On the Road

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Eine andere frühe Erinnerung ist die an das (traurig braune Haus in der Beaulieu Street, an Erde, Zeit und Gräber).6

Angeblich steht das Haus auf einem alten Friedhof, und der Dreijährige hört Geistergeschichten über das Gebäude von seinem Bruder Gerard. Kein Wunder, wenn Nins Puppen manchmal plötzlich wackeln oder das Geschirr in der Küche scheppert. Gerard erklärt dies mit der Tätigkeit der Totengeister, die unter dem Haus wohnen. Auch die frühe Erfahrung des Magisch-Unheimlichen führt zur Frage nach der Macht von Gut und Böse. Offenbar hat sich der kleine Jack, dazu angeleitet von seinem älteren Bruder, daran gewöhnt, solche spiritistischen Phänomene als die sich in der Realität manifestierenden Kundgebungen böser Mächte aufzufassen.

In der Grundschule liest Jack die populären Kinderbücher seiner Zeit, alle von geringem literarischen Wert, aber von Lehrern und Eltern als Unterstützung ihrer moralischen Vorhaltungen sehr geschätzt.

Bald aber fühlt er sich weit mehr von den Groschenheften angezogen, die Street & Smith und andere Verleger wöchentlich herausbringen. Man bekommt sie am Zeitungskiosk, aber auch in Lebensmittelgeschäften, in Lowell spas genannt, zu kaufen. Der Romanheld, der Jack am meisten imponiert, ist Lamont Cranston, The Shadow, der darum weiß, wie viel Böses im Bewusstsein der Menschen verführerisch sein Unwesen treibt. Er hat die Macht, die Gedanken der Menschen mit einem Nebel zu überziehen, um dann den Kampf gegen das Böse besser führen zu können.

An Frühlings- und Sommertagen erstrecken sich Jacks von den ›Shadow‹-Geschichten inspirierte Tagträume von den Sandbänken des Merrimack zu den Wäldern von Dracut, von den Villen in der Wannalancet Street bis zum Waisenhaus auf dem Hügel, das er in ein Schloss verwandelt, bevölkert von Vampiren und den Erzfeinden seines Shadow-Helden, des Doctor Sax.

Diese Phantasien kehren später bei ihm unter dem Einfluss von Peyote wieder und werden für den einunddreißigjährigen Kerouac, als er 1952 in Mexico City William Burroughs besucht, zum Ausgangspunkt für seinen einzigen phantastischen Roman, der zugleich ein poetischer Bericht über seine Kindheit in Lowell ist. Die Geräusche, Gerüche, das Aroma einer Kindheit in Massachusetts gehen in dieses Buch ein, dessen Fabel einen titanischen Kampf zwischen Gut und Böse imaginiert, der sich vor den davon ahnungslosen Kleinbürgern und Proletariern von Lowell abspielt. Allein Jacky kann Doctor Sax sehen, mit ihm sprechen, während die anderen Jungen in seiner Umgebung nicht merken, wie dabei das Böse die Herzen der Menschen durchweht.

Gut in besonderem Maße ist Gerard, der ältere Bruder Jean-Louis’. Er entwickelt beispielsweise eine geradezu persönliche Beziehung zu den Vögeln, die ans Fensterbrett kommen. Für Jack ist Gerard eine Gestalt in der Nachfolge des heiligen Franz von Assisi.

Gerard leidet über Jahre an Rheuma. Bis zu seinem neunten Lebensjahr hat sich die Krankheit derart verschlimmert, dass er nicht mehr zur Schule gehen kann.

Gerard wird Jean-Louis’ erstes Idol. Aber es ist eine Sache, sterbenskrank im Bett zu liegen und von aller Welt bemitleidet zu werden, und eine andere, ein gesunder, vitaler, mit einer intensiven Einbildungskraft begabter Junge zu sein. Im Vergleich zu Gerard und dieser Vergleich wird vor allem von der Mutter häufig gezogen - muss Jean, Ti Jean oder Jacky immer schlecht abschneiden. Erst recht, als Gerard im Juli 1926 stirbt. Da gesellen sich Schuldgefühle zu dem Wunsch, so heilig und besonders so gütig wie der ältere Bruder zu werden.

Die naive Gewissheit, dass der Bruder bestimmt im Himmel sei, währt nicht lange. Zu tiefgreifend sind die Veränderungen, die Gerards Tod in der Familie hervorrufen. Der ältere Bruder fehlt dem Jüngeren als Spielkamerad und unermüdlicher Geschichtenerzähler. Die Schwester bringt ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr mit heim. Leo, der Vater, ist von Gott so enttäuscht, dass er nicht mehr zur Messe geht, ja geradezu provozierend nur an Freitagen Hamburger isst. Die Mutter verliert ihre Zähne, und der Kult, der um den toten Gerard in der Familie und bei den Nonnen aufblüht, lässt Jean keinen Zweifel, dass seine Mutter Gerard immer mehr geliebt hat als ihn. Häufig findet der Junge keinen Schlaf, und die Mutter muss ihn zu sich ins Bett holen.

Für Leo, den Vater, sind es die Jahre seiner größten beruflichen Erfolge. Er betreibt nun eine eigene kleine Druckerei und gibt eine Art Anzeigenblatt, das Lowell Spotlight, heraus, in dem Themen der Lokalpolitik, die am Ort laufenden Filme und Sportereignisse besprochen werden.

Leo stellt auf seiner Presse auch die Billetts für das größte Kino im Ort her. Die gesamte Familie hat freien Eintritt bei allen Filmen, die im Royal-Film-Palast laufen.

Von seinem fünften Lebensjahr an sitzt Ti Jean jeden Samstagmittag auf der Galerie, starrt auf die vergoldeten Engel an der Decke des Kinosaals und wartet auf den herrlichen Moment, da es dunkel wird und man hinein gesogen wird in eine andere Welt.

Nicht weit von dem Kinobau im neomaurischen Stil liegt das Keith-Vaudevilletheater, wo Leo häufig hinter der Bühne pokert, und mit den Schauspielern schwarzgebrannten Whiskey trinkt.

Das Kino, das Theater und schließlich die zwischen beiden Häusern gelegene Bücherei werden zu den für die innere Entwicklung Ti Jeans wichtigsten Örtlichkeiten.

Die ersten Filme, die Ti Jean sieht, sind Western mit Tom Mix, ›der durch ein erstaunlich schmutziges Filmkalifornien reitet mit einem Hut, so weiß, dass er aussieht wie ein Glühwürmchen‹.7

1932 - es sind schlechte Zeiten, die Arbeitslosigkeit nimmt zu - ziehen die Kerouacs wieder einmal um, diesmal in das frankoamerikanische Viertel Pawtucketville.

Jacks Noten in der Schule sind nun so gut, dass er es sich leisten kann, ab und an den Unterricht zu schwänzen und solche Vormittage schmökernd in der Bücherei zu verbringen. Am Ende des Schuljahres kann er die sechste Klasse überspringen.

Die Erinnerungen an den toten Bruder behalten ihre Bedeutung. Immer wieder laufen Jacks Gedanken zu Gerard zurück, oder er versucht, in Menschen, denen er begegnet, Züge von ihm wiederzuentdecken.

Seine Sexualität erwacht. Von Kindern aus der Nachbarschaft dazu angeleitet, beginnt er zu onanieren.

Bei den Jesuiten fungiert Jean als Ministrant, und sie fordern ihn auf, sich zu prüfen, ob er sich zum Priester berufen fühle. Gegenüber William Burroughs beschreibt Kerouac den Abschluss der Periode seines naiven Kinderglaubens so: ›Als ich vierzehn war, ging ich zu diesem Priester und beichtete ihm, ich hätte die Sünde der Unkeuschheit begangen, und er fragte: Mit dir selbst, mein Sohn, und ich sagte: Ja... und mit anderen Jungen auch. Und wie lang war der Penis des anderen Jungen, mein Sohn? fragte der Priester. Und dieses Ereignis war es, bei dem ich meinen Glauben verlor.‹8

Mit dem Übertritt in die Junior High-School wird aus Jean-Louis Jack. ln der neuen Schule ist die Umgangssprache Englisch. Um diese Zeit beginnt Jack damit, jeden Tag eine kleine Zeitung mit Familienereignissen herauszugeben, und plant seinen ersten Roman. Von der Lektüre des Huckleberry Finn stark beeindruckt, schreibt er die Geschichte eines Waisenjungen, der von daheim fortläuft und in einem Boot den Fluss hinabtreibt. Natürlich ist der Fluss der Merrimack, der durch Lowell fließt, und Jack schreibt sein erstes Werk sorgfältig in ein Notizbuch für 5 Cent. Es trägt den Titel Mike erkundet den Merrimack.

Das Original ist verlorengegangen, aber eine Erinnerung daran findet sich in Kerouacs vielleicht formal kühnstem Buch, Visions of Cody. Dort wird erzählt, wie der Held seine Reise irgendwo in den Sümpfen des Merrimack beginnt, wie er ›weiter und weiter einen kleinen Fluss in Indiana hinabtreibt, in lichtere, merkwürdigere, grünere und immer umfänglichere Abenteuer, die dich endlich in das flache Marschland am Meer bringen, große Kolben Mais in einem sich wiegenden Grasfeld, Gerüche, Rauch einer Stadt, etwas Verrücktes, Wildes und weit, weit fort von dem Platz-unter wilden Weinranken, wo du aufbrachst, als der Traum begann‹.9

Wir stoßen hier gewissermaßen auf Jacks Urszene, auf seinen großen, nie ganz aufgegebenen Traum vom Glück, auf die Geschichte von jener verführerischen Macht, die den Helden wie mit Zauber aus der einförmigen Existenz seines Alltags losreißt und ihn auf eine Reise führt; auf der er neue Erfahrungen macht, die ihn in einen Zustand höherer Lebendigkeit versetzen.

In dieser Zeit entwickelt der Vater eine besondere Leidenschaft für Pferderennen und nimmt den Jungen auf die Rennbahnen in Boston und Rhode Island mit. Jack sieht einen Film über einen Jungen, der Jockey wird und so zu Ruhm und Geld kommt, und sofort konzentriert sich nun seine Phantasietätigkeit auf diesen Sport. Die Steine seines Baukastens verwandeln sich in berühmte Rennpferde, er ist Rennbahnaufseher, Rennstallbesitzer und Jockey in einer Person.

Über die Ereignisse imaginärer Pferderennen berichtet er in den Ausgaben seiner auf einer Handpresse gesetzten Racetrack News.

In das Jahr 1935 fällt der Beginn von Jacks Karriere als Football-Spieler. Eine Sandplatzmannschaft unter dem Namen Dracut Tigers findet sich zusammen. In einer Zeitungsanzeige fordert sie alle örtlichen Mannschaften des American Football mit Spielern zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren heraus.

Bei dem Spiel gegen die Rosemont Tigers, das in den Fichtenwäldern nördlich von Lowell stattfindet, erzielt er, der jüngste, aber auch kraftvollste Spieler bei den Dracuts, nicht weniger als neun Touchdowns. Das Spiel gewinnt seine Mannschaft mit 60:0, selbst ein unter Amateuren ungewöhnliches Ergebnis!

 

Das nächste Spiel wird dann gegen eine Mannschaft junger Burschen aus dem Pawtucketville Social Club ausgetragen, die Leos Prahlereien über seinen Sohn und dessen Teamkameraden nicht so recht haben glauben wollen.

Schon bei der ersten Konfrontation versetzt ein Siebzehnjähriger aus dem Team des Social Club Jack einen Fausthieb ins Gesicht, um so den besten Mann in den Reihen des Gegners auszuschalten. Aber Jack, recht selbstbewusst unterdessen, rammt den um vier Jahre älteren so hart, dass dieser aus dem Spiel genommen werden muss.

Was folgt, sind ›blutspritzende Schlachten... homerischen Ausmaßes‹10 gegen Mannschaften aus dem Viertel der Griechen, bei denen die ethnischen Unterschiede die Leidenschaften noch mehr anstacheln.

Während sich Jacks unaufhaltsamer Aufstieg zum Sporthelden vollzieht - später wird er diese Rolle unter dem Stichwort ›Eitelkeiten‹ abbuchen -, ereignet sich in Lowell eine Naturkatastrophe, die für die Kerouacs nicht ohne Folgen bleibt. Im März 1936 tritt nach der Schneeschmelze der Fluss über die Ufer.

Die Brücken drohen weggeschwemmt zu werden, die Uferdämme, mit Sandsäcken verstärkt, stehen in Gefahr zu bersten. Die Schulen werden vorübergehend geschlossen. Die Jungen schwelgen in Katastrophenphantasien: ›Wir bohrten mit unsren Fingern in den Säcken-wollten, dass die Flut hindurch strömt und die ganze Welt ersäuft, diese verdammte schreckliche Routinewelt der Erwachsenen.‹11

Als die Flut nach einer Woche zurückgeht, ist Leo Kerouac ein ruinierter Mann. Seine Werkstatt hat ebenfalls unter Wasser gestanden, seine Maschinen sind unbrauchbar geworden, versichert ist er nicht. Seine Wettleidenschaft und seine querulantenhaften politischen Ansichten tun ein übriges. Mitte 1937 hat er mehrere tausend Dollar Schulden und kann seine Angestellten, mit denen zusammen er das Spotlight gedruckt und herausgebracht hat, nicht mehr bezahlen. Er macht die Liberalen und jüdische Betrüger für seinen Niedergang verantwortlich. Schließlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich bei einer Druckerei in einer anderen Stadt zu verdingen. Wieder einmal zieht die Familie innerhalb von Lowell um, diesmal in eine Mietwohnung im vierten Stock eines weißgestrichenen Holzbaus im Herzen des meist von Fabrikarbeitern französischer Herkunft bewohnten Slums.

Gabrielle hat einen Job als Lederzuschneiderin in einer Schuhfabrik angenommen, weil Leos Einkünfte allein für den Lebensunterhalt und die Rückzahlung der Schulden nicht ausreichen.

Jack ist unglücklich. Es bedrückt ihn nicht nur der allzu offensichtliche soziale Niedergang in der Familie! Seit Herbst 1936 geht er auf die Lowell High-School; hat es aber nicht geschafft, in das American-Football-Team der Schule aufgenommen zu werden, weil er körperlich zu schwach ist.

Im Winter dieses Jahres sitzt er viel in der Bücherei und liest sich durch die Bände in der Abteilung für Erwachsene. Er freundet sich mit einem griechischen Jungen an, dem idealistisch gesinnten Sammy Sampas, der ihm aufgefallen ist, als er einmal auf offener Straße vor anderen Jungen Lord Byron gegen den Vorwurf in Schutz genommen hat, ein Frauenheld gewesen zu sein. Sammy liest Jack seine Gedichte vor und empfiehlt ihm, Thomas Wolfes Romane zu lesen.

In dieser Zeit keimt in Jack zum ersten Malder Wunsch auf, Schriftsteller zu werden, ein Gedanke, auf den sein Vater, der eben als selbständiger Unternehmer gescheitert ist, mit Hohn und Sarkasmus reagiert. Aber er schafft es in der Saison des Jahres 1935, als Halfback in die Football-Mannschaft aufgenommen zu werden. Bei einem besonders wichtigen Spiel am Thanksgiving Day gegen die Mannschaft aus Lawrence fängt er einen Pass, rennt los und schafft den einzigen Touchdown an diesem Tag.

Danach beginnen sich die Trainer von zwei Mannschaften aus der großen Welt um ihn zu bemühen.

Im Universitätsfußball ist die Aufnahme in ein Team mit einem Stipendium an der entsprechenden Hochschule verbunden.

Die Mutter möchte, dass ihr Sohn an die Columbia University in New York geht. Der Vater hat sich für das Boston College ausgesprochen. Leo Kerouac arbeitet als Setzer bei einer Firma in Lowell, deren größter Kunde dieses College ist, und sein Chef hat von seinem Kunden einen Wink bekommen: ›Sorgen Sie dafür, dass Kerouac auf jeden Fall ans Boston College kommt.‹

In der Küche der Kerouacs wird Abend für Abend diskutiert. Gabrielle setzt sich schließlich durch, aber auch Jack selbst will lieber nach New York. Er träumt davon, dort eine Karriere als Sportjournalist zu beginnen.

Für den Vater hat die Entscheidung zugunsten von Columbia schlimme Folgen. Sein Arbeitgeber entlässt ihn. Ein weiterer schwerer Schlag gegen sein ohnehin schon stark lädiertes Selbstvertrauen. Bisher ist immer er es gewesen, der gekündigt hat. Nun muss er erleben, dass man ihn vor die Tür setzt.

Jacks letztes Jahr auf der High-School ist zugleich die Zeit seiner ersten engeren Beziehung zu einem Mädchen.

Mary Camey ist siebzehn und stammt aus einer irischen Familie. Sie lernen sich auf dem Silvesterball kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Mary fasst ihn bei der Hand, zieht ihn in ein nervöses Gespräch. Sie lässt sich über seine Frisur und über seinen Schlips aus und fragt ihn geradewegs, ob er schon eine Freundin habe. Er ist immerhin schlagfertig genug, um mit ›ja‹ zu antworten. Tatsächlich hat er sich schon ein paarmal mit einer gewissen Peggy Coffey getroffen, aber er spürt: mit Mary ist es etwas anderes.

Sie gehen tanzen, er lädt sie ins Kino ein. Sie haben Geheimnisse. Aber da ist eben noch die große, lockere, rothaarige Peggy Coffey. Tambourmajorin und Bandsängerin. Ein Mädchen, mit dem man mehr hermachen kann als mit Mary. Immerhin ist er als Footballheld auch eine prestigeträchtige Gestalt. Außerdem hat Peggy, was Sex angeht, recht freizügige Ansichten. Jacks Schüchternheit amüsiert sie. Als sie bei einem Sportbankett miteinander tanzen, spricht sie ganz unbekümmert mit ihm über den thrill beim Küssen, und bei Spaziergängen, zu denen sie sich dann verabreden, ist sie es, die ihn küsst. Bei ihr gibt es da keine Ziererei, sie ist quirlig spontan, ein Mädchen, das das Leben von der leichten Seite nimmt. Bei Mary hingegen sind Küsse selten wie ›Napoléon-Cognac‹12, und sie lässt ihn wissen, dass sie ganz gestrichen würden, wenn nicht bald ein Verlobungsring an ihrem Finger funkele.

Der einzige Ausweg aus dem Dilemma zwischen den Forderungen der damals gültigen Moral und ihren Wünschen wäre eine Heirat gewesen. Aber als er ihr einen Antrag macht, lehnt sie ab. Er hat keinen Beruf, seine Zukunft liegt nicht in Lowell. Als Mary sich darauf besinnt, doch ja zu sagen, ist für Jack der Traum schon ausgeträumt.

Ende Juni 1939 feiern Jack und seine Klassenkameraden ihre Graduationsfeier in der Stadthalle und erhalten aus der Hand des Bürgermeisters ihre Zeugnisse.

Im September bricht Jack nach New York auf. Von der Columbia University hat man ihn wissen lassen, dass er zunächst für ein Jahr die Horace Mann Prep School, eine Art Vorkurs zur Universität, besuchen muss. Weder entsprechen seine Noten in Mathematik und Französisch den Anforderungen, die Columbia stellt, noch ist sein Gewicht derart, dass man ihm zutraut, in der Universitätsmannschaft erfolgreich zu spielen, und wer die Universität mit einem Sportstipendium besucht, muss sich solchen Anweisungen wohl oder übel fügen.

Jack wohnt bei Gabrielles Stiefmutter in Brooklyn. Die Horace Mann School liegt in der nördlichen Bronx. Das bedeutet, rechnet man die Hin- und Rückfahrt zusammen, dass er fünf Stunden täglich mit der Subway unterwegs ist. Abfahrt um 6 Uhr morgens von der Fulton Street IRT Station. An der 34th Street in Manhattan werden gewöhnlich Sitzplätze frei, und er erledigt seine letzten Hausaufgaben zum Geratter der Räder und Gleisstränge der D-Linie.

In den Tagebucheintragungen der ersten Tage in der großen Stadt werden noch große Pläne entworfen. Jack will sich weiterbilden. Latein, Mythologie, spanische Literatur und Geschichte. Mit der Ausführung solcher guten Vorsätze ist es bald vorbei. Das anstrengende Football-Training beginnt. Nach dem ersten Spiel ist er völlig deprimiert. In Lowell hat er es schließlich zum Star gebracht. Aber hier in der neuen Mannschaft scheinen ihm alle himmelhoch überlegen. Luigi Piccolo, genannt Lou Little, ist einer der ersten modernen Trainer des American Football, die so etwas wie eine psychologische Strategie zu entwickeln versuchen. Jack erfüllt seine Aufgabe, die linke Seite der gegnerischen Verteidigung aufzureißen, gut und trägt entscheidend zum Gewinn vieler Spiele und somit auch dazu bei, dass Horace Mann die inoffizielle Prep-School-Meisterschaft erringt.

Die meisten von Jacks Klassenkameraden kommen aus ausgesprochen reichen, häufig jüdischen Familien. Jack schreibt für einige von ihnen die Englischaufsätze und kassiert dafür pro Arbeit zwei Dollar. Häufig versorgen sie ihn, dessen Schulbrote meist nur mit Erdnussbutter beschmiert sind, mit Truthahnbrust-Sandwiches, mit teurem Gebäck oder mit Milchschokolade.

Mit manchen Jungen aus diesen Kreisen freundet er sich an.

Da ist Pete Gordon, der Sohn eines Börsenmaklers in der Wall Street. Zu ihm wird Jack häufig übers Wochenende eingeladen. Beim Frühstück legt einem in diesem Haus ein Butler die Grapefruit vor. Mr. Gordon macht Jack das Kompliment, er sehe aus wie ein griechischer Athlet. Wichtiger ist es für ihn, dass Pete etwas für seine literarische Bildung tut und ihm erklärt, seinen Prosastil könne er gewiss verbessern, wenn er sich zukünftig die Kurzgeschichten von Hemingway und nicht Conan Doyles Romane zum Vorbild nähme. Pete lädt ihn auch in moderne Filme ein, und bei ihm hört er zum ersten MalDixieland-Jazz.

Ein anderer Studienfreund aus diesen Tagen ist Eddy Gilbert, Sohn einer reichen Familie, die comme il faut auf Long Island wohnt. Die beiden Klassenkameraden sind die besten Spieler im Schachklub der Schule. Auch bei Eddys Eltern ist Jack mehrmals an Wochenenden zu Gast. Eddys Vater ist Holzhändler und pflegt ein ganzes Bündel von Hundert-Dollar-Noten in der Hosentasche bei sich zu tragen. Für Jack ist es das erste Mal, dass er überhaupt so große Geldscheine zu sehen bekommt. Nach solchen Wochenenden fühlt er sich - auch ohne dass die reichen Leute es darauf anlegen würden, ihn zu demütigen, im Gegenteil, sie sind freundlich und akzeptieren ihn als ihres gleichen - deprimiert und sehnt sich nach Lowell zurück.

Eine andere Welt ist midtown, das Viertel um den Times Square mit seinen Kinos, in denen französische Filme gezeigt werden... mit den schmutzigen Bars, in denen sich Huren, Rauschgiftsüchtige und Homosexuelle herumtreiben... mit den Stundenhotels.

Immer wieder streift sein neugierig-begehrlicher Blick die Frauen, denen er auf diesen Straßen begegnet.

Schließlich, als er sich etwas Geld von verkauften Englischaufsätzen erspart hat, fasst er sich ein Herz und spricht eine Rothaarige, die ihm schon die ganze Zeit in die Augen gestochen hat, an. Auf ihrem Zimmer verliert er seine Unschuld. Er behält durchaus angenehme Erinnerungen an dieses Ereignis.

Im Horace Mann Quarterly erscheint seine erste Kurzgeschichte ›Die Brüder‹. Es ist eine Detektivgeschichte, im Stil abgeschaut bei Henry James, die Handlung konstruiert unter starken Anleihen bei Sherlock Holmes. Doch schon die zweite Geschichte ›Une Veille de Noel‹, Studenten am Weihnachtsabend in einer Bar im Village, verrät sein musikalisches Gespür, seine Begabung, die Melodie von Gesprächen, die er gehört hat, in seine Texte zu übernehmen, die Sprechmusik des amerikanischen Alltags in Literatur zu übersetzen.

Gefördert wird diese Fähigkeit gewiss auch dadurch, dass er den Jazz entdeckt. Es ist einer seiner Klassenkameraden, Seymour Wyse, ein Engländer mit exotischen Interessen, der ihn nach Harlem mitnimmt. Im Apollo-Theater, im Herzen des schwarzen New York, hört Jack zum ersten Maleinen Schwarzen Musiker: Jimmy Lunceford.

Dazu ist die damals durchaus noch bestehende Rassenschranke zu überwinden. Vorurteile müssen aufgegeben werden, die Jack von seiner Familie übernommen hat. Denn Leo Kerouac, der die Liberalen und Juden für das Unglück Amerikas und sein persönliches Versagen verantwortlich macht, hat auch für Schwarze keine Sympathien.

Wer sich für Jazz interessiert, sieht sich veranlasst, in der Rassenfrage Stellung zu nehmen. Wer Jazz hören geht, bewegt sich außerhalb der bürgerlichen Ordnung in einem halbkriminellen Milieu.

 

Es ist nicht zuletzt seine wachsende Vorliebe für guten Jazz, die bewirkt, dass Jack Kerouac langsam die Eierschalen eines braven strebsamen Jungen und Football-Heroen aus der Provinz ablegt und sich immer mehr zu den Außenseitern der Gesellschaft hingezogen fühlt.

Er begreift - und das ist erstaunlich für einen Jungen seines Alters und spricht, wie die Auswahl seiner Lieblingsmusiker auch, für seine Musikalität, dass guter Jazz nicht zur Unterhaltung und zum Tanzen gemacht wird. Jack definiert ihn vielmehr in seinem Artikel für die Studentenzeitung als eine Musik, ›die nicht vorarrangiert ist, sondern frei für alle und alles ad lib. Sie stellt den Ausbruch passionierter Musiker dar, die all ihre Energie in ihre Instrumente einbringen, bei der Suche nach seelenvollem Ausdruck und Superimprovisation‹13.

Als beste Band zu dieser Zeit nennt er nicht Glenn Miller, Benny Goodman oder die Gruppen von Harry James, sondern die schwarze Band von Count Basie, und in ihr ist es Lester Young, dessen Sound ihm richtungweisend erscheint.

Lester Young, von Billie Holiday als ›Prez‹ (Präsident) apostrophiert, bringt bei seinen Solos einen lakonisch-expressiven Ton.

Schwermütig-reflektiv greift Prez auf die Wurzeln des Jazz und zu seiner Seele, dem Blues, zurück.

›Die Wahrheit des Blues‹, lesen wir bei einem Musikkritiker, ›läuft dem geradezu hysterischen Vertrauen in Fortschritt, Maschinen und menschliche Kraft entgegen. Es ist eine dunklere, schicksalsträchtigere, aber im Letzten dann auch mehr entspannte und humorvolle Wahrheit, die ihr ganz eigenes, nüchternes und sinnliches Vergnügen hat.‹

Einer der Großen des Blues, Memphis Slim, hat einmal gesagt: ›Wenn alles einstürzt, musst du zurückgehen zur Mutter Erde.‹

In dieser Musik, die Kerouac in diesen Jahren hört und analysiert, liegen nicht nur die Wurzeln seines Prosastils, sie entspricht voll und ganz dem Lebensgefühl der sich erst später bildenden Beat generation. Kerouac hat sich später ausdrücklich dazu bekannt, den Satzbau seiner Texte der Phrase im Jazz nachgestaltet zu haben. Er hat seine spezifische Schreibweise mit dem musikalischen Vortrag eines Bläsers verglichen und erklärt, die Länge der Atemzüge sei für beide die rhythmische Maßeinheit.

›Jazz und Bop in dem Sinn, wie ein Tenorsaxophonist Atem schöpft und eine Phrase auf seinem Saxophon bläst, bis ihm der Atem ausgeht, und bis das geschehen ist, muss die Verlautbarung erfolgt sein... Genauso teile ich meine Sätze. Sie trennen sich voneinander im Bewusstsein der Notwendigkeit, dazwischen zu atmen... ich formuliere die Theorie des Atmens als Maß in Prosa und Lyrik... so kommt es zu einer Sprache, die die rassige Schärfe, die Freiheit und den Humor des Jazz hat.‹14

Vorerst schreiben wir noch das Jahr 1939/40. Die Ereignisse des eben in Europa ausgebrochenen Weltkriegs sind für die Menschen in den USA noch fern. Jack besucht in der großen Stadt seinen Vorkurs zur Universität, hat in jeder Beziehung viel zu lernen und träumt immer noch davon, ein Starspieler im American Football zu werden.

Zu dem großen Frühlingsball im April 1939 lädt er Mary Carney ein, zu der der Kontakt nicht ganz abgebrochen ist. Der Smoking, den Jack trägt, stammt vom Onkel eines seiner Klassenkameraden, ein anderer borgt ihm die Schlüssel zu einer Wohnung in der West End Avenue, wo Mary wohnen wird. Einkünfte aus seinem Aufsatzhandel investiert Jack in einen Besuch beim Friseur und im Bräunungsstudio des Hotels Pennsylvania, mit dem Erfolg, dass er, als ihn sein Mädchen in der Wohnung seiner Tante trifft, einen schmerzhaften Sonnenbrand hat. Mary trägt ein rosa Kleid und eine Rose im Haar. Der Besuch in New York wird kein Erfolg. Die Freundinnen der reichen Jungen schneiden die Landpomeranze. Mary ist todunglücklich. Sie sagt ihm eindeutig - und man kann ziemlich sicher sein, hier ist kein Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit: ›...ich werde niemals in dieses New York kommen und hier leben, du musst mich zu Hause nehmen und so wie ich bin... Du gehst hier vollkommen verloren, ich kann dich gerade noch erkennen - Du hättest nie von zu Hause weggehen sollen, um hierherzukommen, mir ist es egal, was alle anderen über Erfolg und Karriere reden - es wird dir nichts Gutes bringen...‹15

Damit ist es entschieden. Er wird sie noch einmal wiedersehen, als er während der Ferien nach Lowell kommt. Endlich wird er sich ein Herz fassen und versuchen, sie zu verführen, aber mehr als eine Rangelei in einem Auto wird nicht daraus.

In diesen Sommerferien lesen Jack und sein Freund Sammy Sampas Thomas Hardy, Emily Dickinson, David Thoreau, daneben aber auch Jack London, in dessen Geschichten Jack das Lebensgefühl der Hobos und Bums anspricht. Vor allem aber berauschen sich die beiden Freunde in Lowell an dem ›krachenden Donner von Walt Whitmans visionären Prophezeiungen‹16

Dennis MacNally schreibt über diesen Einfluss: ›...Walt war für sie mehr als ein metaphysischer Dichter, er war ein Amerikaner, er war ein Barde, der von der Seele eines großen Landes sang, der die einfachen arbeitenden Menschen in diesem Land feierte und eine Prostituierte, die um ihr Recht klagte, nicht ausschloss. Der wildentschlossene, nun patriotisch eingemeindete Amerikaner, zu dem sich Jack entwickelt hatte, nickte dazu, wenn bei Walt stand: Wer bist du denn, der du reden oder singen willst von Amerika/Hast du dieses Land studiert, seine Idiome, seine Menschen?‹17

Der Krieg kommt nun näher. Als Jack zu seinem Freshman-Jahr an der Columbia University nach New York zurückfährt, kreiert Kate Smith gerade die patriotische Schnulze God Bless America. Überall in den Straßen New Yorks sieht man Plakate, die zu Hilfsaktionen für Holland, Polen und England aufrufen.

Vorerst ist Jack damit beschäftigt, sich an der Universität einzugewöhnen. Er lebt in einem Studentenheim und nicht mehr bei seinen Verwandten. Er hört die moralisierende Einführungsrede des Präsidenten von Columbia. Von den Vorlesungen beeindruckt ihn vor allem der Kurs von Professor Mark Van Doren über Shakespeare. Abends versucht er die riesige Leseliste, die die Universität vorschreibt, zu verkürzen, hört das klassische Musikprogramm der Station WXT und saugt an der Pfeife, die er sich als Zeichen seines Studentenstatus zugelegt hat.

Der 16. Oktober 1940 schon ist vorlesungsfrei, und die Mehrzahl der Studenten begibt sich zur ersten Musterung in Friedenszeiten in der Geschichte der USA.

In New York interessiert man sich lebhaft für die sensationellen Bilder von der Luftschlacht über England. Könnte einem das hier auch blühen, wenn es mit den Erfolgen Hitlers so weiterginge?

Angesichts der allgemeinen Kriegsbegeisterung unter den jungen Leuten ist es wenig erstaunlich, dass sich auch Jack für den Fall eines Kriegsausbruchs für die Streitkräfte registrieren lässt. In Columbia spielt er mit gutem Erfolg in der American-Football-Mannschaft. Aber nach dem fünften Saisonspiel bricht er sich den Fuß.

Jack genießt das erzwungene Faulenzerleben. Statt Teller zu waschen, geht er jeden Abend in das Universitätsrestaurant Lion’s Den und bestellt dort auf Kosten der Sportabteilung große Steaks und Eisportionen. Auf seinem Zimmer verschlingt er die Romane von Thomas Wolfe, von dem er später sagen wird: ›Er ließ mich Amerika als ein Gedicht statt als Ort begreifen, an dem man sich abrackern und schwitzen muss.‹18

Noch ehe er die Krücken beiseite gelegt hat, macht er die Bekanntschaft von Frankie Edith Parker. Die Neunzehnjährige aus Grosse Pointe, Michigan, lebt in Manhattan bei ihrer Großmutter. Sie ist nach New York gekommen, um bei George Grosz Kunst zu studieren, aber mehr noch, weil sie das aufregende Leben der großen Stadt verlockt. Aufgewachsen ist sie in einem konservativen Vorort von Detroit unter Millionären. Sie ist entschlossen, alles zu sehen und zu erleben, was es in Grosse Pointe nicht gibt. In Manhattan hat sie den Franzosen Henri Cru kennen gelemt und sich sofort in den lustigen und lebensfrohen jungen Mann verliebt. Sogar von Heirat ist schon die Rede gewesen.