Der Kopf

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»Leider nein, Herr Staatssekretär«, sagte Terra sorgfältig und verbeugte sich tief.

»Ich bin nicht Staatssekretär.« Graf Lannas runzelte die glatte Stirn. »Um Vergebung«, sagte Terra.

»Und das Buch?« Der Vater sah die Tochter an, dabei bekam er ein Grübchen. Sie hatte sich gefaßt. »Bei Mila. Wir lasen Ariost. Der Herr ist –«

»Terra, Student der Rechte.« Er setzte mit Ausdruck hinzu: »Ich habe die Ehre, Exzellenz, ein älterer Freund und Mentor Ihres Herrn Sohnes, des Grafen Erwin, zu sein.«

»Dann muß ich mit Ihnen sprechen. Mein Sohn macht dumme Streiche.«

»Er ist nicht immer in den besten Händen«, sagte Terra über die Achsel. Mangolf trat vor. »Ich bin in der Lage –«

»Der Kurier?« fragte der Botschafter schnell. Um sein doppeltes Mißverständnis zu entschuldigen, lud er zum Sitzen ein.

»Zweifle noch einmal an mir!« raunte Terra. Aber Mangolf sah ergriffen aus. Dies alles war vom Schicksal auf ihn gemünzt! Terra dachte sich aufzuspielen und doch setzte er nur das Schicksal in Gang. »Hier sitze ich endlich im Angesicht der Macht. Sie hatte schon immer ein Auge auf mich, vielleicht war dies Auge Graf Erwin selbst?«

Graf Lannas verhörte, indem er einen Teller mit Kuchen aufaß, die jungen Leute wohlwollend über Familie, Studien, gesellschaftliche Verbindungen. Dazwischen fragte er alle Welt nach seinem Kurier. Mangolf stand auf. »Ich stelle mich zur Verfügung, wenn Eure Exzellenz einen sicheren Boten nach dem Ministerium des Äußeren brauchen. Der Minister ist jetzt nicht dort, ich kann den Kurier abfangen.«

Der Diplomat stutzte. Dann nickte er Mangolf zu. »Nicht übel. Sie haben sich vorbereitet.« Er bekam sein Grübchen. »Wenn die Herren mich aufsuchen wollten, sagen Sie es doch!«

Die junge Gräfin bemerkte: »Du wirst noch behaupten, Papa, daß ich meinen Ariost nur verloren habe, damit die Herren sich bei Dir einführen können.«

»Tatsächlich, warum soll er nur Dir vorlesen. Liest er gut? Dann will ich mit zuhören.«

Er gähnte, sah noch einmal nach der Uhr und nach dem Eingang, worauf er die Herren in sein Zimmer bat. Etwas kurzatmig infolge der vielen Kuchen, betrat er den Aufzug, mit ihm Mangolf. Die Gräfin war schon fast oben, Terra, den sie nicht ansah, sagte: »Jetzt haben Sie etwas angerichtet, ich kann nicht italienisch.« – »Das sieht Ihnen ähnlich«, sagte sie, zwischen den Zähnen. Da trafen sie schon mit dem Vater zusammen.

Als der Botschafter Terras ansichtig wurde, erschien über seiner Nasenwurzel ein ernster Gedanke. Zwischen Tür und Angel hielt er den Studenten am Knopf fest. »Warum nannten Sie mich Staatssekretär?« fragte er. Terra besah ihn sich, er hätte fast gesagt: »Weil ich kein Hornochs bin.« Er sagte: »Wollen Eure Exzellenz sich, bitte, keinem, wenn auch verschwindend kleinen Zweifel über die Diskretion des Grafen Erwin und meine eigene Zuverlässigkeit hingeben.« – Nach dieser Rede ließ der Graf ihn sogar vor sich eintreten.

Mangolf inzwischen hatte beschlossen, dem Sohn hier zu helfen, wie jener ihm. Die Bezahlung des Wechsels war hiermit gesichert. So strich er dem Vater den Sohn heraus, der, schwankend aber nicht leichtsinnig, nur eines ernsteren Führers bedurfte, um immer wieder den Weg in die gute Gesellschaft zu finden. Häuser und Namen zogen vorbei.

»Personalkenntnis«, sagte Graf Lannas mit Anerkennung. Und unser Ariost?«

Die Gräfin sah umher. »Das Buch muß unten geblieben sein.«

»Hier ist es«, sagte Terra und zog es ungesehen aus ihrer Tasche. Er las so gut, daß Graf Lannas sich immer tiefer in seinen Sessel senkte. Endlich entriß er sich dem Genusse. »Lesen Sie ruhig weiter! Sie lesen zu dramatisch, es kommt auf die Melodie an.«

»Ich habe wenig Melodie«, sagte Terra und sah die Gräfin an. Sie hatte den Zeigefinger an ihrer hellen Wange und die Stirn in Falten.

Der Botschafter räumte ächzend die Papiere vom Tisch. »Ich habe meinen Privatsekretär bis morgen fortschicken müssen. Lesen Sie weiter, junger Mann! ... Wo hat er den Akt F H/6235?« Der Botschafter suchte im Schweiß seines Angesichts. Da trat aus dem Nebenzimmer Mangolf. Mit anmutiger Verbeugung überreichte er das Gewünschte. Er habe nebenan den Schreibtisch des Sekretärs bemerkt. Alles liege offen. Bevor ein Unberufener darüberkomme, habe er sich erlaubt –«

»Alle Wetter«, sagte der Botschafter. – Zwischen dem Lesen des Schriftstückes schob er ein: »Mein Sekretär taugt nichts. Sie sind Referendar?«

Hier klopfte es. Mangolf ging zur Tür, als sei er schon im Dienst. »Der Kurier«, meldete er. Der Botschafter, so peinlich er gewartet hatte, schien nur ungern zu hören, daß es etwas zu tun gab. Er winkte, damit Mangolf den Kurier von außen in das Zimmer des Sekretärs führe, dann bequemte er selbst sich hinein.

Terra las noch eine Strophe – die Stirn gefaltet, denn er fühlte sich lächerlich. Als er aber aufsah, fand er keine Ironie bei ihr, sondern Unwillen.

»Sie sind taktlos. Nach manchem, das ich Ihnen gesagt hatte, durften Sie mir nie wieder begegnen.«

»Ich habe alles vergessen. Ich denke einzig an das, was Sie mir erlaubt haben.«

Hierfür bekam er einen schwarzen Blick. Dann wendete sie sich ab, und Terra fuhr laut zu lesen fort. Die Tür zum Nebenzimmer stand halb offen, man hörte Papier rascheln.

Terra sagte zwischen zwei Versen: »Sie beherrschen alle meine Gedanken.« Plötzlich sah er glühend auf. Sie fuhr merklich zurück, dann biß sie sich auf die Lippe. »Es war ein Zufall«, behauptete sie.

»Nein, Gräfin. Zufall allein würde mir die Kühnheit nicht verliehen haben, mich Ihrem Vater vorzustellen.«

Jetzt lächelten ihre Augen zum ersten Mal wieder und wurden geistreich. Darauf sagte er, in dem Ton, wie auf dem Karussell: »Übrigens haben Sie es erwartet.«

Sie, auch wieder herausfordernd: »Geschickt. Sie werden es weit bringen.« Und infolge seiner Miene: »Wenn Sie wollen.«

»Ich wüßte nur einen einzigen Grund zu wollen«, – und er beugte sich weit vor. Sie blieb dreist lächelnd sitzen.

»Sagen Sie ihn nicht! Es wäre in unserer Bekanntschaft die erste gewöhnliche Wendung.«

»Was glücklich macht, ist gewöhnlich.« Worauf er sich erhob. Er stand achtungsvoll beiseite, als Graf Lannas wieder eintrat.

Der Botschafter trocknete die Stirn und sank erleichtert in seinen Sessel. Zu Mangolf, der ihm folgte: »Ist drinnen abgeschlossen? ... Übrigens, lieber Doktor, begraben Sie alles in Ihrem Herzen!«

Mangolf legte die Hand auf das Herz. Der Botschafter entspannte sich vollends, er ließ Likör einschenken und reichte Zigarren. Terra sah sich den beflissenen Mangolf an, der ihm auswich; dann nahm er Platz, dem Botschafter gegenüber, die Knie auseinander und die Hände darauf. So sagte er nasal und klangvoll:

»Wollen Eure Exzellenz einem niedrig Geborenen und durchaus Uneingeweihten, den aus der misera plebs vielleicht nichts anderes heraushebt, als nur seine besonders verehrungsvolle Bewunderung für die Person Eurer Exzellenz, – wollen Sie mir eine kurze Frage gestatten, so wäre es diese: »Wozu gibt es Diplomaten?«

Da der Botschafter nur mit dem Kopf zuckte:

»Ich fühle meine überwältigende Unwürdigkeit, mich irgend weiter zu erklären.«

Er sah tief zerknirscht aus. Graf Lannas ließ Nachsicht walten. »Sie gehören wahrscheinlich zu den jungen Leuten, die sogar die internationalen Geschäfte öffentlich in den Parlamenten verhandelt sehen möchten.«

Trotz der entrüsteten Verwahrung Terras behielt er seine milde Überlegenheit. »Das junge Geschlecht ist ungewöhnlich selbstbewußt, – was ich persönlich zu schätzen weiß. Wir haben das Glück in einem Staate zu leben, der kein Talent, ich sage kein irgend verwendbares Talent, unverwendet läßt.«

Mangolf, der nun wußte, woher der Sohn seine Redensarten bezog, drückte mitten im Ordnen verstreuter Papiere, durch eine seitliche Verbeugung seine Überzeugtheit aus. Graf Lannas ließ sich dennoch auf eine ausführliche Darlegung ein, eigens für den tief ergriffenen Terra, der solcher hohen Belehrung rückhaltlos offen, den Mund aufhielt und bei der Anstrengung des Lernens die Zunge darin bewegte.

Die Öffentlichkeit der internationalen Geschäfte, so lehrte Graf Lannas, sei eine Forderung der Demokratie. Es sei ihre letzte Forderung, es würde sie restlos vollenden. Nun bedenke man ihren Charakter. »Ich schätze die Demokratie.« Wer sehe aber nicht ein, daß sie rücksichtsloser, begehrlicher, brutaler sei als die mehr oder weniger gesättigten Vertreter der zum Glück noch unerschütterten Kaisermacht.

Der Botschafter stand auf, er trat hinter den Tisch, seine rechte Hand warf beim Sprechen die daliegenden Gegenstände durcheinander, seine Stimme verlor ihre Gelassenheit, sie ward mißtönig. »Meine Herren! Sie werden es vielleicht erleben, wie die losgelassenen Instinkte der Völker vernichtend gegeneinander platzen. Von uns werden sie noch gezähmt. Das Kaiserreich ist der Friede.«

Terra fand es angezeigt, auf seinem Stuhl sich ganz still zu verhalten. Mangolf fragte geschäftsmäßig: »Die Besetzung von – gehört doch zu dem Akt F H/6235?«

»Ganz recht. Wir schicken Truppen hin.«

»Das Kaiserreich ist der Friede«, wiederholte Terra mit Überzeugung.

»Wir haben das Spiel in der Hand«, sagte der leitende Staatsmann von morgen und schien in der Luft seine Karten auszubreiten, mit Händen wie ein Taschenspieler. Vor Freude über seine Gewandtheit bekam er sogar sein Grübchen.

Plötzlich erinnerte er sich einer Verabredung. Es war klar, er ward sich bewußt, an wie geringes Publikum er die Proben seiner Kunst hier verschwendete. Er gab laue, flüchtige Händedrücke und war schon draußen. »Alice, ich erwarte Dich.« Mangolf ihm nach, er fühlte: ihm nach, durch Dick und Dünn, jetzt oder nie! Terra sah sich um, die Gräfin hatte den Rücken gekehrt. Er ging hin und flüsterte ihr dringend über die Schulter. Sie antwortete nicht, er fühlte sie beben. Aber die Tür stand offen. Er wagte sie nicht zu schließen und ging.

 

Mangolf trat gleichzeitig aus einem Zimmer gegenüber, argwöhnisch musterte er Terra, der ihn ironisch musterte.

»Die Karriere beginnt«, sagte Terra.

Die Gräfin dachte, als sie sich am Abend allein davonmachte: »Was wage ich viel. Das ist keiner, den man aus der Hand verliert. Viel gefährlicher war es damals mit –«. Sie ging Erinnerungen durch, mit ihren achtzehn Jahren. »Aber dieser ist sonderbarer ... Er ist, wie ich es will. Mit ihm werde ich gewiß etwas erleben, die Saison war so schlecht, – und es wird im Grunde nichts kosten.« Da hielt der Einspänner vor der Wiese.

Die Gräfin drang sicheren, leichten Schrittes in die ausgestorbene Budenstadt. Einmal stieß sie im Dunkeln an einen Schlafenden oder Betrunkenen, sprang um eine Ecke und rührte sich minutenlang nicht. Unkenntliche Gerüste standen auf allen Seiten im Himmel: – wo nur der Turm, von dem man in zwei Sekunden abfuhr? »Ach! ich befinde mich gerade unter ihm, und dort –«. Sie machte sich steif, aus einem Schatten, der wohl das Karussell barg, löste sich eine Gestalt.

»Gräfin sind pünktlich« – Terra verbeugte sich, wie in einem Salon. »Somit werde ich die Ehre haben. Ihnen die Wiese bei Nacht zu zeigen.«

»Ich kenne sie schon, es hat sich nicht gelohnt.«

»Was unternehmen wir statt dessen. Eine Freifahrt?«

»Verbraucht.«

Ein Pfiff, dann Laufen irgendwo in der Nacht, – und eine Frau, die langsam dahinten vom Erdboden aufstand, glitt bläulich durch einen Lichtkreis, den Laufenden nach. Die Gräfin drängte rückwärts, da traf sie auf den ausgestreckten Arm des Mannes. »Komm' mit, mein Kind«, sagte Terra und schlug seinen Mantel auch um sie.

Unter einer Lampe hielten sie. »Nicht«, sagte sie – und streckte sich dennoch an ihm hinan, wie er an ihr. Auf der Zeltwand neben ihnen wuchs schlank ihr vereinigter Schatten. Gespannt blickten sie einander in die durch Lampenschein entblößten Gesichter. Er löste den Arm von ihrer Hüfte und faßte ihre hellen, schmalen Wangen in seine beiden Hände. Unter dem schwermütigen Feuer seines Blickes schmolzen ihre jungen, festen Züge, die geistreichen Strahlen in ihren Augen erloschen und auseinander glitten die Lippen. Er neigte sich tiefer auf diese schimmernden und noch zusammengehaltenen Zähnchen – neigte sich so langsam, daß er endlich fast anhielt. In diesem irrsüßen und verklärten Gesicht berührte ihn grauenvoll die tiefe Ähnlichkeit mit seiner Schwester. Noch gestern, ihr verstörtes Warten hinter dem Haustor ... Dann senkte er sich umso stärker, umso schwärmerischer auf diesen Mund.

Ein Keuchen, – das nicht seines, nicht ihres war. Es kam näher, ward Schnauben, und schon rollte ein wilder Körper ihnen vor die Füße. Eine Frau dann – sie sah sie nicht, sie breitete schützend die Arme vor den Zusammengebrochenen. Und jetzt der Verfolger, ein halbnacktes Ungeheuer, daherstampfend und eine dicke Eisenstange schwingend. Das Mädchen duckte sich, da stürzte das blinde Ungeheuer, die Stange flog klirrend dahin.

Die Gräfin hatte geschrieen, das Mädchen sah auf, es streckte die Hände vor, als bäte es: nicht dies! Nun wankte es her. Es mußte von Angesicht zu Angesicht sehen, was viel schrecklicher war, als daß Männer einander töteten. Erstarrtes Entsetzen; reglos auch jene Beiden samt ihren vereinigten Schatten. Da schien das Mädchen aufzuflattern, drehte sich um sich selbst und lief, in die Flucht geschlagen.

Die beiden Herkulesse krochen am Erdboden auf einander zu. Unerwartet schnellten sie auf und standen, die Fäuste in Bereitschaft, vor einander. »Das gibt ein Schauspiel!« sagte die Gräfin, leise jubelnd, sprang davon und war im Turm. Terra folgte, verlor sie in den Windungen, fand sie auch auf der Plattform nicht, – aber drunten, von der blutigen Lampe beschienen, keuchte der Kampf, keuchte bis hier herauf, und jetzt ein Brüllen.

»Sie bringen sich um, nur schnell dazwischen!« Er setzte sich in eines der kleinen Fahrzeuge und sauste hinab, in Spiralen, schnell und unendlich wie Gedanken. Er dachte auf der Fahrt: »Sie töten sich. Das ist bei uns Menschen der Anfang, die ersten Beziehungen, die Spur.« Auflodernd haßte er Mangolf. Wo war jetzt Mangolf mit Lea, – deren Tod er war. Schwester! Ihr Gesicht in den Gesichtern der anderen Frauen, der Gräfin, der Frau von drüben, – und jene Nacht am Hafen, als eine andere, wie heute diese, an seiner Brust lag in der Nähe fließenden Blutes! So hing denn alles zusammen auf der schwindelnden Nachtfahrt, die wir machen; ging eins in das andere über, wie Spiralen, und führte in das Leere ... Da fuhr er unten auf.

Die Ringer lagen und zuckten nur noch in ihrem Blut. Terra umkreiste sie entsetzt. Der Stärkere war auf den Schwächeren gefallen, er hatte ihm mit der Eisenstange den Schädel zerschlagen. Aber wie er zuschlug, traf ihn selbst das Messer.

Von droben klang heller Jubel. Dort stand die Gräfin und winkte. Jung, hochgemut, unangreifbar und ohne zu begreifen, sah sie herab auf das Sterben.

Hochatmend vom Rausch der Abfahrt war sie da und fragte: »Ist es alle Nächte so? Soll dies sein?«

»Verdammt«, sagte Terra und regte sich wieder. »Wir täten gut, Gräfin, von hier zu verduften.«

Er nahm sie beim Arm und machte Schritte, daß sie laufen mußte. Nach kurzem Laufen weigerte sie sich. Sie hatte ein beleidigtes Damengesicht und ging weiter wie es ihr gefiel, in gemessenem Abstand von ihm, der sie ließ. Keiner sprach.

Vorbei an diesem gefahrdrohenden Lichtkreis, ihn fliehen – wie auf Verabredung. Aber beide zugleich auch stockten. In dem Lampenschein, weißbläulich wie von einem schlechten Mond, lag eine Gestalt, – ach, beide klopfenden Herzen wußten schon, welche. Sie lag mit hart gestreckten Gliedern, die Augen starr offen, – und über ihrem schwarz und schillernd umwundenen Hals stand still ein Schlangenkopf.

Die Gräfin langte nach seiner Hand, wie nach Verzeihung, wie um zu helfen, hielt ihn fest, der los wollte, zog ihn mit, der verharren wollte über der Toten. Im Gehen, ganz plötzlich, empörte er sich laut. »Wie konnte sie es tun!«

Die Gräfin fragte so sanft, als sei sie abwesend: »Haben Sie noch keiner Frau gesagt, Sie würden für sie sterben?«

»Ja, aber nur aus Galanterie«, sagte er, mit den Zähnen klappernd.

Die Gräfin fühlte: »Der Wagen! Mein Bett! Wie komme ich hierher?«

Drittes Kapitel. Der Direktor

Uns vor den Füßen haben zwei Menschen sich ins Jenseits befördert«, dachte Terra. »Wir haben dasselbe Blut auf den Schuhen, edelste Gräfin. Das der Schlangenbändigerin haben wir sogar auf dem Gewissen.« Er folgte ihr im Geist mit einer Art grausigen Frohlockens. »Die wird an mich denken.«

Nach dem Verbleib Mangolfs fragte er nicht mehr, so sicher war er, daß Mangolf seinem Minister nach, wenn nicht vorausgereist sei. Aber er selbst verkaufte sein Karussell und machte sich reisefertig. Wozu? fragte er, als es geschehen war.

Am gleichen Abend beim Wein, in einer abgelegenen Kneipe, erfolgte das Geständnis. »Auch ich werde an sie denken.« Er sah, daß er sein Zelt abgebrochen hatte, um dorthin zu fahren, wo sie weilte, – ohne anderen Zweck als eben sie. Die Erkenntnis kam überraschend. Terra empfing sie geduckt, die Stirn verschwand unter Falten, in den Augen flackerte Hohn. Ein anderer einsamer Gast ward angesichts dessen unruhig.

Terra bemerkte ihn erst jetzt, obwohl sie an dem einzigen beleuchteten Tisch einander gegenüber saßen. Beim Rockschoß holte er den Flüchtling von der Tür zurück in den Lichtkegel und sagte klangvoll: »Erschrecken Sie nicht, mein Herr, Sie sind an keinen Irrsinnigen geraten.« – »Um Gotteswillen«, sagte der andere. Eine selbst wohl noch unfertige Existenz, beruflich zwischen Dentist und Agent gelagert, – Terra fragte nicht lange, stellte sich vor und setzte den neuen Vertrauten eigenhändig auf seinen Platz zurück. »Waren Sie schon einmal verliebt?« fragte er, – worauf jener erleichtert »prost« sagte.

Terra vollzog gewissenhaft den Trinkakt, seine Augen aber irrten ab. »Dann werden Sie wissen«, äußerte er, »unversehens verschiebt sich das Bild des Herzens. Schon deckt es sich nicht mehr ohne Rest mit dem der Frau von drüben, der Dirnenfürstin Lili.« – »Ach so, Sie wollen heiraten«, warf der Vertraute ein. Terra lachte auf. »Haha, heiraten doch Sie, wenn Sie können, einen geistreichen Blick, einen unfaßbaren Hochmut und ein nicht vorhandenes Herz!«

»Es ist wohl eine Gräfin?« bemerkte der Vertraute und kicherte bedenklich. »Lassen Sie sich auf solche Mädchen nicht ein, wenn Sie vielleicht auch Künstler sind.«

»Sie sind ein erfahrener Mann.«

»Ich, wie Sie mich sehen, habe so einer geschrieben, auf ihr Heiratsgesuch in der Zeitung. Sie schickte mir sogar ihr Bild, es war aber das Bild der verstorbenen Königin von Serbien.«

»Und konnten Sie seither keinen Zusammenhang feststellen zwischen der ermordeten Königin und Ihrer eigenen Person?«

»Ich bin nicht verrückt.«

»Das gibt das Schicksal keinem schriftlich«, – und Terra bohrte seinen glühenden Blick in das erschreckte Gesicht. Der Vertraute schielte begehrlich nach der Tür. Da er nicht hoffen durfte sie zu erreichen, machte er sich klein hinter dem Tisch.

»Ist es nicht vielmehr der Irrsinn in Person,« rief Terra ihm zu, »daß Sie das Gottesgeschenk Ihres Daseins auf ein und demselben Karussell verfahren, immer im Kreis und taub gegen alles, was nicht Ihr schlechter Leierkasten spielt?«

»Erlauben Sie – das meinen Sie bildlich.«

»Treiben Sie selbst das Karussell, da können Sie was erleben.«

»Aha, jetzt kommt es.«

»Sie wissen schon im voraus, was ich beschließe? Der Himmel wird noch so viel Einsehen haben, mich davor zu bewahren, daß ich unter Ihren Einfluß gerate!« Terra richtete sich drohend auf. Der Vertraute verschwand zur Hälfte unter dem Tisch.

»Am stärksten war euer Einfluß, wenn ich es mit dem Aufgebot übermenschlicher Kräfte darauf anlegte, euch zu entgehen. Bleibe rein und verzichte, sei ein Spieler, Lächler und halte die Armseligkeit zum Besten,« – wobei er dem Vertrauten zutrank. »Die aufopferndste Weisheit erreicht doch immer nur, was eure Dummheit von Natur hat, sie macht mich zum faulenden Aas.«

»Oh! oh!« wagte der Vertraute, bemüht, sich einzuschmeicheln. Terra aber verließ seinen Stuhl, nahm Abstand und pflanzte sich auf, gedrungen und mit eherner Miene, um zu sagen:

»Herrschen!« – knirschend und rollend: »Herrschen zum Ruhme Gottes! Geschäfte kann man nur mit der bestehenden Gesellschaftsordnung machen.«

Da erhob sich auch der Vertraute, mit ausgestreckter Hand nach Anschluß suchend. »Auch ich wähle nationalliberal!«

Terra hielt die Hände hinter sich auf der Wand, er ward leiser, ihm schien es zu schaudern. »Man will nicht zeitlebens ein Schatten bleiben, der die Leute erschreckt und den sie liegen lassen. Das Ungemeine eröffnet sich uns, damit wir um es kämpfen.«

»Jetzt meinen Sie wieder die Gräfin.«

Terra setzte sich in Bewegung. »Es wäre kein Witz dabei, wenn nicht im Leben das phantastischeste Ziel den stärksten Atem lieferte. Da arbeitet es sich, wirkt es sich, erstrebt es sich Fernen, die alle näher liegen als die eine.«

Der Vertraute, immer hinterdrein, lachte aufgeregt. »Wie Sie das wissen! Woher haben Sie es, daß ich der Königin von Serbien mein Geschäft verdanke? Um ihretwillen hab' ich mich endlich zusammengenommen, und wieso denn, auf einmal ging es.« Er sank auf seinen Stuhl zurück. »Ich will es Ihnen nur gestehen, ich liebe sie noch immer,« – und küßte eine Photographie in Kabinettformat.

Terra zeigte die Zähne. »Die denkt an mich, wie ich an sie, dagegen wächst kein Kraut. Denn hier ist Blut geflossen.«

Der Vertraute hörte zu küssen auf, er sah entsetzt darein.

»Der Tropfen am Hals des Mädchens, das wir Beide auf dem Gewissen haben. Euer Exzellenz, wiegt schwer. Schwerer als Ihr geistreicher Blick, Ihr unfaßbarer Hochmut und als sogar Ihr nicht vorhandenes Herz.«

Von dem Vertrauten sahen nur noch die Augen über die Tischplatte. Dann versank er ganz, kroch drunter durch und war aus der Tür.

Terra stellte sich kampfbereit auf, in Erwartung einer Antwort. Kein Vertrauter mehr? Da ging auch er.

 

Eine Stunde später fuhr der Nachtzug nach Berlin, und Terra saß darin. Kurschmied, sein Freund bis in den Tod, erwartete ihn dort am Morgen, bereit, ihn unverzüglich in die »Generalagentur für das gesamte Leben« einzuführen. Es lag in der Friedrichstraße, gegenüber dem »Cafe National«. Am Haus stand: »Generalagentur für das gesamte Leben, von Praß macht alles.« – »Und dies ist die lautere Wahrheit«, erklärte Kurschmied, indes sie hinaufgingen. »Das Leben oder was von Praß so nennt, besteht aus Gelderwerb und Vergnügen. Infolgedessen unterhält er vor allem einen Ratgeber für Börsengeschäfte oder dieser ihn. Die Papiere, für die er in seinem Blatt sich einsetzt, erleben meistens eine Blüte und immer einen Zusammenbruch, an beiden aber war er interessiert. Ist es von da ein weiter Schritt bis zur Vermittlung reicher Liaisons?«

»Abteilung Vergnügen«, bemerkte Terra.

»Abteilung B stellt unter anderem Verbindungen mit dem Hof her, wenn nicht schon Abteilung A es täte.«

»Und ich?«

»Einen Augenblick. Wir versenden Ausstellungen, leiten Gastspiele, machen berühmte Namen. Auch hier, wie auf dem anderen Börsenmarkt, arbeiten wir mit den Mitteln des kleinen Mannes, es sind die größten. Die gesamte Künstlerschaft beteiligen wir.«

»Wir?«

»Ich bin der Reklamechef«, sagte Kurschmied bescheiden. »Wollen Sie es statt meiner werden?«

»Ich bin kein Enthusiast wie Sie, und darum kaum berufen.«

»Von Praß fragt nie nach Referenzen. Dagegen verlangt er, daß Sie sich ihm durch eine sofortige Ausnahmeleistung für die ersten fünf Jahre bezahlt machen.«

»Er zahlt?«

»Höchstens genug, daß Sie ihm nicht fortlaufen.«

»Es scheint, auch das nicht; denn Sie wollen fort.«

Kurschmied zögerte. »Mich treiben persönliche Gründe,« gestand er und ward rot. »Meine Schwester Lea«, sagte Terra, »soll in Frankfurt mit einer Rolle stark aufgefallen sein, in dem Stück eines gewissen Hummel, glaube ich.«

»Sie werden ihn kennen lernen«, rief Kurschmied freudig bewegt. »Ich bleibe noch mehrere Tage, bevor ich nach Frankfurt fahre.«

Schon standen sie in dem weit offenen Vorzimmer der Generalagentur für das gesamte Leben. Es hatte zwei kreisrunde Causeusen aus rotem Plüsch, ihre gefällig drapierte Mitte trug staubgraue Papiersträuße. Zu der frühen Stunde saßen darauf nur erst ein älterer Mann ohne Bart und zwei junge seiner Art, sie murrten. Gerade trat auch eine Dame ein, schön und elegant, nun vereinigten sich alle mit ihr, um laut zu schelten. »Der Raum stellt die festliche Seite des Lebens dar«, erklärte Kurschmied und lenkte die Aufmerksamkeit seines Begleiters auf die goldenen Kranzschleifen an den Wänden, alle die schwungvoll gerahmten Bilder von Höhenmenschen beiderlei Geschlechts in Stellungen, die volles Vertrauen zum Leben ausdrückten. Im besten Licht stand eine kleine Plakatsäule, verheißend bot sie vielstellige Zahlen riesenhaften Formates dar, und die blühenden Gestalten der tanzend abgebildeten Varietenummern verhießen eher noch mehr.

Links eine verhängte Glastür, aber drüben sah man in das nächste Gemach. Hinter einer hölzernen Schranke, die einen Kassenschrank schützte, bewegte jemand sich sprungweise hin und her, wie ein Tier des Waldes. »Herr Seifert?« fragte Kurschmied dort hinein. »Kommt der Herr Direktor?« – »Kommt nur, wenn Sie es nicht ahnen«, erscholl es zurück. Seifert fuhr sich mit der Hand wie der Blitz zwischen die Haarsträhnen, setzte über ein Papierbündel, blätterte auf dem Tisch, flink, flink wie ein Tier dürres Laub durchwühlt, in vielen kleinen Zetteln und war schon wieder bei der Kasse. Daneben stand aus der Wand die Öffnung eines Schallrohres. Kurschmied näherte sich ihm vorsichtig, – da riß er den Hut vom Kopf, eine unförmliche Stimme drang aus dem Loch. »Sehr wohl, Herr Direktor, sofort bitte«, sagte Kurschmied mit Verbeugung. Dann zog er, leise und eilig, Terra mit fort – in das Innere. Die Bewohner des Vorzimmers sahen verstummt hinterdrein.

Seifert öffnete ihnen selbst die Schranke, er wollte dem Gast sogar mit einem Schoß seines Gehrockes seinen Stuhl abwischen; aus seinem gehetzten, schwitzenden Gesicht sprangen ohne Pause Nachrichten über den Herrn Direktor und Höflichkeitsfloskeln; aber Kurschmied strebte weiter. Hinter der Kasse trafen sie in einem großen kahlen Gelaß zwei lebende Wesen an. Beim Fenster stand von seinem Pult ein blonder, stulpnäsiger Mann in grüner Jacke auf. »Das Volk steht auf,« sagte er dabei. In der Mitte grüßte vor dem geräumigen Küchentisch, woran er Adressen schrieb, ein bescheidener Jude. »Elias,« fragte Kurschmied ihn, »ist jemand drinnen?« Aber Elias bekam nur ein noch müderes Gesicht, indes er die Schultern hinaufzog. Statt seiner gab »das Volk« frischweg die Auskunft. »Wenn nicht jemand aus der Versenkung gestiegen ist.« – »Los«, sagte Kurschmied.

Nun ging es in eine Dunkelkammer, dort regte sich bei ewigem Gaslicht, hinter einem Brettergestell, das einen Kleistertopf und eine »Weiße« trug, ein alter Mann mit Brille und blauer Schürze. »Vater Lange, Alma wird schon wieder gut tun«, warf Kurschmied im Vorübereilen hin. Der Vater rief ihm, tiefdurchdrungen, nach: »Das sagen Sie nur immerzu, Herr, dann wird es am Ende!«

Die Tür, vor der sie anlangten, ließ sich widerstandslos öffnen. Dahinter zwei Schritte leeren Raumes, Terra dachte vorzudringen; da stieß er im Dunkeln an eine gepolsterte Matratze. »Zum Teufel, öffnen Sie!« – »Sie werden auf dieser Seite keinen Griff finden«, erwiderte Kurschmied. Terra knurrte: »Der Mann verspricht zu viel. Nach allem Bisherigen müßte er eine eiserne Maske tragen.« – »Sie können laut sprechen«, sagte Kurschmied. »Abgesehen von der Polstertür, ist er auch taub.« Da drehte die Matratze sich geräuschlos.

Gegenüber ein dreigeteiltes Büchergestell, halb aufgeklappt wie ein Wandschirm. Links noch eine Polstertür, rechts eine Treppe nach unten: die Versenkung, sah Terra, aus der sie steigen. Kurschmied schloß die Tür. Abgewandt sagte er: »Jetzt reden Sie nicht, er sieht Sie.« Dann Husten aus tiefer Brust, und hinter den Bücherwänden wuchs der Direktor herauf. Er näherte sich lautlos auf dem Teppich, grau gekleidet, den breiten Kopf spähend vorgeschoben in den knochigen Schultern, und der Blick hing an den Händen des Eintretenden: was er brächte. Einmal hielt er an und sah auf, da erschrak Terra vor der Glut seiner schwarzen Augen: sie sagten Irrsinn vorher, – und glichen sie nicht seinen eigenen? Der Direktor aber verzog den rasierten Mund und streckte die Hand hin, eine starke, langfingerige Hand. »Nun also«, sagte er, als sei die Ankunft Terras vom Schicksal längst beschlossen gewesen.

Sein Händedruck war klammernd aber kalt, sein Gesicht braun mit gelben Furchen, wie rissiges Leder, ein für alle Male gegerbt auf wer weiß welchen Fahrten. Er setzte sich in einen tiefen Sessel, streckte die hageren Beine unglaublich weit aus und zeigte, eingesunken und auf sein Knochengerüst zurückgeführt, das breite Elfenbein in seinem Munde. So machte er den Eindruck größter Dauerhaftigkeit. »Alle Wetter«, dachte Terra. »Worauf habe ich mich da eingelassen.«

Der Direktor eröffnete ihm aber kurzweg, wie sein Reklamechef sich zu verhalten habe. »Er soll sie nicht nur machen, er soll sie auch sein.« Das Publikum hatte aus dem Verkehr mit Terra den untrüglichen Eindruck zu gewinnen, daß jedermann Gott danken müsse, geboren zu sein, weil er so die Gelegenheit erhalten habe, sein Geld in die Generalagentur für das gesamte Leben zu tragen. »Lassen Sie sich nie, und wenn es tote Katzen regnet, durch Sachlichkeit beirren. Gut ist, was Erfolg hat. Für den Erfolg werden Sie bezahlt.«

»Wie hoch?« fragte Terra. Der Direktor zuckte nicht. »Ihr Posten«, sagte er, »ist eine Neuerung, sogar die wichtigste in der Geschichte des reinen Geistes. Es ist erreicht, er wird dem gesamten Leben nutzbar gemacht.«