Fluchtpunkt Mogadischu

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Der Steuermann versuchte sich abzulenken und schrieb von Hand in eine Kladde. Vielleicht faßte er Protokolle ab. Hansen beugte sich zu ihm hinüber und sprach leise auf ihn ein. Luc Haanen bot sich das Bild einer Idylle. Er legte seine Unversöhnlichkeit vorübergehend ab. Herrschten nicht Enge und Hitze in dem zu kleinen Raum und begegnete die Schiffsführung der Mannschaft mit mehr Respekt, seine Erwartung an diese Schiffstour hätte sich erfüllt. Noch am ersten Tag nach dem Anheuern hatte er sich das Leben an Bord so ähnlich vorgestellt.

Die Lichtmaschine der MS „Stolzenfels” wurde bei Stillstand der Hauptmaschine von einem kleinen Motor angetrieben. Ihr Strom speiste die Deckenlampe. Vorhin, rechtzeitig vor der oberflächlichen Suche im Gang, hatte Tran sie hastig ausgeknipst. Sie waren auch dann nicht zum Ausharren in Finsternis verdammt, falls die Piraten ihnen die Stromversorgung kappten. Noel hatte für diesen Fall mit Taschenlampen vorgesorgt. Wenn jeweils nur eine in Betrieb war, reichte der Vorrat für ein paar Tage aus.

Eben noch hatte Stellring den Philipinos Komplimente für die solide Abstützung des Zugangstors gemacht, da setzte das dumpfe Hämmern der großen Maschine wieder ein. Noch klang es leiser als wenn das Schiff in Bewegung war. Nur Leerlauf, dachte er aber das hieß, die Entführer hatten den Motor mit eigenen Mitteln wieder in Betrieb genommen. Er sah Hansen mißtrauisch an:

“Sehr lange haben unsere Freunde oben nicht gebraucht. Wenn die Maschine jetzt schon läuft, setzen sie wahrscheinlich auch die Steuerung in Gang.” Es schien, der Kapitän wich aus oder er hatte die Frage wegen des Lärms nicht verstanden. Auch Jacob schien alarmiert:

“Wie ist das möglich, Herr Kapitän?” Hansen kämpfte mit seinen Worten gegen den Lärm der Maschine an:

“Unglaublich. Vielleicht haben sie Handbücher gängiger Steuerungen dabei. Oder sie halten über Telephon Kontakt mit Komplizen, die mit diesen Systemen sehr vertraut sind.” Er wischte sich die Stirn. Der Schiffsdiesel änderte den Klang. Die Vibration war nicht länger als eine halbe Stunde ausgesetzt gewesen. Jetzt erfaßten sie wieder das ganze Schiff. Das lästige Geräusch der letzten Tage und Nächte war zurückgekehrt, hier unten noch stärker als in den Oberdecks und in Brückennähe. Die Mannschaften hatten sich in ihrem Raum auch wegen des Lärms nie länger als nötig aufgehalten.

Leerlauf, noch brachte die Maschine keine Leistung für den Fahrbetrieb. Der Maschinist hatte Luc und Gerd am ersten Tag, noch ehe der Ärger begonnen hatte, durch das Schiff geführt. Danach war der Mann krank geworden und hatte die Fahrt abgesagt. Der Antriebsdiesel stand gekapselt in einem eigenen Raum auf dem zweiten der fünf Decks. Sie hatten vor dem Eintritt in den Maschinenraum Ohrschützer angelegt. Die Schutzkappen wären jetzt auch im Versteck von Nutzen, aber um sie heranzuschaffen hatte die Zeit für Tran und seine Leute nicht gereicht.

Der gedämpfte Klang hellte sich auf. Die Entführer fuhren die Maschine hoch. Daneben ein anderes, leiseres Geräusch, das nicht bis zur Brücke reichte: eine schwache Unwucht der Schraubenachse und das Rauschen der Heckwelle hinter den Propellern. Das gleiche Gefühl wie vorher schon wenn er sich hier kurz aufgehalten hatte, stellte sich wieder ein: Stellring glaubte auf der Haut zu spüren wie die Maschine wilde Kräfte auf die Schrauben übertrug. Den Eingeschlossenen nicht sichtbar, warf die “Stolzenfels” jetzt wie vor der Kaperung eine schäumende Bugwelle auf. Kein Kunststück, den neuen Kurs zu erraten. Luc Haanen rief mit gespielter Munterkeit:

“Schiff ahoj, jetzt heißt es zurück nach Afrika! Kapitän, Sie haben unsere Entführer unterschätzt. Die neue Brückenwache fährt das Schiff auch ohne Schlüssel und Zugangscode. Die reguläre Besatzung überläßt man hinter ihrer Verschanzung bis zum Sankt Nimmerleinstag sich selbst.”

Das Schiff setzte mit neuem Kurs die Reise fort. Die Besatzung saß in der Falle. Gerd Stellring rief sich die letzten Tage in Erinnerung. Ehe er und Luc an Bord gegangen waren, hatten sie die beiden Mädchen, Sarina und Annette zum Flughafen Beira begleitet. Die Beiden mußten inzwischen schon zurück in Europa sein. Atmeten frischere Luft und verspürten wieder die Kühle der temperierten Zone nach der wochenlangen Hitzefahrt durch Afrika. Seit der Trennung am Flugsteig in Beira wurde Stellring Sarinas Fehlen jeden Tag schmerzlicher bewußt. Hätte der Kapitän ihm das Satellitentelephon nicht abgeschlagen, wenigstens ihre Stimme hätte er dann und wann im Ohr. Der Steuermann der “Stolzenfels” hatte sich auf seine Anweisungen berufen und die Überlassung für Privatgespräche abgelehnt.

Der Kapitän war an der früh eingetretenen Verstimmung schuld. Hansen war entweder aus unbekanntem Grund ein Menschenfeind, zerfallen mit sich und der Welt, oder er kam mit der Hitze nicht zurecht. Wahrscheinlich hatte er sich vom Einsatz seiner nicht zahlender Passagiere mehr versprochen. Jacob hatte ihm und Luc und den drei Philipinos Bürsten, Pinsel und Farbtöpfe hingestellt und einen Deckanstrich der Aufbauten verlangt. Ein Ansinnen, das ihnen nicht unbillig erschienen war. Stellring und sein Freund hatten beim Anheuern nicht erwartet, sie erhielten die Passage ohne Gegenleistung. Sie teilten sich zu zweit eine winzige Kabine, waren froh gewesen, der Kapitän hatte ihrer Mitfahrt zugestimmt. Formalitäten waren vermieden worden, er hatte sich Fragen nach ihrem Versicherungsschutz geschenkt, nur vorsorglich verlangt, daß eine Verzichtserklärung auf Ansprüche bei Unfällen oder einer Erkrankung unterschrieben wurde.

Gleich nach dem Streit hatte der Kapitän sie von der Tafel der Schiffsführung verbannt. Sie nahmen die Mahlzeiten seitdem zusammen mit den Philipinos und den drei Anderen vom Vorderschiff. Man hatte keinen Grund zur Klage über die Verpflegung. Joe, der Koch stand dafür ein, daß die Versorgung der Mannschaft nicht schlechter als die ihrer Führung war. Beide, Stellring und Luc waren ohnehin nicht verwöhnt nach der langen Rucksacktour.

Der Grund des Streits gleich am ersten Tag auf See? Luc hatte Jacob vorgeschlagen, man nähme sich den Anstrich jeweils im Schatten vor. Das Schiff fuhr Richtung Nord. Am Vormittag habe man an der linken Seite Sonnenschutz, bei der Arbeit am Nachmittags dann an Steuerbord. Luc hatte die Zustimmung als selbstverständlich angesehen aber der Steuermann hatte sich gegen die Einteilung gesperrt. Vielleicht war Luc mit zu viel Selbstbewußtsein im Tonfall aufgetreten. Der Steuermann hatte verfügt, man beginne mittschiffs an Steuerbord und bis Marseille habe man alle fleckigen Zonen rundum geschafft. Nicht im Wechsel sondern im Uhrzeigersinn sei kontinuierlich auszubessern, bis in die Höhe hinauf, die von der Leiter aus erreichbar sei, mindestens aber bis unter die Auskragung des nächsten Decks.

Vier Stunden gingen sie vormittags der Arbeit gemeinsam mit den Philipinos nach, dann war Pause. Schon gegen drei Uhr nahmen die Philipinos die Arbeit an der Sonnenseite wieder auf. Die Hitze nahm zu dieser Zeit noch zu. Luc Stellring hatten die Schikane nicht akzeptiert und die Arbeit auf der glühend heißen Sonnenseite des Schiffes abgelehnt. Der Kapitän hatte gedroht, er setze sie bei nächster Gelegenheit an Land. Sie hatten sich aufsässig verhalten und dazu gelacht.

Glaubwürdig war seine Drohung nicht. Die Gelegenheit bot sich frühestens in Suez. Auch wenn man in seinem Metier nicht zu Hause war, ließ sich leicht sehen, anlegen würde man ihretwegen nicht. Mochte der Kapitän über die Verstärkung der Mannschaft in Beira wüten, die Kosten und den Zeitverlust würden von einem Reeder niemals akzeptiert. Daß man sie zwangsweise dem nächstbesten Boot mit Fischern übergab, war ebenso unwahrscheinlich, man befand sich immerhin auf einem deutschen Schiff. Luc äußerte im Ernst die Sorge, man packe sie im Halbschlaf und beide gingen sie nachts spurlos über Bord. Mit blinden Passagieren solle das vorgekommen sein. Stellring hatte ihn beruhigt. Sie und die Philipinos kamen bestens miteinander aus. Stellring mochte die drei immer gut gelaunten Burschen. Die Verständigung mit ihnen, Khan ausgenommen, war nicht leicht. Man konnte sicher sein, um jemand unfreiwillig über Bord zu schaffen, verspürten die Philipinos weder Lust noch besäßen sie dazu genügend Kraft. Die drei Anderen vom Vorderschiff blieben die meiste Zeit unter sich. Wie Kriminelle sahen auch sie nicht aus.

Das Schiff hielt Nordkurs. In spätestens sieben Tagen war der letzte Abschnitt ihrer Tour Vergangenheit. Vor Stellrings Abschluß an der Uni standen nur noch Formalien an. Seine Abschlußarbeit war akzeptiert, die Prüfungen vor der Abreise waren gut gelaufen. Luc Haanen war seit einem Jahr im Beruf und kehrte zurück in ein ungeliebtes Büro in Brüssel. Er analysiere die Statistik von Schadensfällen in einem Versicherungskonzern, hatte er erzählt. Die Auskünfte auf Nachfrage nach Näherem hatten sich lustlos angehört. Anscheinend sah er sich nicht in seinem Traumberuf.

Stellring führte einige Bücher zur Vorbereitung auf die Abschlußprüfung mit. Hatte sein Gewissen damit beruhigen wollen aber vorher schon geahnt, viel Zeit erübrige er für sie auf der Reise nicht. Seit die Mädchen nicht mehr dabei waren, hatte er sie zum ersten mal zur Hand genommen im Bewußtsein, der Zeitabstand zum abschließenden Auftritt vor seinem Professor war noch groß. Er würde Teile des Inhalts wieder vergessen haben wenn der Nachweis ihrer Kenntnis gefordert war. Dennoch war die Zeit, die er mit der Lektüre hinbrachte nicht vertan. Die Gedanken bewegten sich wieder in dem Metier, in das er zurückkehren würde sobald die Reise hinter ihnen lag.

Luc hatte seinen Reiseführer zur Hand genommen. Er hing in Gedanken den Eindrücken ihrer langen Tour nach. Sie hatten die weiten Wege bis Beira nicht in voller Länge gemeinsam zurückgelegt. Die Bekanntschaft mit Luc und Jenny ging auf das Zusammentreffen in einem Hostel in Wadi Halfa zurück, einer Stadt nahe der Grenze zwischen Ägypten und Sudan. Stellring und Sarina hatten mit ihnen am gleichen Tisch das Frühstück eingenommen. Man hatte festgestellt, sie hatten bis dahin fast die gleiche Reise hinter sich gebracht, die gleichen Städte und Tempel in Ägypten im Abstand von ein oder zwei Tagen besucht. Jenny und Sarina waren schnell vertraut geworden. Sie waren den ganzen Tag zusammen durch die Stadt gestreift und hatten abends beschlossen, der nächste Abschnitt, die lange Wüstenstrecke bis nach Ad Damir mit dem Linienbus würde gemeinsam zurückgelegt. Seitdem hatte sie sich bis zum Abschied von Sarina und Jenny in Deira in Mozambique nicht mehr getrennt.

 

Luc spürte eine Spur Neid wenn er auf Stellring sah. Der neue Freund war nicht zum Leben im Bürosessel verdammt wie er seit einem Jahr, sondern war, wenn auch nicht mehr auf lange Zeit, Student. Ein exotisches Fach, hatte er Luc erläutert, Politische Wissenschaften, Teilgebiet Politikgeschichte mit Schwerpunkten auf den Feldern Konflikttheorie und Internationale Beziehungen. Die Beschäftigung mit solchen Gegenständen stand bei den meisten Menschen in Brüssel wie fast überall nicht hoch im Kurs. Stellrings besonderes Interesse gelte dem Übergang der früheren Kolonien Afrikas in die Unabhängigkeit. Thema seiner Abschlußarbeit: die Geschichte der der “Mau Mau”- Bewegung der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Kenia. Luc hatte gesagt, das Fach erscheine ihm nicht vielversprechend für den Broterwerb. Ein unfreundlich klingender aber ehrlicher Kommentar! Er lag nicht falsch. Stellring brauchte Glück, sollte sich nach Ende des Studiums ein Posten finden, dessen Bezahlung den Mühen der Ausbildung entsprach. In Deutschland und vermutlich in anderen Ländern auch, standen statistisch für Absolventen in seinem Fach die Aussichten nicht gut für eine erfolgreiche Berufskarriere.

Nicht ausgeschlossen, er erreichte eine bezahlte Stelle an seiner Universität. Sarina befand sich als Übersetzerin beruflich in einer besseren Lage. Luc war von ihrer Aussicht auf eine Arbeitsstelle in Brüssel fasziniert gewesen. Ein besserer Posten als bei den Übersetzerdiensten der EU sei in ihrem Fach nicht zu finden. In jeder Hinsicht ein Traumjob, hatte er gesagt. Woher er das so genau wisse? Das sei allgemein bekannt, Luc und seine Freundin Jenny würden sich jedenfalls unbändig freuen, käme sie beruflich in ihre Stadt. Die Entscheidung, über Zu- oder Absage stand noch aus. Der Weg von Köln nach Brüssel war nicht weit aber Stellring erwartete Probleme, würden er durch eine Zusage örtlich von ihr getrennt. Sarina hatte im Sudan für ihre Gruppe manchmal die Dolmetscherin gespielt. Mehr als einmal hatten die Einheimischen gestaunt wenn sie Einwohner in Arabisch angeredet hatte. Sarinas Mutter stammte aus Afghanistan hatte sie erzählt. Der Nachname Arnstein nach der Adoption stammte von ihrem Stiefvater aus Deutschland. Stellring wußte, sie sprach ungern über Familiäres. Schmerzliche Zusammenhänge standen im Hintergrund. Jenny hatte sie einmal vorsichtig auf ihren Vater angesprochen. Der Zeitpunkt war schlecht abgepaßt gewesen. Sie hatte Auskünfte nicht abgelehnt aber auf später verwiesen und war von sich aus nicht mehr auf den Punkt zurückgekommen. Weder Jenny noch Luc hatten dann nochmal nachgefragt.

Sarina interessierte sich für Fragen der Politik. Mit Stellring war sie als Besucherin eines Vortrags an der Universität bekannt geworden. Während der langen Tour hatten die Vier sich mehr als einmal über den Stand der Entwicklung und die Machtverhältnisse in den bereisten Ländern ausgetauscht. Die Nähe zu Stellrings Studienfach lag auf der Hand. Meistens hatte er solche Gespräche angestoßen und sie wiederholten sich mehrfach, nur wenig variiert. Die Aussicht auf Entwicklung in den Länder im Osten Afrikas stände schlecht. Armut und das Fehlen von Bildungschancen werde als gottgegeben hingenommen. Kaum Widerspruch gegen Privilegien und Widerstand gegen die überkommene Machtausübung im Kleinen wie im Großen! Vor allem auf dem Land zeige sich keine Auflehnung gegen greifbar ungerechte Hierarchien. Dieser Befund sei seit langem allen ausreichend bekannt. Neu sei für ihn, Stellring, aber die Einsicht, die Menschen erlebten dennoch ihr Dasein nicht als entbehrungsreich. Seine These: man gebe sich hier den Freuden des Lebens hin so gut von den Umstände erlaubt. Die für Europäer sichtbaren Defizite der Mehrheit an Wohlstand und Teilhabe aufgewogen durch körperlich vitale Präsenz der Menschen! Er bewundere ihre Lust an einer Gegenwart von hier und jetzt ohne Vorbehalt. Großzügig diese Entschädigung für den Verzicht auf begrenzten Einfluß und den kümmerlichen Rest an Machtkontrolle, den Europa seinem Einwohner gewährt! Stellring verglich die trübe Stimmung in Kneipen daheim mit immerwährendem Gelächter und guter Laune an jedem Getränkestand und an Tankstellen längs der Reiserouten in Afrika. Luc hatte bei solchen Betrachtungen nicht zugestimmt. Seine Eindrücke wichen von Stellrings meistens ab ohne daß ihn der Befund sonderlich berühre. Auch von Jenny kam Widerspruch: Stellrings Sicht sei auf seine Männerwelt beschränkt und frauenfeindlich. Wie sehe die Lage denn für Mädchen und Frauen aus? Mädchen fehlten im Straßenbild, zumindest in den Gegenden mit starkem Einfluß des Islam. Sie nehme Stellring nicht ab, daß für weibliche Teenager, hinter Mauern sorgfältig versteckt, dieser Zustand freudig hingenommen werde. Stellring hatte dann beharrt, unglücklich sähen jedenfalls etwas ältere Frauen nicht aus, die man zu Gesicht bekam, gleich ob verheiratet oder nicht. Ganz unerträglich werde eine zeitweilige Beschränkung für Mädchen schon nicht sein. Immerhin hielten dicke Mauern die Hitze des Tages ab. Dahinter auszuruhen sei für ihn weniger Zumutung als Privileg. Das andere Geschlecht dagegen, Sonne und herrschender Hitze ausgesetzt, scheue vor der mannhaften Anstrengung der Tagesarbeit nicht zurück. Hatte er provoziert oder vertrat er diese Einstellung im vollem Ernst?

Jenny hatte gemeint, sie habe sexistische Töne herausgehört und pikiert gefragt, wie Stellring sicher sein könne, die eingesperrten Mädchen ruhten sich nur aus. Er wisse ebenso wie sie, Kinder, vor allem Mädchen würden, gut vor öffentlicher Wahrnehmung versteckt, als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Luc sah sie in der Erinnerung noch vor sich, Entrüstung stand deutlich ins Gesicht geschrieben. Er fragte sich seitdem, warum nahm sie jedesmal wieder diese halbseidenen Sprüche bei Stellring ernst? In ihrer Umgebung zu Hause wurden Frauen nicht diskriminiert. Hier verhielt sie sich aus nichtigem Anlaß als gelte es einen Einsatz für den Sieg des Feminismus. Sarina beteiligte sich an solchen Diskussionen nicht. Mit ihrer Mutter aus Afghanistan käme ihr in dieser Frage noch am ehesten ein kompetentes Urteil zu, aber sie schwieg. Sie kannte Stellring schon längere Zeit und schätzte seine Stichelei vermutlich richtig ein: Stellring war noch Student. Manche seiner Tiraden erschienen Sarina anscheinend nicht mehr als Scherze am falschen Platz und nicht der Kommentierung wert. Mit überflüssigem Schabernack solchen Kalibers hatte Stellring Jenny nicht nur einmal provoziert. Noch waren beide nicht soweit mit den anderen vertraut, daß Jenny bei Stellring, zwischen gezielt frivol und ernsthaft unterscheiden konnte.

Jenny hatte sich bei passender Gelegenheit einmal revanchiert: der Bus hatte sich zwischen Al-Kandaq und Add-Dabah beim Abstecher zu einer kleinen Ortschaft seitlich der Piste festgefahren. Feiner Sand hatte sich zu einer kleinen Düne aufgeworfen und den Weg versperrt. Statt auszuweichen hatte der Fahrer den Durchbruch mit Anlauf auf direkten Weg versucht. Bis über die Naben hatte der Bus hatte sich mit der Antriebsachse in lockeren Sand gewühlt. Ein Vorfall, der auf solchen Strecken nicht ungewöhnlich war. Man hatte mitgeführte Schaufeln ausgepackt und an die Mitreisenden verteilt. Zusammen mit allen anderen hatten auch drei der vier Europäer angepackt und mit Erfolg gegraben. Jenny hatte die Mitwirkung abgelehnt und den Einsatz mannhafter Anstrengung gefordert. Stellring, Sarina und Luc hatten die die Retourkutsche heraus gehört und beim Schaufeln laut gelacht.

Die schlimmste Befürchtung hatte sich nicht erfüllt. Keiner machte draußen Anstalten zum Sturm auf den Behelfsbunker, ein Versuch, die Eingeschlossenen auszuräuchern fand nicht statt. Die Piraten ließen sich Zeit. Kein Zweifel, sie setzten auf die nur scheinbar schonende Wirkung von Zeit und Hitze. Die Eingeschlossenen waren der Enge und dem monotonen Stampfen der Maschine ausgesetzt. Die Temperatur stieg nicht mehr weiter an, auf längere Dauer würde sie trotz reichlich zugeführter Getränke nicht erträglich sein. Stellring schätzte die Temperatur auf über fünfundvierzig Grad. Niemand litt Durst. Hunger kam nur bei einem einzigen Bewohner auf, aber bitterer Gestank erfüllte den Raum. Stellring fühlte sich schwach. Allein Joe, der Koch hatte sich seinen Appetit bewahrt und aß. Hansen bereitete in einem Tagebuch die Chronik der Entführung vor. In Zeitabständen von immer zwei Stunden trug er befriedigt ein, zumindest habe keiner seiner Leute unter der Belastung bisher durchgedreht. Kein Grund, sich Illusionen hinzugeben! Wenn er sie längere Zeit diesen Bedingungen und der hoffnungslosen Lage aussetzte, würden unvermeidlich bald die ersten krank. Den versprochenen Bericht über die letzten Minuten auf der Brücke ehe er entkommen war, hatte er Jacob nicht abgeliefert. Der Steuermann hatte zu seiner Erleichterung auch nicht noch einmal nachgefragt.

Nach vierundzwanzig Stunden hatte sich am Geräusch des Motors nichts geändert. Keinerlei Anzeichen dafür, daß ein Hilfsschiff des Militärs in der Nähe war! Stellring und Luc Haanen hatten Hansen nach Ablauf von weiteren vier Stunden zur Übergabe aufgefordert. Die Hilfe bleibe aus, diese Lage sei hoffnungslos. Hansen hatte vorgegeben, nach der letzten Angabe der “Atalanta” treffe die Hilfe nun in Kürze ein. Bei Kampfhandlungen zwischen den Piraten und dem Militär dürfe man nicht als Geisel in der Hand der Entführer sein. Stellring und Luc wurden mit Mehrheit überstimmt. Die Besatzung hielten weitere zwei Stunden lang aus, dann kapitulierte der Kapitän.

Längst vorher hatten die Piraten das Versteck gefunden. Ein Mann aus Ibrahims Kommandos hatte bei genauerer Inspektion des Ganges zwischen den Laderäumen das schwache Licht aus einer Lüftungsöffnung nicht übersehen. Minuten später hatte Ibrahim selbst vor dem Tor gestanden. Er wünsche den Kapitän zu sprechen. Hansen hatte die Stimme aus dem Kaperboot sofort erkannt. Die Verständigung quer durch das solide feuerfeste Tor hätte keinen erhöhten Stimmaufwand vorausgesetzt, dennoch hatte Hansen mit erhobener Stimme seinen Protest wiederholt. Er rate den Piraten zum Rückzug, es werde sonst Blutvergießen geben. Die Position seines Schiffes sei der Flottenleitung der “Atalanta” jederzeit genau bekannt. Ein Hilfsschiffe sei unterwegs, Spätestens in ein paar Stunden werde man mit Gewalt befreit. Ibrahim hatte ihn grob unterbrochen.

“Schnauze halten, Kapitän, schließt das Tor auf oder wir räuchern euch da drinnen aus.” Die Blicke der Eingeschlossenen waren fast gleichzeitig auf ein verschlossenes Bullauge gefallen. Es war im Dunkel unter der Decke kaum erkennbar. In der Eile hatte die Zeit zur Sicherung dieser Öffnung nicht gereicht. Irgendwann während der langen Warterei hatte Luc den Anderen die Gefahr bewußt gemacht. Die Mühe zum Aufbrechen das Stahltores könnten die Piraten sich leicht ersparen. Ein paar große brennende Holzstücke von außen in den engen Raum geworfen und ihnen bliebe kein Ausweg als bedingungslose Übergabe. Sie hatten mitgehört wie Ibrahim einem Begleiter befohlen hatte, er solle Wache halten, er selbst käme umgehend zurück.

“Natürlich geben wir nach sobald es soweit ist”, war Hansen den Fragen seiner Mannschaften zuvorgekommen. “Denke nicht im Traum an einen Heldentod für meine Reederei.”

Ibrahim hatte auf der Brücke Bericht erstattet, Achmad sich als entschlossener Herr der Lage seinem Kommando präsentiert:

“Gut so. Die paar Mann haben sich ihr Gefängnis selbst gebaut. Jeder andere Ort im Schiff wäre für uns weniger bequem. Sie werden in der Hitze schwächer, länger als drei Tage halten sie da unten nicht aus. Wer danach rauskommt, ist für Gegenwehr zu schwach, man erspart uns ein Problem.”

Achmad Rasul Dalmar war der unbestrittene Anführer der Aktion. Sein Abschluß an einer Hochschule in Nordengland war fünf Jahre alt. Zwei Jahre lang im Anschluß an das Studium hatte er den Beruf als Elektronikspezialist in einer kleinen Firma ausgeübt. Dann war er seiner Eltern wegen nach Somalia zurückgekehrt. Er hatte vor dem Studium im Ausland schon Interesse für Fragen der Politik gezeigt. War einer von drei Leuten seines Dorfes gewesen, die regelmäßig eine Zeitung lasen. Während der Zeit in England hatte er sich der Gruppe seiner Landsleute in London angeschlossen. Interesse hatte er an der größten Fraktion dort gezeigt. Sie strebte eine Modernisierung der Zustände in der Heimat mit Hilfe von Technik und Methoden des Westens an, aber nur so behutsam, daß die Gefahr vermieden wurde, die Eigenart seines Landes nehme Schaden. In diesem Sinn hatte auch er sich bei der Diskussion mit seinen Landsleuten geäußert. Zweimal hatte er Vorträge mit wenig Resonanz vor seinen Landsleuten gehalten und einen kleinen Artikel in der Zeitschrift der Gruppe publiziert. Er besuchte selten die Moschee und hielt die Pflichten eines Moslems nur lässig ein. Seine Fraktion war die zahlenmäßig stärkste gewesen, stärkere Bewegung war aber von der kleineren Untergruppe der islamistischen Somalier ausgegangen. Achmad hatte für ihre radikalen Thesen wenig Sympathie verspürt.

 

Er hatte Geld für die Familie zu Hause auf den Weg gebracht. Es gab keinen sicheren Übertragungsweg, die Kuriere nicht zuverlässig, zweimal hatte man die ganze Summe unterschlagen. Die Bitte um Hilfe der kranken Eltern waren dringlich geworden. Er war zurückgekehrt und hatte festgestellt, seine Qualifikation war in der Heimat nicht gefragt. Wohin sich der Blick gewendet hatte, dringender Bedarf zur Linderung von Not und Armut war damals nicht anders als jetzt auch unübersehbar aber der Verfall der Wirtschaft und fehlende Sicherheit ließen Ausübung seines Berufs zu. Er hatte zu einer anderen Art Broterwerb gegriffen und den Anschluß an die Gruppe von Ibn Alrah gesucht. Ibn Alrah gehörte dem gleichen Volksstamm in Somalia an wie er selbst. Er war Enkel des Fürsten, der zu Zeiten der Großeltern in der Heimatregion Feudalherrscher gewesen war. Der Vater von Ibn Alrah führte jetzt den Klan. Sein Sohn hatte sich mit dem Vater überworfen und sich zum Anführer einer Aktionsgruppe gemacht. Über Absichten und Ziele wurde nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Achmad hatte ohne Mühe die Art seiner Unternehmungen herausgefunden. Ibn Alrahund die Leute seiner Gruppe verfügten über Macht in der Gegend um Achmads Dorf und sie verdienten Geld.

Was hatte zur Bildung von Ibn Alrahs Aktionsgruppe geführt? Elend und Anarchie im Land hatten überhand genommen. Die Klanchefs in der Provinz Galguduud hatten mit der Mehrheit der wenigen, die an der Ratsversammlung teilgenommen hatten, einen folgenschweren Beschluß gefaßt: Schiffe, die nahe der Küste die Provinz passierten, sollten gekapert werden. Lösegelder würden erlöst. Ihr Einsatz würde die schlimmste Not der Menschen in ihrem Land ohne Regierung und Gesetz verhindern. Das Konzept war von politischen Aktivisten aus Palästina vorgetragen worden. Sie hatten Unterstützung angeboten. Man verfügte über vertrauenswürdige Helfer und Verbindungen an den Golf und nach Europa. Die Abwicklung von Zahlungen der Schiffsbesitzer traue man sich mit deren Hilfe zu. Der Rat war mißtrauisch gewesen und hatte nur zögernd zugestimmt. Der Bürgerkrieg im Land würde noch lange nicht beendet sein. Hilfe von außen wurde von anderen abgefangen. Um das Überleben notdürftig zu sichern, führte an notfalls unkonventionellen Maßnahmen zur Geldbeschaffung kein Weg vorbei. Gegen die Bedenken einzelner, darunter Ibn Alrahs Vater, hatte diese Meinung der Mehrheit sich durchgesetzt.

Der Auftrag zur Erprobung der Methode war an eine Gruppe Freiwilliger gegangen, sorgfältig ausgewählt aus mehreren Regionen der Provinz. Ibn Alrah Junior hatte für den Klan seiner Familie teilgenommen; nicht lange und er hatte sich als Anführer durchgesetzt. Die erste Aktion unter Anleitung der ausländischen Berater war zufriedenstellend abgelaufen. Ziel war eine kleine Jacht auf Weltumsegelung gewesen. Man hatte vier der fünf Leute der Besatzung im Halbschlaf überrascht. Der Besitzer und Angehörige der Besatzung hatten ohne lange Verzögerung Lösegeld bezahlt und dieses Geld, vermindert um eine Provision für die Vermittler war kurz danach in Galguduud eingegangen. Die Überfallenen waren glücklich gewesen, daß man sie gleich anschließend laufen ließ. Auch bei den nächsten Aktionen verzichtete das kleine Kommando auf den Einsatz von Gewalt. Die Besatzungen selbst größerer Schiffe, leisteten kaum Gegenwehr. Beim Blick in Gewehrläufe folgte man der Anweisung zum neuen Kurs zur Küste ohne Widerstand.

Die Leute aus Palästina hatten Wort gehalten. Sie organisierten fast störungslos die Zahlungen gegen eine faire Provision. Die Beträge liefen in einer verdeckt eingerichteten kleinen Zentrale in Daressalam. Gegenwehr fand nicht auf den Schiffen sondern in den Medien statt. Jede neue Aktion lösten Proteste der Opfer aus. Presse und Politik nahmen sich des Themas an, aber das Verfahren leistete seinen Dienst. Nach einiger Zeit hatten die Schiffe ihre Route weiter von der Küste weg verlegt. Die Schutzvorkehrung brachte nicht viel Erfolg, das Kommando Ibn Alrah und andere Gruppen junger Somalier zogen nach. Besser ausgerüstete und schnellere Boote wurden von einem Teil der Einnahmen angeschafft. Sie schufen die Voraussetzung zu Operationen auch auf Hoher See, weiter ab von der Küste bis zu den nach Osten verlegten Ausweichrouten der begehrten Beute.

Achmad hatte sich über diese Zusammenhänge informiert. Er hatte die Entführungen nicht ohne Vorbehalte akzeptiert. Auf lange Sicht konnte dieser Weg seiner Stammesbrüder zu keinem guten Ende führen. Als Nothilfe sah er sie als vertretbar an, solange man den Entführten keine brutale Gewalt antat. Wenn er sich vermeidbares Elend und Tod vor der Zeit in seinem Heimatort vor Augen führte, fand er widerwillig, Ibn Alrahs Methode war als Nothilfe erlaubt. Im Land seiner Ausbildung hielt man die Sagen des Robin Hood in Ehren. Der Räuber hatte nach eigener Ermächtigung genommen und zugeteilt. Wer hatte das Recht, über Ibn Alrahs Leute den Stab zu brechen wenn sie ihren vom Hungertod bedrohten Landsleuten mit Mitteln halfen, in denen die reiche Welt Verbrechen sah? Achmads Lage war hoffnungslos. Ohne ein Anfangskapital, ohne Maschinen und Strom, sie anzutreiben nützte auch ihm die Ausbildung in England nicht. Nicht nur der Hunger in seinem Heimatdorf war ihm vor Augen getreten sondern die Krankheit der Eltern, deren Besserung wenn überhaupt möglich, allein in seinen Händen lag. Sie hatten von seinen Plänen nichts geahnt. Er hatte Grund zur Annahme gehabt, wüßten sie davon, sie hätten ihm jede Beteiligung streng untersagt.

Er war einer Einladung als Gast von Ibn Alrah und Beobachter gefolgt. Die Kommandoaktion hatte unblutig geendet. Achmad hatte den Rest an Vorbehalten überwunden und Ibn Alrah erklärt, er sei zur Teilnahme an der nächsten Aktion bereit.

Der Anführer hatte ihn von Beginn an freundlich aufgenommen. Hatte schnell erkannt, die Kenntnisse des neuen Mannes konnten von Vorteil sein. Wenn sich die Führung eines Schiffes einmal hartnäckig weigerte, Befehlen der Entführer nachzukommen, hätte man notfalls fachliche Kompetenz bei der Übernahme von Motor und Steuerung zur Hand. Er hatte Achmad zu einem Schulungskurs nach Tripolis entsandt. Nach offizieller Lesart diente der Kurs dort der Ausbildung in Navigation. Die Zentrale in Daressalam hatte für Spezialkurs eines englischen Experten unter Vertrag genommen. Er hatte Achmad und zwei Landsleute aus der Nachbarprovinz waren in der Kunst geschult, wie eine blockierte Schiffssteuerung gangbar zu machen war. Die Teilnehmer hatten Theorie und Praxis über Systeme der Sicherung gesammelt, der Spezialist hatte ihnen umfangreiches Material mit auf den Weg gegeben. Seitdem führte Achmad bei den Kommandounternehmen ein paar Handbücher ständig in einem kleinen wasserdichten Koffer mit. In einem einzigen Fall von hartnäckigem passivem Widerstand hatte er die Unterlagen angewendet. Auch bei der “Stolzenfels” war die Anwendung in Reichweite gewesen. Das Ungeschick des aufgeregten Kapitäns vorhin hatte ihm die zweite Probe auf seine Findigkeit erspart.