alle biografischen Angaben stützen sich, wenn nicht anders nachgewiesen, auf persönliche Gespräche, die ich zwischen 1987 und 2012 mit Wolfgang Menge geführt habe, sowie auf Angaben von Menges Ehefrau Marlies Menge.

10 In Hamburg wurden Wolfgang Menges jüngere Geschwister geboren, Marianne und Werner. Beide starben früh an den Folgen von Krankheiten.

11 Menge, Marlies: E-Mail an den Vf., 29. Februar 2016.

12 Menge, Wolfgang: interviewt von Gundolf S. Freyermuth, Sylt, 21. Juni 1987. Vgl. auch: »Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass es nicht allein mit mir was zu tun hat, sondern dass, wenn Sie so wollen, mit eine höhere Gewalt zuständig war dafür. Ich habe das immer ganz persönlich genommen.« (Ebd.)

13 Ebd.

14 Freyermuth, Gundolf S.: »Im Dritten Reich der Erinnerungen (Über den Fernsehfilm Reichshauptstadt privat)«, in: Stern TV-Magazin 44/1987, S. 4-9, hier S. 7.

15 Hering, Sabine: »›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹ Erinnerungen an Wolfgang Menge und die Wirren des Kriegsendes und der Nachkriegszeit«, in diesem Band S. 412-421.

16 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987. – Stefan Zweigs Erinnerungen erschienen 1942 in dem Exilverlag Bermann-Fischer in Stockholm. – Vgl. auch Naumann, Barbara: »Wolfgang Menge - in seinen Büchern«, in diesem Band S. 219-242, hier S. 226.

17 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987.

18 Gaus, Günther: »›Hauptsache, ich bin nicht zu Hause‹ (2004) Gespräch mit Wolfgang Menge«, in diesem Band S. 660-681, hier S. 664.

19 S. Hering: »›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹«, S. 414.

20 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987.

21 G. Gaus: »›Hauptsache, ich bin nicht zu Hause‹«, S. 664.

22 S. Hering: »›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹«, S. 414.

23 G. Gaus: »›Hauptsache, ich bin nicht zu Hause‹«, S. 665.

24 S. Hering: »›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹«, S. 415.

25 Vgl. ebd.

26 Kastan, Klaus: »Wolfgang Menge im Gespräch«, in: Bayerische Rundfunk: alpha-Forum 2001, http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-forum/wolfgang-menge-gespraech100.html

27 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987. – Diese Erfahrung verarbeitete Wolfgang Menge in Reichshauptstadt privat: Als Kurt in Annas Tagebuch die Geschichte ihrer Liebe gelesen hat, wundert er sich: »Ist alles ganz fremd! Als ob ich mit dem allen nichts zu tun gehabt hätte.« Und Anna sagt: »Aber du hattest.« Vgl. G. S. Freyermuth: »Im Dritten Reich der Erinnerungen«, S. 9.

28 Vgl. http://www.ard.de/home/intern/fakten/abc-der-ard/Nordwestdeutscher_Rundfunk_NWDR_/452630/index.html

29 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987.

30 Ebd.

31 Vgl. die im zeitlichen Ablauf und auch im Scheitern des Projekts leicht unterschiedliche Darstellung bei S. Hering: »›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹«, S. 418.

32 Freyermuth, Gundolf S.: »Verdammte Pflicht und Schrulligkeit«, in: Stern TV-Magazin, 6. August 1987, S. S. 4-9. In diesem Band S. 590-603, hier S. 599.

33 Vgl. N.N.: »History of Wilton Park«, https://www.wiltonpark.org.uk/wp-content/uploads/History-of-WP.pdf

34 Hirschinger, Frank: »Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter«: Kommunistische Par­­tei­säuberungen in Sachsen-Anhalt 1918-1953, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 189.

35 N.N.: »History of Wilton Park«.

36 Vgl.: »Between 1946 and 1948 more than 4,000 Germans took part in the programme, many of whom later moved to influential positions in Germany and abroad.« (Lee, Sabine: Victory in Europe?: Britain and Germany since 1945, Harlow, England; New York: Longman 2001, S. 18.)