Zwischen den Rassen

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Heinrich Mann

Zwischen den Rassen

Roman

Heinrich Mann

Zwischen den Rassen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

EV: Albert Langen, München, 1907

1. Auflage, ISBN 978-3-962818-39-5

null-papier.de/711


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

Ers­ter Teil

I

II

III

Zwei­ter Teil

I

II

III

IV

V

Drit­ter Teil

I

II

III

IV

V

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Jür­gen Schul­ze

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen bil­den fol­gen­de Aus­ga­ben:

 Al­bert Lan­gen, Mün­chen, 1907

 Kurt Wolff Ver­lag, Leip­zig, 1910

 Auf­bau-Ver­lag, Ber­lin, 1954

Erster Teil

I

Die Schwar­zen, die das Pferd am Zaum ge­führt hat­ten, muss­ten ihre Her­rin auf­fan­gen: ihr ward schwach – und dann lag sie in Far­ren1 ver­steckt; ein Pal­men­blatt ward be­wegt über ih­rem dun­keln Schei­tel; der große, hell­haa­ri­ge Mann beug­te sich zu sei­ner blei­chen Ge­fähr­tin, und das Kind kam zur Welt. Die Bäu­me des Ur­wal­des stan­den starr und über­mäch­tig da­ne­ben. Dor­ther, wo er sich lich­te­te, kam das Schla­gen des Ozeans, und von drü­ben, aus der Fins­ter­nis das wil­de Ge­schrei der Pa­pa­gei­en und der Brüll­af­fen.

Das Kind lern­te spre­chen von sei­ner schwar­zen Amme und lau­fen auf dem Sand zwi­schen Wald und Meer. Vom Ran­de des Mee­res hol­te es Mu­scheln, die es von großen Stei­nen lös­te; und am Wald­saum ern­te­te es ab­ge­fal­le­ne Ko­kos­nüs­se: dar­aus zo­gen ihm die Die­ner mit glü­hen­den Spie­ßen die süße Milch. Gro­ße, zucke­ri­ge Früch­te hin­gen über­all bei sei­nen Händ­chen; im Gar­ten er­trank es in Blu­men, und als gol­de­ne Fun­ken schos­sen Ko­li­bris um sei­nen Kopf.

Dann ward Brü­der­chen Nene groß ge­nug, dass sich mit ihm spie­len ließ. Man such­te zwi­schen Mau­er­rit­zen nach den win­zi­gen run­den Ei­dech­se­nei­ern und den Nat­ter­nei­ern, rund und weich. Vom Schwanz des Gür­tel­tie­res brach­ten ei­nem die Ne­ger die kleins­ten Rin­ge: da­mit schmück­te Nene der Schwes­ter und sich selbst alle Fin­ger; und dann fuhr man in ei­nem Zu­ber den Bach hin­ab, und die schwar­zen Ku­ru­bus auf ih­ren Bü­schen sa­hen ei­nem, über ihre feu­er­ro­ten Krumm­schnä­bel hin­weg, ho­heits­voll nach.

Und man er­leb­te in der Haupt­stadt den Tro­pen­re­gen: in den Stra­ßen fuh­ren Ka­nus, und un­abläs­sig muss­ten die Schwar­zen mit Schau­feln das Was­ser aus den Zim­mern sto­ßen – und den Kar­ne­val! An der Ja­lou­sie­tür saß man auf ei­nem Stühl­chen, über dem Ge­wim­mel der Mas­ken, und die schö­ne Mama warf Wachs­bäl­le hin­ab: die platz­ten und tränk­ten die bun­ten Trach­ten mit flüs­si­gem Duft. Aber aus ei­ner Mu­schel, die ein ganz ro­ter Mann an den Mund setz­te, fuhr ein so schreck­li­cher Ton, dass man ihn nicht er­tra­gen konn­te, son­dern sich mit sei­nem Stuhl zu­rück­warf und auch Nene mit um­riss.

Und auf der Gro­ßen In­sel – das Haus der Gro­ß­el­tern schwamm im Duft der Oran­gen­blü­ten – sog man in­mit­ten ei­nes Hee­res ern­ten­der Ne­ger an ei­nem Stück­chen Zucker­rohr. Und zit­tern­den, schrei­en­den Lau­fes kam man von ei­ner Be­geg­nung mit der Boa heim! Und schau­te, mit al­len schwar­zen, gel­ben und wei­ßen Kin­dern der Pflan­zung, er­reg­ten Au­ges und ju­belnd zu, wie der Groß­va­ter vie­le Pa­pi­er­röll­chen an­zün­de­te und sie in wei­ten, leuch­ten­den und zi­schen­den Bö­gen über das Meer schoss. Das Meer schob ei­nem lan­ge, laue Schlan­gen über die blo­ßen Füß­chen; im Hemd­chen, das ein Gür­tel en­ger schloss, fing sich ein Stoß war­men Nacht­win­des; und hob man den Blick, schwin­del­te es ei­nem, so voll war er auf ein­mal von Ster­nen!

Es war herr­lich: man war wie alle an­de­ren Kin­der – und doch nicht ganz so. Vor­neh­mer war man. Man hat­te blon­des Haar; nicht ein­mal Nene hat­te es; und die schwar­ze Anna war sehr stolz dar­auf und konn­te nicht ge­nug Lo­cken dar­aus wi­ckeln. Man hat­te auch einen blon­den Papa: wer hat­te den noch? Und kam er zu Be­such auf die In­sel der Gro­ß­el­tern, und ging man an sei­ner Hand um­her: viel grö­ßer war er als alle Men­schen und im­mer ernst – und sah man alle ihn be­wun­dern, dann durch­rann einen selbst ein Schau­er von stol­zer und ehr­fürch­ti­ger Lie­be.

Da aber – was be­deu­te­te dies? – saß ei­nes Nach­mit­tags im Saal, wo Groß­mut­ter klöp­pel­te, Mama, die schö­ne Mama, und wein­te, ja, wein­te laut. Kaum aber hat­te sie ihr klei­nes Mäd­chen er­blickt, stürz­te sie dar­auf los, riss es an sich, fiel vor ihm auf die Knie, rief und rang das Schluch­zen nie­der:

»Lola! Mei­ne Lola! Sag: bist du nicht mein?«

Mit ei­nem Fin­ger vor den Lip­pen, er­schro­cken fra­gend sah das Kind nach der Groß­mut­ter: die saß da, gra­de und streng wie im­mer, und klöp­pel­te.

»Bist du nicht mein?« fleh­te die Mut­ter.

»Ja, Mai.«

»Man will dich mir weg­neh­men. Sag’, dass du nicht willst! Hörst du? Du willst doch nicht fort von mir, von uns al­len?«

»Nein, Mai. O Gott! Wo­hin soll ich? Ich will da­blei­ben: bei Pai, bei dir, bei Anna! Die Lui­zia­na hat mir ein klei­nes Kanu ver­spro­chen; mor­gen bringt sie es!«

Aber schon am Abend war­te­te auf die klei­ne Lola ein großes Kanu. Die schö­ne Mai lag in ei­ner Ohn­macht; Nene hing schrei­end an Lo­las Kleid – aber ein Schwar­zer mach­te sie los, trug sie, und die Ärm­chen der Ge­ängs­te­ten würg­ten ihn, ans Was­ser, setz­te vor­sich­tig sei­nen nack­ten Fuß von ei­nem der großen über­flu­te­ten Stei­ne auf den nächs­ten … Das Meer bran­de­te wü­tend; zer­ris­se­ne Fins­ter­nis flat­ter­te um­her, und manch­mal warf ein Stern ein bö­ses Auge her­ein. Nun ward das Kind ins Boot ge­legt; es hat­te nicht ge­schri­en, es wein­te un­hör­bar im Fins­tern. Die Schwar­zen ru­der­ten schwei­gend, und das Kiel­was­ser leuch­te­te fahl, als sei es die Spur ei­nes Ver­bre­chens.

1 Farn <<<

II

An Bord des großen Dampf­schif­fes, auf das Lola ge­bracht ward, stan­den Pai und die schwar­ze Anna. Welch Wie­der­se­hen! Dann:

»Pai, ist es wahr, dass wir ganz weg­fah­ren? Und Mai? Und Nene? Und wo­hin fah­ren wir denn?«

Herr Gu­stav Ga­bri­el fuhr mit sei­ner klei­nen Toch­ter nach Hau­se, weil sie eine Deut­sche wer­den soll­te.

Mit neun­zehn Jah­ren war er her­über­ge­kom­men und hat­te sich be­geis­tert ein­ge­lebt. Bis zu sei­nem drei­ßigs­ten Jah­re be­rühr­te ihn nie­mals Sehn­sucht nach sei­nem Va­ter­land. Er dach­te sei­ner wie an et­was Klein­li­ches und Be­drück­tes, mach­te ihm auf ei­ner Eu­ro­parei­se einen spöt­ti­schen Be­such, fühl­te sich mit Stolz als Bra­si­lia­ner … Ei­nes Ta­ges be­kam er zu spü­ren, dass er’s nicht sei. Er hat­te ge­schäft­li­che Ein­bu­ßen er­lit­ten, was zu De­mü­ti­gun­gen führ­te von Sei­ten sei­ner Freun­de und der Fa­mi­lie sei­ner Frau. Er sah sich plötz­lich al­lein und ihm ge­gen­über eine gan­ze Ras­se, de­ren für im­mer un­zu­gäng­li­che Fremd­heit er auf ein­mal be­griff. Nun fing er an, auf das Land sei­ner Her­kunft als auf eine Macht zu po­chen, sich selbst als Er­zeug­nis ei­ner Kul­tur zu füh­len, von de­ren Höhe sei­ne Um­ge­bung nichts ahn­te. Bei der Um­schau nach Bun­des­ge­nos­sen be­geg­ne­te er den Bli­cken sei­ner Kin­der. Auch die­se soll­ten in Sit­ten und Spra­che ei­nes nied­ri­ge­ren Vol­kes er­wach­sen? Sei­ne Fein­de wer­den? Die Lau­te, die ihm in herz­li­chen Stun­den ka­men, die er von sei­ner Mut­ter er­lernt hat­te, sie soll­ten sie nie ver­ste­hen? Er hat­te sie, wenn er ih­nen deut­sche Ko­sen­a­men gab, sich an­bli­cken und lä­cheln ge­se­hen … Das soll­te an­ders wer­den! Ihr Va­ter­land war nicht die­ses, und er woll­te sie ihm zu­rück­ge­ben! Mit dem Jun­gen wür­de es viel­leicht schwer ge­hen: die Nach­fol­ge im hie­si­gen Ge­schäft ward ihm be­rei­tet – aber sei­ne Toch­ter! Er er­blick­te sich schon mit ihr in dem Gar­ten, worin sein El­tern­haus stand. Dort woll­te er einst en­den. Er sah sich den Weg zum Tor des Städt­chens ge­hen, und an sei­ner Sei­te ein blon­des jun­ges Mäd­chen: sei­ne Toch­ter. Sie war blond; sie war sein Kind und eine Deut­sche. Er nahm sie für sich al­lein; moch­te sei­ne Frau – wie fremd sie ihm ei­gent­lich ge­blie­ben war! – sich an dem Jun­gen schad­los hal­ten, sei­ne Toch­ter soll­te ihn ver­ste­hen ler­nen, soll­te in sol­cher Rein­heit und Ge­die­gen­heit le­ben, wie man nur zu Hau­se leb­te. Sie soll­te nach Haus.

 

Nie war Pai so zärt­lich ge­we­sen mit Lola! Üb­ri­gens soll­te sie bald zu­rück; und Mai und Nene wür­den sie be­su­chen, dort, wo­hin sie fuh­ren. Sol­che Fahrt war lus­tig: sie soll­te se­hen.

Vor­läu­fig ward ihr sehr übel; es dau­er­te drei Tage; aber Pai selbst pfleg­te sie; er selbst tat al­les, was Anna hät­te tun müs­sen. Zwi­schen ih­ren Kri­sen lag Lola in al­ler Er­schöp­fung ganz glück­lich da; und wenn sie ihre Hand in Pais schob, war ih­r’s, als sei sie selbst ganz in Pais Hand ge­schlüpft.

Dann konn­te sie auf­ste­hen und zu­se­hen, wie die Ma­tro­sen Fi­sche her­auf­zo­gen: einen Fisch so­gar mit ei­nem lan­gen Sä­bel an der Nase!

Da aber nah­te je­mand mit ei­nem Was­ser­schlauch und be­spritz­te alle Kin­der. Man moch­te sich hin­ter dem Schorn­stein ver­ste­cken oder in ei­ner Tau­rol­le: über­all trieb der Strahl einen wie­der her­vor, es war ein angst­vol­les Ver­gnü­gen. Die durch­näss­ten klei­nen Mäd­chen kreisch­ten, und die Da­men und Her­ren freu­ten sich laut, dass sie tro­cken wa­ren. Über­haupt war es zum Er­stau­nen, wie lus­tig alle wa­ren, wie freund­lich mit­ein­an­der und mit Lola. Es schi­en, sie hat­ten nichts an­de­res zu den­ken, als wen sie jetzt er­freu­en woll­ten. Nie hat­te Lola so vie­le lie­be Men­schen ge­se­hen. Ei­ner war da, der al­len Kin­dern Scho­ko­la­de schenk­te und or­dent­lich fleh­te, bis man sie nahm. Selbst Pai war sel­ten mehr ernst. Und Meer und Him­mel strahl­ten un­aus­lösch­lich.

Den­noch ge­riet man noch­mals in grau­es Was­ser mit Wol­ken dar­über und ward arg ge­schau­kelt. Doch Lola focht das nicht mehr an; und Pais Man­tel, un­ter dem sie auf Deck lag, war, wenn sie mit ih­ren Kni­en ein Dach mach­te, so gut wie ein ei­ge­nes Haus; die Sturz­wel­len moch­ten dar­über hin­ge­hen. Auch ward bald aus­ge­stie­gen – alle wa­ren viel erns­ter ge­wor­den – und Lola fand sich mit Pai und Anna in ei­ner großen, nicht schö­nen Stadt, in de­ren Stra­ßen man sich müde lief. Im­mer­hin gab es Spiel­sa­chen, wie sie da­heim nie wel­che ge­se­hen hat­te, und Pai kauf­te ihr so vie­le, dass sie sich wun­der­te. Ei­nes Mor­gens dann eine Fahrt mit der Bahn: und da wa­ren sie in ei­nem selt­sa­men Städt­chen mit höck­ri­gen Häu­sern und mit Gas­sen, die über Ber­ge klet­ter­ten und rutsch­ten – und ge­lang­ten in ei­nem rie­si­gen schau­keln­den Wa­gen vors Tor und an ein Haus, dar­aus sprang hur­tig eine klei­ne alte Frau her­vor, lief auf Pai zu und hüpf­te ihm an den Hals. Lola war er­schro­cken, denn Pai wein­te. Wie war das mög­lich? Da griff aber die alte Frau ihr selbst un­ters Kinn und zog Lo­las Ge­sicht ganz dicht zu ih­rem, bis in das Wim­pern­fä­cheln ih­rer Au­gen, die sehr gü­tig blick­ten. Aber was woll­te sie? Sie re­de­te so viel Un­ver­ständ­li­ches. Lola sah fra­gend auf Pai; und in­des sie ins Haus gin­gen, er­klär­te Pai ihr, dies sei sei­ne Mama, und heu­te feie­re sie ih­ren Ge­burts­tag, und er brin­ge ihr Lola zum Ge­schenk.

Im Hau­se roch es nach Ku­chen und Blu­men; Pais Brü­der wa­ren da und um­arm­ten ihn. Sie ga­ben Lola die Hand; ei­ner ließ sich von Pai et­was ins Ohr sa­gen, und dann wünsch­te er Lola in ih­rer Spra­che Will­kom­men. Sie lach­te über ihn. Al­les wäre gut ge­we­sen, da aber kam die neue Groß­ma­ma aus lau­ter Herz­lich­keit auf den Ge­dan­ken, die Arme um Lo­las Hüf­ten zu le­gen und vor ihr auf die Knie zu fal­len. Lola hat­te plötz­lich ein zum Wei­nen ver­zerr­tes Ge­sicht. Alle stie­ßen Fra­gen aus, und Pai über­setz­te:

»Was ist dir?«

»Nichts, Pai.«

Lä­chelnd und stam­melnd:

»Ich dach­te an et­was.«

Gra­de so hat­te, am letz­ten Tage, die schö­ne Mai vor Lola ge­le­gen, aber in Trä­nen und Jam­mer. Lola dach­te: »Ist es wahr, dass ich bald zu ihr zu­rück darf?«

Ei­ner der On­kel hei­ter­te sie auf: er klatsch­te in die Hän­de, und sie muss­te vor ihm da­von­lau­fen. Sie tat es aus Ge­fäl­lig­keit und lä­chel­te höf­lich, wie er sie fing. Nun spiel­ten alle mit und woll­ten sich ver­ste­cken, und der lus­ti­ge On­kel soll­te sie su­chen. Man zeig­te Lola ein sehr gu­tes Ver­steck: hin­ter ei­nem klei­nen Gar­ten­hau­se und un­ter ei­nem dun­keln Baum. Da stand sie lan­ge, und nie­mand fand sie. Kein Geräusch im Gar­ten. »Soll­ten sie mich ver­ges­sen ha­ben?« Eine has­ti­ge Angst über­fiel sie: »Pai ist fort, Anna ist fort; sie ha­ben mich al­lein ge­las­sen!« Sie senk­te be­täubt den Kopf und leg­te die Hän­de vors Ge­sicht. Ganz al­lein! Da ka­men Schrit­te her­bei; Lola nahm sich zu­sam­men und gab einen klei­nen hel­len Vo­gel­laut von sich. Es dau­er­te et­was; sie lausch­te atem­los, zwit­scher­te noch­mals, und dann fand man sie.

»Da­mit du mich nicht zu lan­ge su­chen soll­test«, er­klär­te sie, ob­wohl der On­kel doch nichts ver­stand.

Beim Abendes­sen ward sie leb­haft und sang so­gar ein Lied, nä­selnd wie die Schwar­zen, von de­nen sie es ge­lernt hat­te. Mit­ten in al­ler Ver­gnü­gen aber, und wie auch Pai ge­ra­de lach­te, nahm sie sei­ne Hand und flüs­ter­te ihm, als über­rum­pel­te sie ihn, ei­lig zu:

»Nicht wahr, Pai, wir rei­sen bald nach Haus?«

Pai nick­te; aber er war nun wie­der ernst, und Lola hat­te ge­se­hen, dass er bei­na­he är­ger­lich ge­wor­den wäre. Ver­stört schwieg sie. War’s mög­lich, dass man sich auf Pai nicht mehr ver­las­sen konn­te?

»Weißt du nicht, wann wir nach Haus rei­sen?« frag­te sie nach­her im Schlaf­zim­mer die schwar­ze Anna.

Nein, Anna wuss­te es nicht, und Lola glaub­te ihr. Anna sah sich, mit klei­nem tie­ri­schen Kopf­rücken, im Zim­mer um, wie in ei­nem Kä­fig; Lo­las Au­gen folg­ten ihr – und dann be­trach­te­ten die bei­den ein­an­der rat­los.

Aber die neue Groß­mut­ter war so hei­ter! Man konn­te nicht an ih­rer Hand durchs Haus lau­fen – in den Saal, wo die Äp­fel la­gen, auf den Bo­den, wo­her sie bun­te Klei­der und alte, selt­sa­me Pup­pen hol­te – ohne dass ir­gen­det­was Lus­ti­ges vor­fiel. Der zwei­te On­kel brach­te sei­ner­seits viel Le­ben mit. Und dann war es ziem­lich spaß­haft, mit Anna aus­zu­ge­hen, un­ter die hie­si­gen Kin­der, die schein­bar noch nie eine Schwar­ze er­blickt hat­ten. Da ward man an­ge­se­hen! Manch­mal zwar lie­fen ei­nem zu vie­le nach und mach­ten sich läs­tig: da half nur, dass man ih­nen Bon­bons hin­warf, um zu ent­kom­men, wäh­rend sie sich rauf­ten … Fer­ner war un­ter den freund­li­chen Men­schen, die Lola ken­nen­lern­te, ein schwarz­ge­klei­de­ter Herr mit weißem Bart, der ei­nes Ta­ges in Groß­ma­mas Zim­mer saß und Lola et­was frag­te. Pai be­deu­te­te ihr, es hand­le sich dar­um, ob sie zum pro­tes­tan­ti­schen Glau­ben über­tre­ten wol­le; er rate ihr dazu. Sie sag­te ja, be­kam von dem al­ten Herrn ei­ni­ge glat­te bun­te Bild­chen und ward am Abend in den Zir­kus ge­führt … So viel hat­te man er­lebt, dass ge­wiss schon ein Jahr her­um war.

»Nicht wahr, ein Jahr sind wir bald hier?« frag­te sie ei­nes Abends. Pai er­wi­der­te:

»Was denkst du. Sechs Wo­chen erst.«

»Erst? Aber es ist doch schon wie­der Win­ter?«

»Nein, Kind, so ist hier der Som­mer.«

Sie hät­te sich gern ein­mal wie­der nach der Heim­rei­se er­kun­digt; aber Pai schi­en nicht auf­ge­legt, er hat­te die schon lan­ge nicht mehr ge­se­he­ne Fal­te zwi­schen den Au­gen. Auch die an­de­ren spra­chen heu­te viel we­ni­ger. So­gar Groß­ma­ma lä­chel­te nur halb. Lola ging be­drückt zu Bett.

In der Nacht träum­te ihr et­was Trau­ri­ges: sie sah einen Ne­ger – wel­chen, wuss­te sie nicht, aber es war ei­ner, den sie gern hat­te – von ei­nem Auf­se­her grau­sam prü­geln, hör­te sein Win­seln, brach selbst in Wei­nen aus und lief, es dem Groß­va­ter zu kla­gen, wein­te und lief. Da er­wach­te sie, noch im­mer schluch­zend – und auch das an­de­re Schluch­zen ging wei­ter. Die schwar­ze Anna kau­er­te, über das Bett ge­beugt, und jam­mer­te er­stickt:

»Klei­ne Her­rin, ich muss fort. Schon mor­gen rei­sen der Herr und Anna mit dem Dampf­schiff fort, zu­rück in un­ser Land; die klei­ne Her­rin aber bleibt hier.«

Und da Lola, auf­fah­rend, in Ge­schrei aus­brach:

»Ganz lei­se! Anna darf nichts sa­gen: Der Herr hat es ver­bo­ten. Anna soll­te ohne Ab­schied weg­ge­hen; sie kann doch nicht!«

»Du sollst nicht weg­ge­hen! Hörst du, du tust es nicht! Ich be­feh­le es dir!«

Des Kin­des Stim­me brach sich vor Zorn.

»Pai lässt mich nicht hier zu­rück; das sind al­les Lü­gen.«

Die Amme wie­der­hol­te nur, ein­tö­nig kla­gend:

»Ganz lei­se! Anna muss fort.«

Und in ih­rem Ge­mur­mel ging der Zorn der Klei­nen all­mäh­lich un­ter. Sie ließ sich auf An­nas Schul­ter fal­len, ge­bro­chen, mit Schluch­zen und Bit­ten.

»Geh nicht fort!«

»Anna muss ge­hen.«

»Wenn du fort­gehst, dann –«

Der Schmerz schüt­tel­te das Kind. Es press­te sein Ge­sicht auf die nack­te schwar­ze Schul­ter – und mit dem öli­gen Ge­ruch die­ser Haut, an der es einst die ers­ten Atem­zü­ge ge­tan hat­te, er­hob sich die dunkle Flut sei­ner frü­he­s­ten Erin­ne­run­gen und über­schwemm­te es. Lola sah, in ei­nem auf­ge­reg­ten Ge­drän­ge von Bil­dern, zu­erst einen Pal­men­wald, dann vie­le gri­mas­sie­ren­de Ne­ger­ge­stal­ten, die ihr na­men­los schön er­schie­nen, um Fleischtöp­fe hocken, in die sie oft ihre Händ­chen ge­taucht hat­te; sah ein Stück schäu­men­den, hef­tig blau­en Mee­res und die bu­schi­gen We­del des Zucker­rohrs da­vor; sah Nene, den Bach und die Ku­ru­bus …

»Wenn du fort­gehst«, wim­mer­te sie, »dann –«

Es ent­stand ein Wo­gen großer Blu­men hin­ter ih­ren an An­nas Schul­ter ge­drück­ten Li­dern; und tief in den Blu­men hing die Hän­ge­mat­te mit der schö­nen Mai, die ihr zu­nick­te und lang­sam und wie von ei­ner nicht mehr An­we­sen­den das Ge­sicht weg­wand­te.

»Wenn du fort­gehst, dann ist … al­les aus!«

*

Am Mor­gen trat Pai ins Zim­mer und sag­te:

»Mei­ne klei­ne Lola, Pai muss nun auf kur­ze Zeit zu­rück­rei­sen, und bis er wie­der­kommt, lässt er dich hier.«

Da das Kind nur den Kopf senk­te:

»Es wäre für dich nicht gut, schon wie­der so weit zu rei­sen.«

Lola schlug die Au­gen auf und sag­te hell, wie eine ver­zwei­fel­te Schel­me­rei:

»Pai, nimm mich mit?«

»Mei­ne klei­ne Toch­ter ist ver­nünf­tig, nicht wahr«, er­wi­der­te Pai, ohne Fra­ge im Ton, und Lo­las klei­nes ge­spiel­tes Lä­cheln brach ab. Pai nahm sie bei der Hand und führ­te sie zur Stadt, über einen Markt­platz und in ein al­tes Haus, an des­sen glä­ser­ner Fl­ur­tür die Glo­cke lan­ge klap­per­te.

»Hier wohnt«, sag­te Pai, »eine gute Dame, die sich mei­ner Lola an­neh­men will, so­lan­ge Pai nicht da ist.«

Der Flur war weit; auf sei­nen Stein­flie­sen gin­gen Arm in Arm, zu zwei­en oder in lan­gen Rei­hen, vie­le Mäd­chen um­her. An­de­re hüpf­ten zwi­schen den Flü­geln ei­ner Tür, in der bun­tes Glas war, in den Gar­ten hin­ab. Es wa­ren große und klei­ne; aber die kleins­te, sah Lola gleich, war sie selbst. Sie sah es aus dem Zim­mer, worin Pai mit ihr war­te­te. Es hat­te wei­ße Ta­pe­ten mit gol­de­nen Blu­men dar­auf, eine gol­de­ne Stutz­uhr, sehr hohe Fens­ter mit den Bäu­men des Gar­tens da­hin­ter; und Lola wand­te sich, be­klom­men seuf­zend, von ei­nem Ge­gen­stand zum an­de­ren. Gleich war’s nun so­weit: Pai war fort. Noch hielt er sie doch an der Hand – und war schon fast fort! Oh, was für eine drän­gen­de Men­ge von Din­gen hät­te sie ihm zu sa­gen ge­habt; er muss­te doch ein­se­hen. Mit zu­cken­der Lip­pe brach­te sie her­vor:

»Pai, sieh, was für ein ko­mi­scher Mann ist auf der Uhr.«

Und fie­ber­haft dach­te sie: »Das war’s doch nicht, was ich woll­te.«

Hat­te Pai wirk­lich gar kein Er­bar­men? Sie lug­te zu ihm auf, mit un­ver­stell­tem Jam­mer. Pai sah grad­aus; er hat­te den Mund fest ge­schlos­sen, die Fal­te zwi­schen den Au­gen – und zum ers­ten Male fühl­te Lola, dass er ein stren­ges Ge­sicht ma­che, weil er trau­rig sei; dass er sich streng stel­le, weil er sie lieb­ha­be. Es ward ihr ganz warm und glück­lich; sie drück­te Pais Hand; Pai sah hin­ab, ihr in die Au­gen: da aber ward es drau­ßen bei den Mäd­chen viel stil­ler, und eine klei­ne Dame im schwar­zen Kleid lief ei­lig an dem gel­ben Trep­pen­ge­län­der ent­lang. Schon war sie un­ten, und nun kam sie auf das of­fe­ne Zim­mer zu. Gab es denn kei­ne Ret­tung? Pai tat nichts? Die klei­ne Dame trug die eine ih­rer schma­len Schul­tern hö­her als die an­de­re, sie hielt die Arme ge­krümmt zu den Sei­ten ih­res zer­knit­ter­ten Trau­er­klei­des, und ihr blas­ses, lan­ges Ge­sicht be­kam vom Lä­cheln eine krau­se Nase. Lola sah das al­les mit schre­ckens­vol­ler Ge­nau­ig­keit. Ihr war wie in ei­nem Traum, worin man da­von­lau­fen möch­te und kann sich nicht re­gen. Da fühl­te sie schon die dün­nen lan­gen Fin­ger der Dame kühl um ihre Hand. Was sag­te nun die Dame? Rat­los wand­te Lola sich nach Pai um.

 

»Fräu­lein Er­nes­te be­grüßt dich«, er­klär­te Pai, »und ver­spricht dir, sie wol­le dich lieb­ha­ben und dich al­les Gute leh­ren. Du musst ihr dan­ken.«

»Dan­ke«, sag­te Lola, mit An­stren­gung.

Da­rauf be­gann das Fräu­lein un­ter Lau­ten freu­di­ger Er­re­gung über­all in Lo­las Ge­sicht Küs­se zu wer­fen, die hart wa­ren und schmerz­ten. Lola be­griff nicht; sie er­schrak, und in­zwi­schen hat­te das Fräu­lein schon wie­der eine Men­ge ge­re­det, und al­les klang fra­gend. All­mäh­lich hör­te Lola, dass sie im­mer das­sel­be sag­te, und im­mer lang­sa­mer und deut­li­cher sprach sie es aus. Wie­der such­te Lola Hil­fe bei Pai, aber Pai hat­te sich in einen Stuhl ge­setzt und be­küm­mer­te sich nicht um sie. Und das Fräu­lein drang im­mer stren­ger auf sie ein, mit steil auf­ge­rich­te­tem Zei­ge­fin­ger. Lola hielt sich nicht län­ger; sie brach, und sah dem Fräu­lein da­bei im­mer starr in die Au­gen, in ent­setz­tes Schluch­zen aus. Da ge­sch­ah et­was sehr Selt­sa­mes. Die eif­ri­ge, Ge­hor­sam hei­schen­de Mie­ne des Fräu­leins fiel jäh in sich zu­sam­men und ward ganz un­si­cher und hilf­los. Das Fräu­lein war auch an­fangs nicht groß ge­we­sen; jetzt aber war es nicht mehr viel hö­her als Lola, und es tas­te­te schüch­tern, wäh­rend es den Kopf zum Bit­ten schief leg­te, nach Lo­las Hand. Dar­über er­schrak Lola noch­mals, aber nicht für sich selbst. Was hat­te das Fräu­lein? Ein ver­leg­nes Mit­leid be­rühr­te ihr Herz, und sie lä­chel­te zart. Ein we­nig hö­her noch hob sie des Fräu­leins Hand, die um ihre lag, zö­gernd – und plötz­lich leg­te sie die Lip­pen dar­auf. So­gleich aber trenn­ten sie sich, und Lola lief auf Pai zu, fiel ihm um den Hals und rief, um Pai von dem Fräu­lein und sei­ner Ver­wir­rung ab­zu­len­ken: was für ein herr­li­cher Ap­fel­baum da zum Fens­ter her­ein­grei­fe. Pai hob, da das Fräu­lein ihm et­was zu­rief, Lola hoch em­por, und sie konn­te eine Frucht bre­chen.

Alle drei gin­gen nun in den Gar­ten. Lola fühl­te sich ir­gend­wie be­glückt; und ehe je­mand es sich ver­sah, saß sie dro­ben im Ap­fel­baum. Pai schalt, aber sie hör­te, dass es Spaß sei; das Fräu­lein lach­te von Her­zen, und aus al­len Ecken des Gar­tens lie­fen Mäd­chen her­bei, sich die klei­ne Wil­de an­zu­se­hen. Sie tanz­ten um den Baum, schri­en und streck­ten die Hän­de aus. Pai sag­te hin­auf, das Fräu­lein er­lau­be, dass Lola zur Fei­er ih­rer An­kunft den Mäd­chen Äp­fel pflücke. Lola warf sie ih­nen zu; sie klet­ter­te von Ast zu Ast, such­te sich mit erns­ter Mie­ne eine aus und warf ihr die Frucht in die Schür­ze. Als sie her­un­ter­stieg, um­ring­ten die Grö­ße­ren sie und lieb­kos­ten sie. Aber eine Glo­cke läu­te­te, und alle eil­ten ins Haus. Pai und Lola folg­ten dem Fräu­lein zu ei­ner Lau­be, wo ein Früh­stück be­reit­stand.

Lola be­kam zum Es­sen ein hal­b­es Gläs­chen Wein; dann nahm Pai sie auf sein Knie, küss­te sie und sag­te: »Nun lauf um­her.«

Trotz­dem be­hielt er sie im Arm und sah sie an. Sie ent­schlüpf­te.

»Ei­nen Kuss noch, klei­ne Toch­ter«, rief Pai ihr nach.

»Gleich!«

Und sie sprang hin­ter ei­nem Schmet­ter­ling her. Ihr war lus­tig zu Sinn, sie dach­te: »Sol­che großen Klat­schro­sen! … Ich muss se­hen, was dort in der Mau­er für ein dunkles, dunkles Loch ist … Pai ist gut, auch das Fräu­lein ist gut … Eine Ei­dech­se, husch … Ob die Mäd­chen nicht wie­der­kom­men? … Der schö­ne Tag!«

»Pai!« jauchz­te sie.

»Er kann mich nicht hö­ren, so groß ist der Gar­ten. Wo ist denn die Lau­be ge­blie­ben? Ah, um die­se He­cken muss ich her­um … Nun aber: Pai!« Und sie lief.

Plötz­lich hielt sie an: vor der Lau­be stand das Fräu­lein al­lein.

»Pai?«

Lola kam lang­sam nä­her. Ihre Au­gen durch­forsch­ten die Lau­be, über­flo­gen den Gar­ten und haf­te­ten, ver­za­gend, am Blick des Fräu­leins. Was sag­te er? Doch nicht das? Er konn­te nicht! Lola nahm sich zu­sam­men und frag­te:

»Wo ist Pai, Fräu­lein?«

Das Fräu­lein sag­te et­was, wie­der mehr­mals das­sel­be, aber gar nicht lang­sam und deut­lich wie vor­hin, und doch ver­stand Lola. Sie warf, halt­los jam­mernd, die Arme in die Höhe.

»Er woll­te noch einen Kuss von mir! Wie kann er fort sein, wenn ich ihm doch noch den Kuss ge­ben soll!«

Sie tau­mel­te ein­mal um sich selbst und schlug, un­si­che­ren Laufs, den Weg zum Hau­se ein. Mit­ten dar­auf blieb sie ste­hen, ließ die Arme fal­len, senk­te den Kopf, und die rin­nen­den Trä­nen wu­schen ihr von den Lip­pen den Kuss, den sie nicht hat­te ge­ben dür­fen.