Fluchtpunkt Mogadischu

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Fluchtpunkt Mogadischu
Font:Smaller АаLarger Aa

Inhaltsverzeichnis

1. Kaperung 3

2. Neuanfang 91

3. Kontakt unerwünscht 104

4. Unter Profis 138

5. Abenteuer 206

6. Auf dünnem Eis 266

7. Diplomat mit heißer Ware 287

8. Weiche Waffen gegen Karsai 384

9. Kanalarbeiten 394

10. In Widersprüchen 444

11. In der Falle 483

12. Nachspiel 558

1. Kaperung

Tran, der immer gut gelaunte Philipino, machte die beiden Boote als erster aus. Er wies mit ausgestreckter Hand in den leichten Dunst, der allseitig das Schiff umgab, streifte den Mundschutz ab und legte Farbeimer und Spritzpistole auf das Podest der Leiter. Er rief erst seinen Landsleuten ein paar Worte zu, danach auch Gerd und Luc. Luc Haanen arbeitete als Berufsanfänger in der Zentrale eines Versicherungskonzerns in Brüssel, Gerd Stellring war Student im höheren Semester an einer Universität in Deutschland. Stellring hatte sonst nie über sein Sehvermögen klagen müssen, aber er erkannte nichts. Das dampfende Meer verschwamm nicht weit vom Schiff entfernt mit einem Himmel, der nur in einem kleinen Ausschnitt direkt über dem Kopf blau erschien. Jenseits davon verlor die Farbe sich in unbestimmtes Grau. Wenn er den Blick nur wenig senkte, blickte er in trübe Schleier. Eine klare Linie als Horizont hatte sich seit der Abfahrt in Deira nicht gezeigt.

Sie waren schon zwei Tage auf einem Meer ohne jede Abwechslung unterwegs. Kein Fahrtwind machte sich bemerkbar, die Luft auf dem Schiff bot keinen Widerstand, so als bestehe sie aus weicher Watte. Die langsame Fahrt der “Stolzenfels” in Richtung Nord hob die Wirkung einer leichten Brise in gleicher Richtung auf. Kein Flugzeuge am Himmel, auch keine anderen Schiffe, weder auf parallelem noch auf Gegenkurs! Stellring nahm an, der Kapitän hatte aus Sorge vor unerwünschten Begegnungen einen von der direkten Route abweichenden Weg gewählt.

Hatte Tran doch endlich noch ein anderes Schiff gesehen? Auf der Brücke war anscheinend auch Jakob aufmerksam geworden, ein Kotzbrocken in der Funktion als Steuermann. Er war mit seinem Fernglas seitlich ans Geländer getreten und richtete es in die Richtung, die Tran gewiesen hatte. Auf die Entfernung für Stellring gerade noch erkennbar, schüttelte Jacob den kahlen Kopf. Vermutlich stieß er anlaßlos gewohnt unfreundliche Kommentare aus. Kurze Zeit darauf trat er durch die Tür wieder zurück zu seinen Gerätschaften hinter der Verglasung. Gerd Stellring ging ein paar Schritte in Richtung Vorderschiff. Er reckte den Hals und konnte sehen, der Mann sprach in ein Mikrophon. Über Bordlautsprecher plärrte als Durchsage an den Kapitän die Bitte um dringendes Erscheinen auf der Brücke.

Auch Stellrings Freund Luc hatte draußen jetzt etwas ausgemacht. Ein dunkler Punkt in einiger Entfernung, mehr könne er nicht erkennen. Falls das ein Schiff sei, wäre es noch weit entfernt, wenn nicht das, dann mit Sicherheit ein ziemlich kleines Boot für die Fahrt auf offener See. Tran hatte noch ein paar Worte mit seinen Landsleuten Noel und Joe gesprochen, jetzt wandte er sich wieder an die Europäer. Wenn Piraten mit einem Boot im Anmarsch seien, gehe die gemeinsame Reise vorzeitig zu Ende. Er könne nicht genau erkennen, ob zwei Boote sich näherten oder nur eines. Am Ende noch ein Abenteuer? Stellring sah Luc, den Freund aus Belgiens Hauptstadt fragend an. Natürlich hatten sie beide von Überfällen somalischer Piraten schon gehört. Sie waren auf dem Weg von einer längeren Tour quer durch Ostafrika zurück nach Hause. Nach dem Abschluß der Reise mit einem womöglich gefährlichen Abenteuer zur See stand ihnen nicht der Sinn. Angst hatte der Phlipino anscheinend nicht. Was er über Piraten in dieser Gegend wisse? Er fahre diese Strecke doch nicht zum ersten Mal. Tran gab nicht ohne Anzeichen von bescheidenem Stolz Kenntnisse dieser Gefahren preis. Er wisse Einiges aus Gesprächen mit Leuten, die selbst unangenehme Erfahrungen gesammelt hatten. Wenn man sich vernünftig verhalte, sei die Gefahr allerdings gering. Man liege maximal ein paar Wochen irgendwo in Küstennähe auf Reede bis Lösegeld geflossen sei. Die Reedereien hätten für solche Fälle ihre Versicherung. Dann werde die Fahrt fortgesetzt. Wenn ein Reeder Anstand zeige, werde die Besatzung für die Zeit der Gefangenschaft sogar bezahlt.

Wenn Tran und seine Landsleute nur mäßig beunruhigt waren, bestätigte sich, was Luc und sein Freund Stellring aus Berichten in den Medien wußten. Man erfuhr regelmäßig von Schiffsentführungen am Horn von Afrika, aber über Verluste an Menschenleben hörte man in aller Regel nichts. Die UNO hatte eine Flotte von Schutzschiffen unter dem Bezeichnung Atalanta eingesetzt. Das überwachte Seegebiet war groß, die Zahl der Schiffe wahrscheinlich nicht. Daß eines in der Nähe operierte, war nicht ausgeschlossen aber unwahrscheinlich. Stellring erkannte jetzt selbst den dunklen Fleck im Dunst. Noch war kein Geräusch zu hören. Der Lärm aus dem Motorenraum der MS “Stolzenfels” hätte auch ein noch weit entferntes Motorboot, wenn es denn eines war, leicht übertönt. Luc sah anscheinend schon mehr als nur den unbestimmten dunklen Gegenstand. Er sagte mit belegter Stimme:

“Mein lieber Gerd, du hast Dich beklagt, wir hätten bisher zu wenig Ungewöhnliches erlebt auf unserer Fahrt. Dein Wunsch wurde erhört, jetzt kurz vor Schluß kannst Du Dein Abenteuer haben.” Was vorher nur schemenhaft erschienen war, kam auf Sichtweite heran. Nicht ein einziges sondern zwei Boote näherten sich, ihrem Tempo nach geurteilt, stark motorisiert. Beide nicht größer als geschätzt zehn Meter lang, zweieinhalb Meter breit und ohne Sonnendach. Im Heck jeweils ein kleiner Steuerstand. Die Boote bestanden dem Anschein nach aus Holz. Stellring war Laie auf nautischem Gebiet. Er nahm an, solche Seefahrzeuge waren kaum geeignet für weite Fahrten aufs offene Meer. Der Steuermann Jacob hatte sie bei Abfahrt aus Beira in Mozambique informiert, das Schiff liefe seinen Nordkurs ziemlich weit abseits der Küste. Diese Boote würden trotz ihrer Schnelligkeit ziemlich lange brauchen bis zurück an Land.

Auf dem Boot, das am nächsten herangekommen war, hielten sich ein Mann am Steuer und und drei weitere Personen auf, Afrikaner ließ sich jetzt erkennen, Wie Schiffbrüchigen sahen sie nicht aus. Für ein Rettungsboot war das Fahrzeug auch zu stark motorisiert. Auf Stellring machte die Besatzung nicht den Eindruck von Piraten. Das zweite etwas kürzere Boot hatte in kleinem Abstand parallelen Kurs gehalten und drehte jetzt seitlich ab. “Sieben Mann insgesamt”, sagte Luc, seine Stimme klang belegt, “Wir sind hier acht.”

Sollten die Brüder uns unfreundliche gesinnt seien, würden sie längst irgendwelche Waffen schwenken, dachte Stellring. Nicht dergleichen geschah. Die vier winkten nicht unfreundlich zur Brücke hoch. Der Größte, das Steuerrad am Heck in einer Hand , machte mit der flach ausgestreckten anderen eine Bewegungen als tätschele er ein Pferd. Mit lauter Stimme schrie er ein paar Sätze zum Schiff herüber. Als keine Antwort kam, besann er sich und griff zu einem Megaphon. Keiner hatte vorher ein Wort verstanden, der Lärm von Boot und Schiff hatte die Stimme übertönt.

Luc sah seinen Freund mit hochgezogenen Augenbrauen an und Stellring verzog das Gesicht zu einer unsicheren Grimasse. Sie deuteten den Vorgang beide gleich: Der Brücke wurde die Aufforderung zum Stoppen angezeigt. Man befand sich auf hoher See und solle besser von Beidrehen sprechen, dachte Stellring. In einer ungewöhnlichen Situation ging ihm auch dieses mal wieder Überflüssiges durch den Sinn. Kein zweifel, die Bootsbesatzungen wollten an Bord. Ließ Hansen, der Kapitän, sich auf die Bitte ein? Das dumpfe Stampfen der Schiffsmaschine, das seit dem Auslaufen aus dem Hafen in Mozambique gleich geblieben war, hatte sich geändert. Die Tonlage war jetzt heller als vorher, auch die Vibration an Deck hatte sich verstärkt. Hansen ließ sich auf den Besuch auf hoher See nicht ein, er hatte anscheinend die Maschine auf Höchstleistung gestellt und fuhr mit voller Kraft voraus. Der Abstand zu den Booten verringerte sich dadurch nicht, ganz im Gegenteil. Das seitlich ausgescherte kleinere Boot zeigte ein schneidiges Manöver. Auch hier ein Motorenton ähnlich einer Sirene: der Außenborder am Ende einer überlanger Schraubenwelle hob es zu drei Vierteln seiner Länge aus dem Wasser. Mit weiß schäumender Heckwelle jagte es längs an der„Stolzenfels“ vorbei. Es verließ kurz das Blickfeld der Anstrichtruppe an Bord der „Stolzenfels”und tauchte auf der rechten Schiffsseite wieder auf. Stellring registrierte die Erinnerung, an Steuerbord hieß das korrekt ausgedrückt auf See. Waghalsig knapp hatte das Boot vor dem Schiffsbug die Fahrlinie der “Stolzenfels ” gekreuzt. Der Abstand mußte halsbrecherisch klein gewesen, das Manöver einem Seemann waghalsig wenn nicht verrückt erschienen sein. Hansen und Jacob auf der Brücke mochten befürchtet haben, sie hätten das Boot gerammt, sagte er laut. Nicht befürchtet, eher gehofft, kommentierte Luc.

 

Vielleicht stand die Mutprobe als Zeichen für die Entschlossenheit, kampflos abweisen lasse man sich nicht. Stellring entdeckte bei der Vorbeifahrt im offenen Boot Gegenstände, die ihm die Annahme nahe legten. Trans Einschätzung war offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen. Schießzeug hatte sich an Bord erkennen lassen, das die Jagdgewehre der Safari in Tansania aussehen ließ wie Spielzeug. Sie hatten, damals noch zu viert, gemeinsam Ranger auf dem Streifzug durch sein Reservat begleitet ehe die Mädchen vorab zum Rückflug aufgebrochen waren. Wenn Luc sich nicht getäuscht habe, sei auch aufgerollt eine Strickleiter im Boot gewesen. Stellring hatte keine Strickleiter gesehen, aber war sich mit Luc einig: anders als vorhin hatten die drei im zweiten Boot nicht den Eindruck neugieriger Fischer auf ihn gemacht.

Tran und die beiden anderen Philipinos zeigten kaum Gemütsbewegung. Nachdem Tran den frühen Alarm geschlagen hatte, waren sie dem Schauspiel anscheinend gleichmütig gefolgt. Waren sie sich im Voraus sicher was bevorstand? Stellring hielt es nicht mehr am Platz. Er sei gleich zurück, rief er Luc zu, er besuche jetzt sofort die Brücke. Mehr als ein Hinauswurf wurde dabei nicht riskiert. Die Beziehung zur Schiffsführung war schwer gestört, aber die Sache, die sich hier anbahnte, war kein Spaß. Er schuldete sich den Versuch, rechtzeitig zu erfahren, woran man war. Luc klappte seine Leiter zusammen, legte sie flach auf Deck neben den Farbeimer, die Stahlbürste und das Werkzeug zum Streichen und schloß sich Stellring an.

Die Zugangstür zur Brücke stand weit offen. Sie betraten den Kommandoraum, ohne auf Protest zu stoßen. Hansen wirkte blaß. Sein Steuermann Jacob war als Vertreter des erkrankten Maschinisten, zuständig auch für den Schiffsantrieb. Es schien, er hatte die unverschämte Grobheit der letzten Tage wenigstens ansatzweise abgelegt.

“Hatte immer gehofft, diese Erfahrung bliebe mir auf meiner letzten Fahrt erspart”, wandte der Kapitän sich den Beiden zu, in gesittetem Ton, als hätte es den großen Krach vor zwei Tagen zwischen ihnen nicht gegeben. Ohne die Bitte darum abzuwarten, reichte er Luc sein Glas.

“Schätze, mit dem Tempo der Boote nimmt es Ihr Schiff nicht auf”, sagte Luc zum Steuermann. Jacob verzog säuerlich das Gesicht. Eine neue Lage stellte sich gerade ein. Sinnlos, die kleinliche Hakelei fortzuführen! War Jacob schon klargeworden, man müsse ab jetzt zusammenstehen? Noch war das Wahrscheinliche nicht eingetreten.

Das Schnellboot an Steuerbord hatte die Fahrt gedrosselt und fuhr auf gleicher Höhe wie das Schiff. Die drei Mann Besatzung hatten Gewehre zur Hand genommen und schwenkten sie in der Luft. Einer hantierte zusätzlich mit einem dicken Tau. Luc hatte sich vorhin nicht getäuscht. Im Glas sah Stellring, daß es an einem Ende mit einer Strickleiter verbunden war. Am anderen Ende des Taues war ein leichter Bügel angebracht.

“Der Enterhaken liegt bereit”, sagte Stellring und gab das Glas zurück. Hansen setzte es selbst wieder an. Das Gesicht verzog sich als stieße ihm ein Brocken der letzten Mahlzeit sauer auf.

“Verflucht nochmal, Jacob, der Mensch hat recht.”

Unten wieder die Bewegung mit der flachen Hand wie vorhin beim Rudergänger des größeren der Boote, das sich weiter an der Backbordseite hielt. Die Geste ließ keinen Zweifel zu: eine Aufforderung an die MS “Stolzenfels” zum Stopp. Zweifel war ausgeschlossen, auf das Schiff wartete nicht angemeldeter Besuch. Der Kapitän stellte eine ratlose Betrachtung an:

“Jetzt zum Schluß noch so eine Schweinerei! Wir sind weiß Gott vorsichtig gewesen. Haben den Kurs geheim gehalten und seit dem Ablegen nicht einen Funkspruch abgesetzt. Trotzdem haben die Gangster uns aufgespürt.” Luc fand, die Gelegenheit eignete sich für eine Spitze. Er hatte mit beiden noch eine Rechnung offen:

“Nur keine Panik, Kapitän, wir sind ja für Sie da. Bis zum Beweis des Gegenteils sind die Leute nicht Gangster sondern auf Fischfang aus.“ Hansens Ärger mit den Beiden gleich nach dem Ablegen in Deira meldete sich zurück.

“Halt doch die Schnauze Menschenskind. Wir stehen knapp sechshundert Seemeilen querab zur Küste. Kleine Fischerboote treiben sich hier nicht herum. Die Hinterleute dieser Gangster haben per Satellit unsere Position bestimmt oder jemand hat einen Peilsender an Bord gebracht. So oder so, jetzt kommen auf uns Probleme und auf den Reeder Kosten zu. Bin nicht mal sicher, daß der Alte in Hamburg sich gegen Piraten abgesichert hat.” Er wandte sich an den Steuermann:

“Nicht schön für Ihre Karriere, Jacob. Mir tut der Ärger kaum noch weh, ich gehe in Pension.” Der Steuermann fühlte sich über Tröstungen erhaben und überging den Zuspruch seines Chefs.

“Wir rufen sobald möglich in Hamburg an. Anderes geht zunächst vor.” Hansen sagte, er sei gleich zurück, drehte sich um und ging. Drei Mann auf der Brücke waren unter sich. Hansens Glas lag auf dem Kompaßtisch. Luc nahm es zur Hand, sagte während er auf die Wasserfläche spähte:

“Gebe der Ordnung halber zu Protokoll, Herr Jacob, wir haben keinen Peilsender an Bord gebracht. Was gibt unsere Waffenkammer her?” Jacob ließ die Bemerkung unbeachtet. Vom größeren Boot her wurden Schüsse abgefeuert.

“Die Brüder meinen es tatsächlich ernst.“ Er Blickte die Freunde ratlos an.

„Bedaure Leute, Fehlanzeige! Abwehrgeschütze führt dieses Schiff nicht mit. Mir fehlt leider auch jede Erfahrung im Umgang mit Piraten.” Hatte der Steuermann seinen arroganten Ton so rasch abgelegt? Luc überzog:

“Vielleicht macht der Kapitän inzwischen die Torpedos klar.”

“Schon gut, Schluß jetzt mit dieser Spielerei. Wir sind erwachsene Leute. Ihr zwei habt für die Passage nicht bezahlt und seid nur infolge Protektion an Bord. Benehmt euch wie sich das gehört, spätestens jetzt wäre das angebracht. Allenfalls unsere Kombüse dient als Waffenkammer. Mehr als Küchenmesser stehen zur Gegenwehr nicht zur Verfügung. Gegen das Schießzeug da unten sind wir chancenlos.”

“Dann geben sie den Kerlen grünes Licht. Wenn Entern nicht zu verhindern ist, hat Widerstand keinen Sinn. Ich schlage vor, Sie laden die Leute zum Besuch an Bord.” Der Kapitän trat wieder ein:

“Der Reeder sagt, kein Risiko für Leib und Leben eingehen. Er gibt mir im Grundsatz freie Hand. Ich solle aber wissen, eine Versicherung zahlt bei Kaperung nur dann wenn versucht wurde, den Schaden soweit möglich zu begrenzen.” Jacob hatte mehr anscheinend nicht erwartet:

“Das ist alles? Hat gut reden der Mann, sitzt in seinem Büro in Hamburg und wir baden für ihn diese Sache aus.”

“Was sonst soll er aus der Distanz entscheiden? Sie sind der Kapitän”, sagte Stellring.

Draußen erklang wieder das Geräusch von Schüssen! Luc beobachtete weiter angespannt das Boot an Steuerbord:

“Sie schießen nicht mehr nur Kerzen sondern von unten aus nur ganz knapp über die Reling.”

Hansen ging zu ihm hinüber. Sagte, er habe vor dem Anruf in Hamburg einen Notruf abgesetzt und erwarte jeden Augenblick den Rückruf, ob und wann mit Hilfe zu rechnen sei. Auf jeden Fall müsse man müsse sich schützen, wie immer auch behelfsmäßig nur möglich. Jacob möge die Maschine abschalten, das Schiff liege dann erst einmal fest. So wie sie aussähen, setzten die Angreifer es ohne fremde Hilfe nicht wieder in Bewegung.

Es schien, der Kapitän hatte den ersten Schrecken überwunden. Er gab, noch immer in Gegenwart der Besucher auf der Brücke, Anweisung zum Bau einer Verschanzung. Der große Mannschaftsraum im Unterdeck werde schnellstens als Notbehelf zur Festung ausgebaut einschließlich einem Vorrat an Lebensmitteln und Getränken. Die Tore dort unten gäben nur unter Einsatz von schwerem Werkzeug nach. Zum Aufbrechen geeignetes Gerät werde versteckt oder gehe über Bord! Spätestens sobald geentert werde, ziehe die Besatzung sich in diesen Raum zurück. Ein paar Stunden bis Hilfe eintreffe, notfalls einige Tage halte man die Belagerung da drinnen aus. Jacob stelle bitte eigenhändig die Maschine ab, er selbst, Hansen, verlasse die Brücke erst zuletzt und bringe die Schlüssel und die schriftlichen Unterlagen in Sicherheit. Er habe sich zum Durchhalten entschlossen. Die Besatzung solle versichert sein, die Ganoven entgingen nach kurzer Freude über die freche Kaperung ihrer gerechten Strafe nicht. Markig gesprochen, dachte Stellring.

Man werde ohne Lüftung in einem abgeschlossenen Raum nicht lange Freude haben, wandte Jacob ein. Luc sprach Klartext und fragte nach Toiletten. Hansen musterte beide mit gleich unfreundlichem Blick und verwies auf später. Zur Zeit habe er einen besseren Vorschlag nicht parat. Sein Steuermann ging in Gedanken Alternativen durch, eine bessere Zuflucht fiel auch ihm nicht ein. Dem Alten ging es um den Nachweis, man habe Gegenwehr mindestens versucht. Die Aussicht auf Erfolg hing vom Eingreifen der Atalanta ab. Jedenfalls aber mußte schnell gehandelt werden.

Stellring und Luc Haanen verhehlten sich gegenseitig das flaue Gefühl im Magen nicht. Luc schloß die Sticheleien von vorher mit einem konstruktives Anerbieten ab: er und Stellring ständen Jacob für die Befestigung der Zuflucht zur Verfügung.

Der Ton zwischen Schiffsführung und den nicht zahlenden Passagieren hatte sich geändert. Stellring schien, als Folge der Bedrohung war ihre Wertschätzung beim Kapitän ein Stück gestiegen.

Hansen nahm sein Glas zur Hand und trat an Steuerbord ans Geländer hinter der Brückentür. Er winkte zum großen Boot hinüber und gab durch Zeichen zu verstehen, er komme der Aufforderung nach und nehme Fahrt zurück. Das Boot hatte sich auf Rufweite genähert. Die Waffen der Männer waren nicht mehr drohend aufs Schiff gerichtet sondern wieder lässig umgehängt.

“Wer sind Sie?” rief er in Richtung Boot. Der Eindruck der Schwäche, den er mit der Frage eingestehen mußte, war ihm klar. Man möge sich ihm bitte bekannt machen und sagen worum es ging, forderte Hansen die Bootsbesatzung auf. Stellte sich selbst als Kapitän seines Schiffes vor. Wenn man draußen in Seenot sei, sei er bereit zu helfen. Er bezweifelte kaum, man hielt ihn unten für naiv, aber er gewann Zeit. Er wandte sich Jacob zu: “Nimm langsam Fahrt zurück. Ich halte die Brüder hin.”

Der Wortführer am Steuerrad hatte ihn verstanden. Er sei Ibrahim. Die beiden Boote seien einem Sturm mit knapper Not entkommen, hätten einen Umweg nehmen müssen und brauchten dringend Wasser und Proviant. Er komme zu einem kurzen Besuch an Bord, wenn eine Strickleiter zur Hand sei, wäre ihm das recht.

Nicht nötig, daß er sich herauf bemühe, kam zurück. Auf der “Stolzenfels” sei man sich der Pflicht zur Hilfeleistung auf hoher See bewußt. Die Besatzung bereite umgehend einen Korb mit Verpflegung und einen großen Vorrat Wasser vor. Er und seine Leute auf ihren Booten würden sich nicht beklagen.

“Machen sie keine Umstände Kapitän, wir kommen jetzt an Bord”, kam vom Lärm der Außenborder fast verschluckt zurück. Noch lief auch die Schiffsmaschine, wenn auch nur mit halber Kraft.

Spielerisch, als geschehe es absichtslos, nahm Ibrahim das Gewehr von der Schulter und streichelte den Lauf. An Land wurde Ibrahim tags darauf zum Anführer der Wachmannschaft bestimmt. Das Schiff hatte Fahrt verloren, die Schrauben trieben es mit verminderter Geschwindigkeit voran. Jacob hatte den Bremsvorgang nicht übereilt. Die Maschine klang jetzt jetzt so wie am Hafenkai in Beira. Kein Antrieb mehr auf der Schraube, aber jedes größere Schiff braucht eine lange Auslaufstrecke bis es aus voller Fahrt zur Ruhe kommt.

Wenn man auf einer Visite so nachdrücklich bestehe, dann bitte sehr, aber nur ein Mann allein und unbewaffnet. Hansen erntete Gelächter und verspürte Zorn. Die Strauchdiebe fühlten sich anscheinend sicher und durchaus nicht in besonderen Eile. Er wußte vor einem Rückruf der Atalanta nicht, wann die angeforderte Hilfe zur Stelle war. Nur wenn die Besatzung der “Stolzenfels” viel Glück hatte, kreuzte rechtzeitig ein Schiff auf und setzte dem Spuk ein Ende.

“Nun mach schon Alter, soviel Gastfreundschaft muß sein.” Wieder lachte Ibrahim. In seinem Lachen lag Hohn. Er legte sein Gewehr an die Schulter und schoß in Richtung Heck. Das Geräusch diesmal anders als bei den Warnschüssen zuvor. Kurze harte Töne mischten sich zu einem Doppelklang mit Nachhall. Später stellte Jacob fest, die Projektile waren vorne ins Schornsteinblech geschlagen und rückseitig nicht wieder ausgetreten. Ein großflächiges Ziel, das nicht leicht zu verfehlen war, dachte Stellring. Das Scheppern blieb im Ohr. Luc erklärte später das häßliche Geräusch: nach dem Eintritt durch die Vorderseite des Schornstein hätte die Wucht der Projektile für das Durchschlagen der rückseitigen Wand nicht ausgereicht. Die verbliebene Wucht hatte das dünne Blech beim Anprall in Vibration versetzt.

 

“Ich warne Sie, mit Gewalt kommen Sie und ihre Leute hier nicht weit.” Ibrahim antwortete nicht gleich. Auch seine drei Begleiter nahmen Waffen zur Hand und legten an.

“Hängt die elenden Leitern raus oder wir geben gezieltes Feuer.” Hansen war über das Vorgehen von Piraten durch einen Vortrag vom Vorjahr im Verband Deutscher Reeder leidlich informiert. Betroffene hatten bei einer Schulung für verantwortliche Schiffsführer berichtet. Vor Mord und nicht provozierter Gewalttätigkeit an Mitgliedern der Besatzungen seien die Piraten immer zurückgeschreckt. Man hatte den Teilnehmern vor jeder Heldenpose abgeraten. Die Androhung von Gewalt zur Verteidigung sei aber nicht falsch, im Gegenteil. Jede Versicherung verlange einen halbwegs glaubhaften Nachweis von Widerstand gegen den Versuch einer Kaperung. Waren ein paar Einschußlöcher im Schornstein glaubwürdiger Widerstand genug wenn es in Zukunft um die Schadenregulierung ging? Wenn die Piraten das eigene Seilzeug benutzte, um an Bord zu kommen, würde das Mittel zur Androhung von Gegenwehr aus Messern bestehen, mit denen sich eine Strickleiter kappen ließ. Er würde keinem Mann seiner Besatzung raten, das zu tun. Sonstige Waffen führte sein Schiff aus gutem Grund nicht mit. Die Angreifer im Boot dagegen erwehrten sich jeder Behinderung leicht mit einem gezielten Schuß.

“Du hast es so gewollt, Idiot”, rief Ibrahim Hansen von unten zu. Alle vier Bootsfahrer hielten das Gewehr im Anschlag. Hansen zog sich ein Stück weit von der Reling zurück, gerade soweit, daß er das Boot noch sah. Er konnte erkennen, man zielte nicht auf ihn. Nacheinander schossen die vier Afrikaner je einen Feuerstoß gegen die Bordwand ein Stück weit oberhalb der Wasserlinie. Den Anfang hatte Ibrahim gemacht, forderte die beiden anderen dann auf, es ihm gleich zu tun. Die angespitzten Projektile trafen auf härteren Widerstand als das dünne Schornsteinblech vorhin. Fast gleichzeitig mit dem dem Abschußknall lösten sie beim Aufschlag dumpfes Dröhnen aus, verformten sich zu kleinen Platten aus Metall, die aufzischend ins Wasser fielen. Flache Beulen bildeten sich im Stahl der Außenhaut, die dick aufgetragene Farbschicht wurde abgesprengt. Auf einer Fläche nicht größer als ein Fingernagel zeigte sich blankes Metall, mehr Schaden richteten keines der Geschosse an.

In den Lärm der Salven hinein klingelte Hansens Telephon. Die Leitstelle der Atalanta-Schutzmission fragte die Lage ab. Hansen teilte mit, der Verdacht eines Piratenangriffs habe sich bestätigt. Er gab die Anzahl der Männer auf den beiden Booten durch und beschrieb die ihm bisher erkennbare Bewaffnung. Das Schiff sei mit schnell feuernden Waffen beschossen worden, er rechne in Kürze mit der Enterung. Er mußte zur Kenntnis nehmen, keines der Atalanta-Patrouillenboote stehe zur Zeit in Nachbarschaft zur “Stolzenfels”. Die Atalanta verfüge nur über eine begrenzte Zahl von Schiffen. Die Gefahrenzone der Gewässer vor dem Horn von Afrika, in der Piraten operierten, dehne sich dagegen ständig aus. Vor Ablauf von zweiundzwanzig Stunden sei mit Eintreffen von Hilfe nicht zurechnen. Die Stimme im Hörer bat noch einmal wie schon vorhin um die aktuelle Positionsangabe. Hansen kam der Bitte schnell nach, er hatte die Zahlen vorbereitet. So lange irgend möglich solle er versuchen, mit der Leitstelle Kontakt zu halten. Im Namen von “Atalanta” wünsche man ihm Glück. Der Kapitän war enttäuscht. Er atmete tief durch und zwang sich eine entschlossene Mine auf. Über Bordmikrophon bat er Jacob zu sich herauf, neben der Tür zur Brücke stehend stellte er fest, beide Boote liefen jetzt an Backbord längsseits.

Tran und die beiden anderen Philipinos hatten zum Schein die Malerarbeit noch eine Weile fortgesetzt. Sie ganz einzustellen hatten sie nicht gewagt. Der Steuermann Jacob hatte mehr als einmal gezeigt, er war ebenso cholerisch wie unberechenbar, vor allem dann wenn er getrunken hatte. Der Mann war eine kurze Zeit lang abgetaucht, jetzt näherte sich in Begleitung von Luc und Stellring und wies die Besatzung an. Tran, Noel und Joe sollten alles Gerät, das als Brecheisen in Frage kommen könnte, zusammensuchen und im großen Mannschaftsraum verstauen. Luc und Stellring seien mit dem Schiff wenig vertraut, sie würden aber behilflich sein. Anschließend werde gemeinsam das Zugangstor zum Mannschaftsraum zur Sperrung vorbereitet und die Durchreiche zur Kombüse blockiert. Ein Vorrat an Verpflegung, Wasser, Getränken sei anzulegen. Daß höchste Eile geboten sei, brauche er nicht eigens zu betonen. Bummelei wie hier beim Streichen reiche nicht aus, es gehe ums Überleben. Er selbst informiere gleich die drei anderen Leute im Vorderschiff. Der Kapitän bringe die Schiffspapiere in Sicherheit. Er schob mit einem Anflug von Pathos in der Stimme große Worte nach: er sei sicher, in der Stunde der Not sei auf seine Männer jederzeit Verlaß. Jacob wandte sich zum Gehen.

Wie der Zugang zur Toilette geregelt sei? rief Luc ihm nach. Da sei nicht viel zu regeln. Mit zwei Kübeln aus der Kombüse komme man ein paar Tage aus. Jeder wisse, man sei hier nicht auf einem Kreuzfahrtschiff. Ob für Lüftung gesorgt sei in dem Loch? Fiele die Klimaanlage aus, werde es da unten nicht auszuhalten sein. Jacob möge bedenken, acht Mann in einem abgeschlossenem Raum ohne Zugang zur Außenwelt! Schon zu fünft hätten sie die Hitze nur bei offener Tür ertragen.

“Halts Maul, Kerl, geh an die Arbeit”, brüllte Jacob Luc zornig an. Stellring fragte, was tun wenn die erwarteten Besucher erst herausgefunden hatten wie die Lüftung funktioniert? Er hatte in Erinnerung, die kleine Rohrleitung mündete in Deckenmitte und blies über das flache Ausgangsstück nur schwach gekühlte Außenluft in den Raum. Diese Leitung ließ sich unterbrechen. Außerdem nehme er an, die Lüftung werde nur solange arbeiten wie die Schiffsmaschine lief! Jacobs kahler Kopf hatte sich schnell rot verfärbt. Er antwortete nicht mehr und entfernte sich in Richtung Brücke.

Tran wiegte nicht ohne ein Stück Schadenfreude den mageren Oberkörper, ehe er ans Werk ging. Die Chefs auf diesem Schiff waren Widerworte der Besatzung nicht gewohnt. Jacob nahm den Auftritt der Studenten übel, ein Anschlag auf seine sonst nicht hinterfragte Befehlsgewalt. Andererseits waren die Anordnungen nicht falsch. Wie sonst sollte man einem ehrenvoll Angriff begegnen wenn nicht mit einer Andeutung von Widerstand ? Auch Tran hätte keinen besseren Rat gewußt.

Noel und Joe rannten so schnell sie konnten den langen Weg zur Kombüse los, er selbst machte sich im Laufschritt mit den Studenten auf die Suche nach Material für die Verschanzung. Auch den beiden Studenten war klar, der Besatzung blieb für Vorbereitungen nur wenig Zeit.

Hansen hatte zu Recht befürchtet, sein Versuch, die Leute auf ihren offenen Kähnen hinzuhalten bringe wenig ein. Sie hielten ihre Boote an Backbord gleichauf neben dem in Gleitfahrt langsamer gewordenen Schiff. Statt Ibrahim, dem Wortführer von vorhin führte das Steuer jetzt ein anderer großen Kerl, auffällig durch seine Sonnenbrille. Ibrahim rief ihm ein paar Worte in einer Sprache zu, die Hansen nicht verstand. Dieser Mann mit Sonnenbrille griff wieder zum Megaphon:.

“Unser Kommando kommt jetzt an Bord. Seien sie nicht beunruhigt, wenn Sie vernünftig sind, wird Ihnen nichts geschehen. Jeder Widerstand ist sinnlos und geht nur zu Ihren Lasten. Sie haben gesehen, daß wir nicht unbewaffnet sind. Ich warne in Ihrem eigenen Interesse vor unüberlegtem Handeln. Wieviel Mann Besatzung haben Sie auf Ihrem Schiff?” Hansen spürte einen Anflug von Erleichterung. Die Ansprache des Ganoven bewies Bewußtsein für den guten Ton. Ganz wüste Halsabschneider würden die ungebetenen Besucher nicht sein. Er verwies sich den Gedanken als Beschönigung und machte sich bewußt, der angekündigte Besuch war ein Piratenakt. Der Kapitän ließe sich auf diesen Ton halber Vertraulichkeit nicht ein:

“Ich protestiere. Wer sind Sie, was wollen Sie? Wir haben Ihren Leuten schon unsere Hilfe angeboten. Wieviele wir sind, geht Sie nicht das Geringste an.”