Fluchtpunkt Mogadischu

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Ibrahim nahm sich der neuen Aufgabe mit Eifer an. Bisher waren seine Kontakte zur Besatzung auf Hansen und Jacob beschränkt gewesen. Im Schachspiel hatten die beiden in Ibrahim einen Gegner gefunden, der ihnen überlegen war. Gewöhnlich setzte er sie je einzeln nacheinander oder auch gleichzeitig gegen beide nach einer viertel Stunde matt. Wenn sie ihre Kräfte am gleichen Brett zusammenlegten, änderte sich allenfalls die Dauer, nicht der Ausgang der Partie.

Nach Achmads Fortgang nahm er Kontakt auch zum Rest der Mannschaft auf. An einem der immer gleich verlaufenden Vormittage traf er Stellring mit seinem Arabisch Lehrbuch an. Ein Buch mit den Schriftzeichen seines Landes in der Händen eines Europäers erschien für ihn ein ungewohnter Anblick. Ibrahim zeigte erstauntes Interesse und leistete Stellring Hilfestellung. Stellrings Problem mit der Aussprache und Betonung einzelner Worte hatten den Lehrmeister in ihm geweckt. Er habe sich in der Schule selbst jahrelang mit dem Erlernen der Sprache abgemüht. Stellring klärte die Herkunft seiner bescheidenen Vorkenntnisse auf: die Jahre im Alter von drei bis sechs Jahren habe er im Orient verbracht. Die Familie war dem Vater zu seiner Arbeitsstelle ins nördliche Pakistan gefolgt. Der Kindergarten hatte ihn aufgenommen, zusammen mit mit Gleichaltrige aus Ländern der Region, aus Amerika und aus Europa. Erste frühe Freundschaften waren entstanden. Ohne davon zu wissen, hätten die Kinder von Privilegien profitiert. Der Vater war bei einer Unterorganisation der UN angestellt gewesen. Man habe in Verhältnissen gelebt, von denen die meisten Einheimischen im Norden Pakistans damals wie heute nur träumen konnten. Für Stellring war die Zeit in guter Erinnerung geblieben. Von einem der Spielgefährten damals hatte er sich etwas Paschtu von einem anderen ein paar Brocken Arabisch abgehört. Manchmal habe er zum Erstaunen der Eltern den Dolmetscher gespielt, hatte man ihm später davon erzählt. Er selbst erinnerte sich nicht daran. Man habe ihn mit vorgeblichem Neid geneckt, daß sich der Sohn in der Landessprache leichter zurechtfand als man selbst. Mit Erreichen des Schulalters war die Familie nach Deutschland zurückgekehrt. Den größten Teil des Paschtu, der Landessprache in der Umgebung von Peschawar und die paar Wörter Arabisch, hatte Stellring ebenso schnell wieder vergessen wie zuvor gelernt.

Ibrahim war beeindruckt. Das seien Startbedingungen, von denen er und seine Leute nur träumen könnten, sagte er. Er habe dagegen nur wenig Hoffnung auf Besserung und weniger Armut in seinem Land. Der Mann, der Stellring Lernhilfe anbot, zeigte sich auch an Grundsätzlichem interessiert! Wenn er sein Land voranbringen wolle, warum nähme Ibrahim dann an kriminellen Aktionen teil? Stellring war mit dem Vorwurf anscheinend zu weit gegangen. Ibrahim reagierte beleidigt. Er wechselte die Tonart und sagte Stellring selbst möge sich über die Antwort Gedanken machen. Wo eine Notlage auftrete, sei auch Notwehr erlaubt. Die Aktionen seiner Organisation seien nicht kriminell sondern Kampfeinsätze. Jeder einzelne sei gerechtfertigt als Maßnahme zur Sicherung der Lebensbasis für sein Volk. Die Worte erschienen Stellring hochtrabend und hohl. Er richtete den Blick auf das Camp, die Zelte und Hütten samt dem verbliebenen Motorrad unter einem Sonnendach. Ein Stück weit seitab draußen lag die “Stolzenfels” vor Anker. „Kampfeinsatz“, die Bezeichnung werde dem Ablauf wie er ihn erlebt hatte nicht gerecht. Ein Angriff aus dem Hinterhalt der grenzenlosen Wasserwüste, gerichtete gegen ein waffenloses Schiff! Das sei kein Heldenstück gewesen sondern Piraterie. Ibrahim blickte ihn zornig an, drehte sich um und ging.

Stellring nahm auf die Decke unter dem Zeltvordach neben Luc Haanen Platz. Immerhin, meinte der Freund, der neue Aufsichtschef mache sich auch mit Mannschaften gemein. Er zeigte das Bedürfnis nach Ruhe an, legte seine Notizen zur Seite und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Stellring setzte sich über den Wunsch hinweg. Ibrahim brüste sich mit der Entführung der “Stolzenfels”, trage wortreich Rechtfertigungsgründe vor. Er selbst finde keine. Lucs Meinung dazu? Der Freund zeigte noch einmal Unversöhnlichkeit: immerhin hätten die Burschen mit ihrer Aktion dem arroganten Steuermann Jacob einen Denkzettel verpaßt. Auch er gewinne übrigens der Entführung inzwischen positive Seiten ab: sammle praktische Erfahrung mit einem interessanten Versicherungsfall. Wünschte sich, er wäre selbst bei den Verhandlungen über die Schadensabwicklung dabei. Luc mache sich Gedanken, wie weit der Kapitän aus Sicht der Versicherung richtig gehandelt habe. Er meine, allzu schnell habe das Schiff sich nach der Kaperung den Absichten der Kaperer gefügt. Das Risiko einer gewaltsamen Übernahme habe man bei der Auslegung der Technik möglicherweise nicht ausreichend bedacht. Bei größerem Zeitaufwand bis zur Aufnahme der Steuerung durch die Piraten wäre die “Atalanta” nicht zu spät gekommen! Bei dem Vortrag zu Hause in Brüssel gehe es in seinem Job um die Einschätzung von Risiken. Bei jedem Versicherungsunternehmen entscheide das Risikomanagement über Wohl und Wehe. “Risikomanagement, ein großes Wort”, spottete Stellring. Er nehme als Laie an, dahinter stecke mehr Anspruch als Substanz. Luc ärgerte sich über Vorbehalte gegen seine Branche. Statistik und Erfahrungsberichte erlaubten die sinnvolle Abschätzung von Gefahren. Selbst habe er bisher mit der Sparte Seefahrt aber keinen Kontakt gehabt. Im Vergleich zu anderen sei der Zweig maritimer Versicherungen lukrativ. Jeder neue Bericht in den Medien über Probleme mit Piraten wirke sich günstig auf die erzielten Prämien aus. Zufällig gehe in einem Abschnitt seiner Vortragssammlung ein Verfasser auf einen Fall ähnlich wie ihren ein. Glimpflich abgelaufen für alle Beteiligten. Die Versicherung habe nach neun Wochen gezahlt. Er bringe selbstverständlich nach der Rückkehr seine Erfahrungen für die Fachwelt ein. Luc hatte abgelenkt. Ob eine Schiffsentführung unter besonderen Umständen moralisch vertretbar sei?, beharrte Stellring. Luc blickte verständnislos. Die Temperatur lastete schwer auf den Eingeschlossenen im Camp.

“Ich wiederhole, ein Vortrag mit Realitätsbezug! Nur für die Fachwelt fast zu schade. Verkaufen wir doch unsere Story an ein Magazin.” Stellring winkte ab:

“Brächte sicher ein schönes Honorar. Aber geben wir uns keiner Illusion hin, ohne mit ein paar Photos ist ein Bericht für die Medien ohne Wert. Deine Kamera hat Jenny im Flugzeug mitgenommen, bei meiner ist die Batterie entladen.” Stellring fürchtete, dies war ein schlecht gewählter Zeitpunkt für ein vernünftiges Gespräch. Die Hitze war zu stark.

“Moralisch vertretbar oder nicht?” fragte er noch einmal nach. Luc musterte ihn besorgt. Meinte Stellring die Frage wirklich ernst? Der Reisekamerad Stellring redete dummes Zeug! Auch die Ration von zwei Litern Wasser am Vormittag hatten für erträgliches Befinden jetzt in der Mittagszeit nicht gereicht. Für eine tiefsinnige Debatte waren Zeitpunkt und die eigene Verfassung ungeeignet. Man hatte gemeinsam festgestellt, der Umstieg auf Tee brachte keine dauerhafte Verbesserung. Warum um alles in der Welt servierte man ihnen nicht endlich auch ein Bier?”

“Lassen wir es gut sein, Gerd, die Hitze setzt uns zu. Zeit für Siesta, nicht für Streit über moralische Aspekte der Piraterie.”

Am nächsten Vormittag suchte Stellring selbst den Kontakt zu Ibrahim. Der Wunsch nach Gedankenaustauschtrieb ihn dazu, weniger die Aussicht auf Hilfe im vierten Kapitel seines Sprachlehrbuchs.

Wie das gemeint gewesen sei gestern mit dem Bezug auf die Lebensbasis hier? Ibrahim machte eine wegwerfende Handbewegung. Anscheinend fühlte er sich zur Weiterführung der Unterhaltung vom Vortag nicht aufgelegt. Wiederholte dann, Stellring solle sich seine eigenen Gedanken dazu machen. Der gab zurück, er habe über das Gespräch von gestern nachgedacht und glaube jetzt, er käme an einer Abbitte nicht vorbei. Ibrahim blickte erstaunt auf. Er gab seine Zurückhaltung anscheinend auf und zeigte Interesse für die Vorgeschichte seiner Gefangenen:Stellring und sein Freund hätten in den letzten Wochen mehrere Länder Afrikas besucht. Welche Reiseroute habe man gewählt? Stellring beschrieb die lange Fahrt von Kairo bis herunter nach Maputo und später zurück nach Beira. Erwähnte, ihre Gruppe sei nicht im Hotel abgestiegen sondern wenn möglich im billigeren Hostel, die Hälfte der Zeit habe man in Zelten übernachtet. Drei Nächte seien man Gast im Dorf eines Freundes aus dem Sudan gewesen, mit dem Luc Freundschaft geschlossen hatte. Habe man auf dem Weg nach Süden auch Somalia besucht? Leider nein, aber das hole man ja gerade eben nach. Ibrahim ersparte sich ein Lachen.

Er wollte wissen, wie Stellring die Lebensbedingungen in Afrika einschätze im Vergleich mit denen bei ihm in Europa? Stellring gab die Eindrücke nach bestem Wissen wieder: es sei für keinen zu übersehen, die meisten Menschen seien arm. Fast immer sei man ihm dennoch mit Freundlichkeit begegnet. Materiell kein leichtes Leben für die Allermeisten, in dieser Hinsicht anders als für die Mehrheit in seinem Land. Man habe nicht erlebt, daß Menschen gehungert hatten. Mit leerem Magen gehe anscheinend kaum einer am Abend schlafen. Woher dann das Recht auf den Irrweg der Piraterie auf Hoher See?

„In dieser Hinsicht anders als bei euch zu Hause?“ Ibrahim schüttelte ungläubig den Kopf.

“Eine schwere Untertreibung, Stellring, Somalia ist noch ungleich übler dran als die Länder, die Ihr gesehen habt. Man weiß hier über das Leben bei Euch Bescheid. Fernseher sind trotz Armut in Somalia weit verbreitet. Manche geben ihr knappes Geld dafür statt für ordentliches Essen ihrer Kinder aus.”Alles vielleicht nicht ganz falsch aber einseitig gesehen, dachte Stellring. Was ging ihn der Unverstand anderer Leute an? Er sagte:

“Jedenfalls haben wir in den letzten vier Wochen von den Leuten in den Nachbarländern mehr Lachen gehört als im letzten Jahr vorher zu Hause. Wer so häufig lacht wie viele hier, zeigt, daß ihm nichts Wesentliches fehlt. Gesundheit, ein gutes Gefühl im Bauch bei Wärme statt kaltem Nebelwetter ersetzen das, was manche bei uns im Norden sich an Luxus leisten.”

 

Ibrahims Kopfschütteln hielt an. Er nahm die Agitation vom Vortag heftig wieder auf.

Ehe er zur Organisation gestoßen sei, habe ein Onkel im Dorf jämmerlich verhungern müssen. Ob Stellring sich eine Vorstellung machen könne, wie das ein Angehöriger erlebt? Ein älterer Cousin habe sein zweites Kind begraben. Der Vater habe mit angesehen, wie es mangels Geld für Arzt und Medizinzugrunde gegangen sei. Wieviele Kinder Stellring habe? Keine? Dann allerdings fehle ihm wahrscheinlich Verständnis und Phantasie für die elende Situation von Eltern mit dem Bewußtsein, daß man den Kindern zu viel schuldig blieb. Weil Stellring betreten schwieg, fuhr Ibrahim bitter fort:

Stellring habe sich auf oberflächliche Beobachtungen beschränkt. Sein Begleiter und er verfügten weder über klaren Blick noch Einfühlung. Vom sorglosen Leben junger Leute habe er sich blenden lassen. In späteren Jahre werde die Armut auch für jetzt Junge bitter sein. Weder Ausbildung noch Arbeit, kein Geld, Krankheit von Angehörigen! Stellring möge seine Phantasie bemühen dann male er sich leicht aus, wie es sich in den Hütten lebt. Er, Ibrahim hätte von einem verständigen Besucher erwartet, daß er den Blick auch hinter die Oberfläche wirft. Er hatte noch nicht geendet. Stellring räusperte sich. Er schob seine Gegenrede ein Stück hinaus.

Ibrahim seien Berichte über sein Land aus Übersee bekannt. Natürlich habe die Regierung in den Zeiten versagt als es noch einen Rest Ordnung im Land gegeben habe. Der Stand der Entwicklung in Somalia sei extrem schlecht, nicht zu vergleichen mit denen in Tansania oder in Kenia. Keine Macht weit und breit, die für ein Minimum von Recht und Ordnung sorgt! Das Land stehe seit Jahren im Bürgerkrieg und leide jetzt wieder unter einer Dürre. Eine Strafe Gottes, die sich regelmäßig wiederholt! Stände Geld für den Bau künstlicher Bewässerung zur Verfügung, brauchte wenigstens diese weitere Katastrophe nicht zu sein.

Stellring fühlte sich belehrt. Kein zweifel, Ibrahim gehörte zu einem anderer Menschenschlag als von vielen Begegnungen in Überlandbussen und Hostels gewohnt! War er erst hier auf das Afrika der Erwachsenen gestoßen? Der Pirat, gab ihm eine Lektion in Landeskunde abseits touristischer Interessen. Der Mann war nicht älter als er selbst. Wahrscheinlich längst verheiratet und Vater kleiner Kinder sonst hätte er sich nicht gerade eben nicht so echauffiert. Jedenfalls ein nachdenklicher Typ. Der Tiefgang nur vorgespiegelt oder echt? Vielleicht war die Rechtfertigung für die Anarchie zur See, von der er zu leben schien, nicht nur vorgeschoben. Stellring fiel eine noch gar nicht vorgebrachte Beschwerde ein: er hatte mehrfach gelesen, der Einsatz großer Flotten aus den Industrieländern habe die Küstenfischerei auch in den Fanggründen am Horn von Afrika ruiniert. Ibrahims Klage hatte zu Teilen Anspruch auf Verständnis. Die Zeiten spielten seinem Land derzeit besonders übel mit.

Laut sagte er, die Gründe hätten ihn nachdenklich gemacht. Ibrahim habe wahrscheinlich recht, repräsentativ für die Mehrheit seien die Kontaktpersonen auf der Reise bisher nicht gewesen. Man habe vielleicht überwiegend einseitig Erfahrungen gemacht. Ibrahim Er solle versichert sein, er, Stellring, und seine Begleiter hätten die Augen vor negativen Reisebildern nicht verschlossen. Besonders die Mädchen hätten immer Einfühlung gezeigt und Sympathie für die Menschen bewiesen, denen es nicht gut gegangen sei. Er kam dann auf den Stand der Verhandlungen zu sprechen. Wann mit der Freigabe des Schiffes zu rechnen sei? Ibrahim blieb einsilbig. Entweder er war nicht informiert oder er hielt sich anders als Achmad dem Kapitän gegenüber mehr zurück. Er warf einen Blick in Stellrings Sprachlehrbuch. Sagte, nach seiner Erfahrung käme man ohne viel Ausdauer nicht voran und wollte gehen.

Immerhin schien die Bemerkung ein Zeichen der Anteilnahme, dachte Stellring.

“Ein Wort noch”, begann er vorsichtig, er nehme an, diese Verhandlung, Ende nicht absehbar, liefen unabhängig davon, ob die Besatzung vollzählig gefangen sei. Er denke über eine Flucht nach Hause nach. Er hoffe, Ibrahim verstehe ihn nicht falsch. Anzunehmen, im umgekehrten Fall erginge es einem Somali als Gefangener im fremden Land nicht anders!

Ibrahim verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Bisher war der Andere verständig aufgetreten und hatte den Anschein von Lernfähigkeit erweckt, jetzt schien es, er hatte den Verstand verloren. Diese Leute aus dem Norden vertrugen Hitze nicht! Stellring wartete gespannt auf Antwort. Er hatte provoziert. Wenn der Somali der ersten Entrüstung nachgab und dabei blieb, war der halb fertige Plan schon zu Beginn gescheitert. Infrage käme die Flucht vom Camp natürlich nur im Einvernehmen, schob er schnell als Erklärung nach. Er denke sich zur Piste durchzuschlagen, Von dort per AutoStopp bis an die Grenze zu Äthiopien! Auf Stellring warteten dringende Termine: der Abschluß der Ausbildung, Freundin und Familien sorgten sich um ihn. Dieser Aufenthalt hier bringe alle Pläne durcheinander.

Der neue Leiter im Camps hatte den Ernst von vorher abgelegt und lachte laut heraus.

“Ein merkwürdiger Sinn für Humor! Unsere Aktion bringt also Termine durcheinander. Ich sage Dir, es gibt weit Wichtigeres für meine Leute als einen verschobenen Termin. Dein Freund Luc hat gestern wegen eines Gesprächs nach Brüssel nachgefragt. Es wird Zeit, Ihr macht Euch klar, Ihr seid hier in Kriegsgefangenschaft. Jeder unserer Leute hat bei kleinstem Anlaß Schießbefehl. Ihr solltet verstanden haben, wir verstehen keinen Spaß.”

Stellring wiederholte die Versicherung, sein Vorhaben setze das Einverständnis der Somalier voraus. Er hoffe, man betrachte ihn nicht mehr als Feind. Er jedenfalls verhehle sich nicht mehr die Sympathie für Ibrahims Sicht der Dinge. Die Zahlung für das Schiff sei von der Freilassung einzelner Mitglieder der Besatzung nicht berührt. Über den Ort und Zeitpunkt der Entführung wisse die Welt ohnehin Bescheid. Mittels Satellit sei auch die jetzige Ankerstelle der “Stolzenfels”aufgeklärt. Er verpflichte sich im Voraus, nach geglückter Heimkehr gebe es von Stellring keinen negativen Kommentar zur Entführung und zur Behandlung im Camp.

Er hatte die Bereitschaft zu Ibrahims Entgegenkommen überschätzt. Der Somali gab zu erkennen, er mache bei einem frivolen Gedankenspiel nicht weiter mit:

“Zur Erinnerung, mein Freund, und damit es zu keiner Fehleinschätzung kommt: auf die nächsten hundert Kilometer im Umkreis findet sich hier keine Menschenseele, auf die ein Flüchtling zählen kann. Selbst wenn Du nachts unbemerkt wegläufst, hast Du bei Tagesanfang nicht mehr geschafft als dreißig Kilometer. Die Wüste zeigt tagsüber Leuten ohne Sonnenschutz und Orientierung ein häßliches Gesicht. Mein Ratschlag an alle mit einem dringenden Termin zuhause: zeigt Geduld und haltet die Gefangenschaft noch eine Weile aus.”

Mit Luc war der Vorstoß nicht abgestimmt gewesen. Stellring überraschte ihn in der Hitze des Mittags mit seinem Bericht über das vorher geführte Zwiegespräch. Luc zeigte für das Vorhaben kein ernsthaftes Interesse. Er erkenne nicht mehr als, wohlwollend geurteilt, eine Schnapsidee. Stellring zeige trotz erzwungenem Verzicht auf Alkohol, seine Phantasie sei völlig überhitzt, sein Plan ohne jede Realisierungschance. Er seufzte und dosierte sorgfältig kleine Schlucke Tee. Wie der Vorschlag bei Ibrahim angekommen sei? Er bewunderte die souveräne Reaktion des Afrikaners. Erstaunlich, daß dem Mann das Ansinnen nicht in den falschen Hals geraten sei! Wahrscheinlich habe auch er an einen Scherz geglaubt. Er schloß den Kommentar mit der Frage, ob Stellring seinen Vorschlag in ihrer Lage für moralisch vertretbar halte? Stellring überhörte den Hohn und lieferte sachlich Argumente nach. Die Chancen ständen besser wenn man sich das Motorrad zunutze mache. Ob Luc in diesem Fall zur Teilnahme an einer Flucht bereit sei? Ein klares Nein! Auch dies Detail mache den Plan nicht besser. Der Zündschlüssel liege nicht frei herum. Ihn mit Gewalt beschaffen? Die Anderen seien in der Überzahl und hielten ständig Schießeisen griffbereit. Bisher habe nach einer Entführung noch niemand Leute der Besatzung umgebracht. Er verspüre kein Verlangen nach einer kurzen flucht. Man ende erschossen oder verdurstet im Wüstensand. Stellring möge Vernunft annehmen, hier habe man Wasser und Verpflegung und sitze selbstverständlich die Sache weiter aus.

Am nächsten Abend kehrte Achmad als Sozius hinter einem Somali als Fahrer auf dem Motorrad ins Camp zurück. Er sah staubig und müde aus. Zog, kaum abgestiegen, Ibrahim in den klimatisierten Verschlag vor dem Antennenstand. Als erster der Schiffsbesatzung gelang Hansen am folgenden Morgen ein Gespräch. Achmad habe für den Kapitän keine Neuigkeiten. Die Verhandlungen zögen sich hin, wenn auch nicht länger als sonst gewohnt. Man nehme einen positiven Ausgang noch vor Ende Winter an. Hansen und die gestrandete Besatzung waren enttäuscht. Weihnachten stand an und man vertröstete sie auf unbestimmte Zeit. Der Kapitän spendete seinen Leuten schwachen Trost. Möglich sei immer auch ein früherer Termin. Die Zeit werde ihm selber lang, aber die Befreiung stehe schließlich völlig außer Zweifel. Er garantiere, die Heuer werde auf Heller und Pfennig nachgezahlt.

Das bedeute wie viel für seinen Freund und ihn, fragte Luc. Der Kapitän wehrte unwirsch ab. Luc möge einsehen, daß Führung und Mannschaft in dieser Lage besonders aufeinander angewiesen seien. Ständige Stichelei sei fehl am Platz. “ Wie viel also, wie hoch ist unsere Heuer?“ “Maul halten”, brüllte Jacob ihn laut an. Zehn Jahre jünger als Hansen, hielt auch er die Gefangenschaft schlecht aus. Das Motorrad hatte erst am Vortag Nachschub an Verpflegung ins Camp gebracht. Man ernährte sich nicht schlecht aber Jacob war abgemagert, die Fertigportionen einheimischer Speisen aus einer Kühleinrichtung im Besprechungszelt bekamen dem Magen nicht. Hansen machte sich Sorgen um seinen Steuermann. Man mußte hoffen, er würde unter den schwierigen Umständen hier nicht ernstlich krank.

Einen Tag später wurde Stellring zu einem Besuch bei Achmad und Ibrahim in der Führungsbaracke aufgefordert. Nur Hansen war diese Ehre bisher zuteil geworden. Er hatte danach berichtet, die schäbige Hütte werde klimatisiert. Die Anlage nicht übermäßig wirksam, aber angenehm im Vergleich zur Mittagshitze in der Außenwelt! Die Sonne brannte vor dem Zeltdach hart auf grauen Sand und Schutt. Zu dieser Tageszeit hielten auch Einheimische es nur im Schatten aus. Stellring wußte, noch mindestens zwei Stunden hielt diese Tageszeit der täglichen Bedrückung an. In der Baracke angenehme Wärme aber es war hier nicht mehr heiß. Die Temperatur ähnlich angenehm wie an einem schönen Sommertag zuhause! Auf einem Tisch in der Mitte des dunklen Raumes standen außer eine Kanne Tee drei bauchige Gläser, jedes in Reichweite einer Sitzgelegenheit. Im Hintergrund erkannte er ein Regal mit dunklen Kästen, an einer Stelle flackerte ein schwaches Licht, vielleicht die Leuchtanzeige an einem Funkgerät. Stellring nahm auf einem Holzstuhl den beiden Somalis gegenüber Platz. Achmad eröffnete das Gespräch:

“Sie sind Student, hat mit Ihr Kapitän gesagt.”

“Student mit dem Wunsch, diesen Aufenthalt bald zu beenden, hatte ich zu Ibahim schon gesagt.” Achmad deutete ein Lachen an.

Ibrahim habe ihm von Stellrings Plan berichtet. Auch daß er Verständnis für die Entführung geäußert habe. An die Frage nach dem Stand der Studien für Arabisch schloß sich eine entspannte Unterhaltung an. Ein Gedankenaustausch ähnlich dem mit Ibrahim drei Tage vorher wiederholte sich. Dann fiel der Satz, auf den Stellring gewartet hatte: Achmad schließe eine vorzeitige Entlassung aus der Gefangenschaft nicht aus. Aus diesem Grund habe er Stellring hergebeten. Wenn man sich einig werde, nehme Achmad einen Versuch auf seine Kappe.

Stellring frohlockte. Der Chef der Piraten ließ sich auf die Idee seiner vorzeitiger Heimkehr ein! Anscheinend hatte er sich von Ibrahim überzeugen lassen, die Geisel Stellring sei von der gerechten Sache der Geiselnehmer überzeugt. Der Anführer der Piraten erweckte den Eindruck von Entschlußkraft. Stellring spürte spontane Sympathie.

Allerdings erwarte man eine Gegenleistung, schränkte Achmad ein. Die vorzeitige Freilassung geschähe nicht allein aus Sympathie. Stellring müsse seinerseits ihm, Achmad, entgegenkommen. Er verspreche sich nach Stellrings Rückkehr positive Wirkung auf die öffentlichen Meinung über die Probleme in seinem Land. Er erwäge die Zusage vorläufig noch ohne Zustimmung seiner Organisation und verheimliche Stellring nicht, das Vorhaben werde mit Gefahren verbunden sein.

 

Stellring hatte aufmerksam zugehört. Er sehe sich als Mann ohne übermäßige Ängstlichkeit, mit guten Nerven und einem Grundwortschatz Arabisch ausgestattet. Wie er herauskomme aus dem Camp und welches Entgegenkommen von ihm erwartet werde? Er betone nochmal ausdrücklich, einmal zurück in Freiheit, gebe es von seiner Seite zur Entführung kein böses Wort.

Das erwarte man als Selbstverständlichkeit. Als Gegenleistung reiche dieses Versprechen nicht aus, sagte Ibrahim. Nach gelungener Flucht erwarte man für die Medien eine positive Schilderung des Camps und die Versicherung, daß hier mit den Geiseln schonend umgegangen werde, außerdemein entschiedenes Abraten von Versuchen zu ihrer Befreiung mit Gewalt. Falls die “Atalanta” mit dem Gedanken an gewaltsame Aktionen spiele, solle sie vorab wissen, nicht nur Somalier würden die Opfer sein. Alle Gefangenen der Organisation hielten sich immer in direkter Nähe ihrer Leute auf. Die Zeit für weitere Einzelheiten sei jetzt noch nicht reif. In ein paar Tagen wisse Achmad mehr und komme damit auf Stellring zu. Die Unterredung war beendet. Zu Luc zurückgekehrt, teilte Stellring ihm wie drei Tage zuvor den Inhalt mit.

Ungläubigkeit war Lucs erste Reaktion! Dann wiederholte sich der vorher schon einmal geführte Dialog. Stellring lasse sich auf gefährliche Abenteuer mit ungewissem Ausgang ein. Stellring hielt dagegen. Uneingeschränkt wohl sei auch ihm bei dem Gedanken an ein Abenteuer nicht. Er halte die Untätigkeit nicht länger aus. Die Gefangenschaft dauere vielleicht noch ein halbes Jahr. Er habe sich als Student viel Literatur über Sicherheitsfragen in Entwicklungsländern einverleibt. Nach der Theorie aus Büchern winke Gelegenheit zu praktischer Erfahrung. Risikomanagement sei jetzt gefragt. Er lachte als Luc säuerlich das Gesicht verzog. Wenn Achmads Organisation ihm einen Passierschein schreibe, erscheine das Risiko beherrschbar.

Luc wehrte weiter ab. Ob Stellring glaube, in diesem Land reiche ein einziger Passierschein aus? Er wisse nicht viel über Somalia, aber eines doch mit Sicherheit: das Land leide an Haß und Gewalt zwischen verfeindeten Milizen. Die Clans kontrollierten nur kleine Teilgebiete und auch diese oft nur auf Zeit. Man bekämpfe sich gegenseitig bis aufs Blut und Stellring wage sich mit einem nicht lesbaren Papier bewaffnet zwischen die Fronten in einem ihm unbekannten Land. Er halte es für Irrsinn, sich solchen Gefahren auszusetzen. Stellring war nicht unbeeindruckt. Er sagte, Luc greife den Dingen zu weit vor. Noch warte er auf Klärung der Details.

Ibrahim kam aus der Chefbaracke herüber und übergab ihm einen in arabischer Sprache gedruckten Koran. Wenn es Stellring ernst mit seinen Plänen sei, habe Achmad gesagt, möge er sich so gut wie möglich darin orientieren. Es werde ihm auf seinem Heimweg von Nutzen sein. Ibrahim bot auch für diese Lektüre seine Hilfestellung an.

Stellring beherzigte Achmads Rat. Er nutzte die reichlich vorhandene Zeit und Fortschritte blieben nicht aus. Ibrahim begleitete Lesen und Rezitieren jedes neuen Abschnittes mit steigendem Respekt. Achmad war zwei Tage nach der Unterredung wieder weggefahren und blieb lange aus. Das Warten auf die nächste Besprechung zum gemeinsamen Projekt fiel Stellring trotz Ablenkung durch die Arbeit an der neuen Sprache schwer. Die Tage zogen sich ohne Abwechslung hin. Hatte man Achmad das Projekt an höherer Stelle abgelehnt? Die Schiffsbesatzung war im Camp isoliert. Kein Radio, kein TV!Ibrahim besaß ein kleines Radio. Zusätzlich gab es mit Sicherheit Funkeinrichtungen in der Chefbaracke, von denen man nichts wußte. Es wäre ein Leichtes für Ibrahim, ein paar Neuigkeiten von außerhalb mit den Gefangenen zu teilen! Mit dem Transistorgerät wäre man auch in diesem verlassenen Winkel Afrikas in Minuten über das Nötigste informiert, aber Ibrahim sperrte sich. “Jacobs Verwandter im Geist”, regte Luc sich vergeblich auf. Ibrahim befolgte anscheinend die Anweisung, ihnen jede Verbindung mit der Außenwelt vorzuenthalten. Weder Kapitän und Steuermann noch die Mannschaft der “Stolzenfels” brachten ihn von seiner entschiedenen Haltung ab. Ohne Kontakt nach außen fiel man schnell aus der Zeit. Hansen und Luc zählten sorgfältig die eintönig verstreichenden Tage ab. Strichlisten dienten ihnen als Ersatz für den fehlenden Kalender.

In Europa war Winter, womöglich lag zuhause Schnee. Hier begleitete den Fortschritt der Jahreszeit ein kaum merklicher Wechsel der Witterung. Die Luftbewegung blieb schwach, das Meer immer gleich in seiner trägen Ruhe aber die Mittagshitze hatte zuletzt nachgelassen. Hansen stellte erleichtert fest, Jacobs Gesundheit stabilisierte sich. Der Kapitän dachte mit Sorge an die heißere Jahreszeit wenn die Gefangenschaft noch bis ins Frühjahr dauern sollte.

Zwei Mann der Bewachung fuhren alle drei Tage mit dem Boot ein Stück weit raus aufs Meer zum Fischen. Auch die Geiseln wurden am Fang beteiligt, eine willkommene Abwechslung von der aufgewärmten Tiefkühlkost! Am 5. Januar kam Achmad zurück, aus gleicher Richtung und mit gleichem Fahrzeug wie beim letzten mal. Er zog sich gleich nach der Ankunft zusammen mit Ibrahim zurück in die Chefbaracke. Erst ein paar Stunden zuvor hatten die beiden Schnellboote wieder angelegt. Die Besatzung war ausgestiegen und hatte zwei neu aufgestellte Hütten hinter dem Camp bezogen. Zwei Somalier waren allem Anschein nach verwundet. Einer hatte eine geschwärzte klebrige Binde um den Bauch gebunden, der andere einen Verband am Oberschenkel, er hatte stark gehinkt. Wahrscheinlich gestehe man den Verwundeten ärztliche Behandlung, den anderen eine Erholungspause vor dem nächsten Einsatz zu, hatte Luc gesagt.

Am nächsten Tag kehrte auch das kleine Fischerboot zurück, dieses mal war es vorher nicht zum Fischfang ausgelaufen sondern war volle zwei Tage ausgeblieben. Zehn Afrikaner stiegen aus. Fünf waren unbewaffnet, die anderen hielten je ein Gewehr zur Hand. Sie wirkten frisch und ausgeruht. Wahrscheinlich stand ihnen eine Kaperfahrt bevor. Die Männer ohne Waffe fuhren gleich nach der Ankunft das kleine Stück zur “Stolzenfels” hinaus und legten an. Jeder im Camp konnte sie leicht beobachten. Man schlug Pakete um. Teile der Ladung oder die Reste des Proviants, die man in Baira oder vorher eingelagert hatte?Weder Stellring noch Luc wußte genau, was die “Stolzenfels” geladen hatte. Hansen hatte an ihrem ersten Tag an Bord vage erklärt, man habe auf der Hinfahrt große Machinenteile nach Südafrika gebracht und fahre jetzt mit sperrigem Stückgut zurück. Nichts, was für die Entführer hier ohne die Möglichkeiten zum Abtransport von Interesse war. Falls es um den Proviant ging, kam der Zeitpunkt reichlich spät! Luc sagte, er nähme an, man habe die Vorräte an Lebensmitteln schon längst vorher geplündert. Wenn wider Erwarten nicht dann hoffe er jetzt endlich auf ein paar Kästen Bier.

Der Wunsch blieb unerfüllt. Ein paar Stunden nach Ankunft der zehn neuen Leute brach im Lager am Nachmittag Bewegung aus. Alle Afrikaner ausgenommen die Bewachung der Geiseln versammelten sich auf dem Platz vor der Zentralbaracke. Man stellte sich in gerader Reihe rechts vor der Zentrale auf. Die Rückkehrer aus den Schnellbooten wirkten älter als die zehn vom Fischerboot. Sie zeigten auch weniger Neugier auf die Anstehende Zeremonie. Minuten später trat Achmad aus aus der Baracke und nahm die kleine Parade ab. Die Männer mit Gewehr präsentierten ihre Waffe wie auf einem Kasernenhof, einige hantierten mit geschnitzten Attrappen als Ersatz. Stellring unterdrückte Gefühl der Belustigung. Er hielt nicht viel von kriegerischen Ritualen, verstand nichts von dem was hier vor sich ging. Dem Wehrdienst zuhause war er mit etwas Glück entgangen. Der Eindruck reichte für ein Urteil dennoch aus: die Männer in zerbeulter Hose und T-Shirt hatten wenig Ähnlichkeit mit dem Bild, das man sonst mit Militär verband. Ibrahim stand ein Stück weit seitlich vor der Front. Er stieß einen lauten Ruf aus und alle Mann gleichzeitig führten die gestreckte rechte Hand in Höhe der Schläfen zu einem Gruß. Achmad reckte sich mittig vor der Reihe in Positur. Er setzte zu einer Ansprache an seine Männer an. Die Beobachter sahen aus der Entfernung nur Mundbewegungen, Worte ließen sich wegen des Windes in Gegenrichtung nicht verstehen. Der Kommandeur sprach einige Minuten lang. Keine Bewegung seiner Soldaten während dieser Zeit. Ibrahim gab ein neues Kommando, die Front quittierte es mit einem trotz der Brise vernehmbaren Hurra. Luc zeigte sich beeindruckt: