On the Road

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Ein Sohn aus gutem Hause

(1914-1944) William Burroughs

Once started out

to walk around the world

but ended in Brooklyn.

That Bridge was too much for me

I have engaged in silence

exile and cunning.

Lawrence Ferlinghetti1

... geboren am 5. Februar 1914 in St. Louis. In der Reihe seiner Vorfahren treten uns zwei bekannte Typen der amerikanischen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts entgegen: der Yankee-Erfinder und der Prediger aus dem Süden.

Der Großvater väterlicherseits war Mechaniker gewesen. Er hatte Patente auf Eisenbahnweichen und auf ein Papiermesser angemeldet, ohne Geld damit zu verdienen. Häufig war er arbeitslos. Sein Sohn William wurde mit achtzehn nach der High-School Bankangestellter. Als solcher war er Tag für Tag acht Stunden damit beschäftigt, Zahlenkolonnen abzuschreiben und zu addieren. Tausender, die zu Millionen kommen, von denen Hunderter abgezogen und erneut Tausender dazugezählt werden.

Eine langweilige, monotone Arbeit. Sieben Jahre blieb William bei der Bank. Dann war seine Gesundheit ruiniert. Tuberkulose. So schwer, dass er seinen Beruf aufgeben musste.

Er erinnerte sich an die Erfindertradition in der Familie.

Es war die Zeit, in der man mit einem neuen Produkt, das sich in Massenproduktion herstellen ließ, von heute auf morgen reich werden konnte.

Die erste Schreibmaschine 1868.

Das erste Telefon 1876.

Die Registrierkasse 1879.

Der Füllfederhalter 1884.

William Seward Burroughs erfand eine Rechenmaschine, die mit der Drehbewegung einer Kurbel eine Reihe von Zahlen addieren konnte und die Rechenoperation sofort ausdruckte. Später kam ein breiter Wagen dazu, der das Buchhaltungsjournal beförderte.

Von dem bis heute üblichen Papierstreifen ließen sich alle Geschäftsvorgänge eines Tages ablesen.

Zusammen mit einem anderen Erfinder,. dem Kanadier Joseph Boyer, gründete er mit einem Startkapital von 100.000 Dollar die American Arithmeter Company. Später würde das Kapital nach dem Willen der Aktienbesitzer auf 200.000 Dollar erhöht.

William Seward Burroughs I. hatte inzwischen geheiratet. Die Krankheit hatte ihn nicht daran gehindert, Kinder in die Welt zu setzen, vier an der Zahl, die Söhne Mortimer und Horace und zwei Töchter.

Die Wundermaschine hatte einen Konstruktionsfehler. Je nachdem, wie heftig man die Kurbel bewegte, wurden verschiedenartige Summen ausgedruckt.

Eines Tages betrat Burroughs leicht alkoholisiert das Lager der Firma und warf alle noch nicht verkauften und zurückgesandten Maschinen aus dem Fenster hinunter auf den Hof.

Er fing noch einmal an zu probieren und zu zeichnen.

Elin Metallzylinder mit einem Kolben wurde eingefügt, in dem zwei kleine Löcher den Ölfluss regulieren. Damit war sichergestellt, dass der Schaftmechanismus sich immer gleichmäßig bewegte, gleichgültig welche Kraft auf die Kurbel einwirkte.

Die verbesserte Maschine, die 1891 für 425 Dollar angeboten wurde, war nun wirklich der Traum eines jeden Buchhalters.

Während Burroughs’ Vermögen wuchs, ging es mit seiner Gesundheit immer mehr bergab. Er zog mit der Familie nach Citronelle in Alabama, ein Ort, von großen Pinienwäldern umgeben. Frische Luft war immer noch das einzige Heilmittel gegen Tuberkulose, das man zu jener Zeit kannte. Aber Ruhe und gute Luft konnten seine zerstörten Lungen auch nicht mehr retten. William Burroughs I. starb mit einundvierzig Jahren im September 1898.

Inzwischen hatte sich die Firma unter Boyers Leitung gut entwickelt. Sie war nach Detroit umgezogen, beschäftigte 1904 465 Angestellte und verkaufte in diesem Jahr 7800 Additionsmaschinen. Das Vermögen der Gesellschaft, die sich inzwischen Burroughs Adding Machine Company nannte, wuchs bis zum Jahr 1920 auf 430 Millionen Dollar an. Aber davon profitierten Burroughs’ Nachkommen kaum noch. William Seward I. hatte beim Umzug in den Süden einen guten Teil seiner Kapitalanteile abgestoßen und den verbleibenden Rest in eine Treuhandgesellschaft eingebracht.

Die Manager der weiter aufstrebenden Gesellschaft überredeten die Kinder der Erfinder, ihre Anteile zu verkaufen. Sie bekamen dabei für die Wertpapiere, die bald eine Million und noch später ein vielfaches dieser Summe gebracht hätten, ganze 100.000 Dollar.

William Burroughs II. hat später einmal ausgerechnet, dass das Aktienpaket seines Vaters in den dreißiger und vierziger Jahren um die 20 Millionen Dollar wert gewesen wäre. Dass er in seinen Geschichten das kapitalistische Zeitalter als von Gangstern beherrscht darstellen wird, scheint angesichts solcher Erfahrungen in der eigenen Familie begreiflich.

Die Mutter Burroughs’ II., Laura, stammte aus einer Familie von Pachtbauern und Predigern aus dem amerikanischen Süden. Ihr Vater, James Wideman Lee, wurde methodistischer Pfarrer in St. Louis in einem Viertel der reichen Leute, seine Frau Eufala leitete die Women’s Temperance Union. Man sagte von ihr, sie hätte einen ihrer Söhne lieber tot als betrunken heimkommen sehen.

Ein Wahlspruch der Predigersippe Lee lautete: ›Wenn du das Spiel des Lebens gewinnen und den Gott ehren willst, der dich geschaffen hat, musst du hart und zielstrebig arbeiten.‹2

Wer solche Sonntagsschulweisheit im Sinn einer neuen Zeit zu interpretieren verstand, war Ivy Ledbetter Lee, der Bruder der Mutter. Von ihm erzählt man, er habe noch den skrupellosesten Kapitalisten in einen nur auf Wohltätigkeit sinnenden Philanthropen umzudichten vermocht. Seine dreist-schamlosen Lügen trugen ihm den Spitznamen ›Poison Ivy‹ ein.

Wenn William Burroughs’ Großvater der Erfinder der Addiermaschine ist, so ist Ivy der Schöpfer der modernen Public Relations.

Ein paar Jahre arbeitete er als Zeitungsschreiber in New York, tatsächlich aber als Presseagent des großen Geldes.

Im Oktober 1913 kam es in den USA bei einem Streik der Bergleute in Colorado zum sogenannten Ludlow-Massaker, bei dem durch Polizei und Staatsmiliz zwei Frauen und elf Kinder getötet wurden. Die Mehrheitseigentümer der Kohlegruben waren die Rockefellers. Im ganzen Land hatten sie eine schlechte Presse, worauf der bis dahin eher menschenscheue und in splendid isolation lebende John D. Rockefeller jr. plötzlich Volksnähe demonstrierte. Er besuchte die Bergarbeiter, tanzte mit deren Frauen, hielt Reden, die vor Verständnis für die soziale Not seiner Arbeiter und Angestellten nur so trieften.

1915 wurde Ivy Lee endgültig Rockefellers Public-Relations-Chef. Die Fähigkeit, Kapitalisten, die über Leichen gingen, in den Augen der Öffentlichkeit als Altruisten dastehen zu lassen, war die Ware, mit der Ivy Lee handelte.

Doch auch dem Erfinder der Public Relations unterliefen in seinen öffentlichen Beziehungen Fehler.

1933 kamen in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht.

Für ein Jahresgehalt von 33.000 Dollar ließ sich Lee von der IG Farben anwerben, um Adolf Hitler, den Führer eines neuen Deutschland, in den USA populär zu machen. Lee reiste nach Europa, wurde Hitler und Goebbels vorgestellt. Er riet den Nazigrößen im Grund zu nichts anderem, als was er auch schon Rockefeller geraten hatte: In der Öffentlichkeit darf nicht der Eindruck entstehen, dass man es mit Unmenschen zu tun hat.

Dem Außenminister Ribbentrop empfiehlt er, die deutschen Wiederaufrüstungspläne einfach abzustreiten. Und Hitler solle erklären, die SS sei nun einfach nötig, um die Kommunisten in Schach zu halten.

Gegen ein Deutschland, das berechenbar war, würde niemand in Europa oder Amerika etwas einzuwenden haben.

Allmählich aber entpuppten sich die Nazis keineswegs als jene netten Burschen, als die Lee sie der amerikanischen Öffentlichkeit hatte verkaufen wollen. Er wurde als Presseagent der IG Farben enttarnt. Sein Ruf war endgültig dahin, als er 1934 vor dem Ausschuss für Unamerikanische Aktivitäten zugeben musste, beträchtliche Summen aus Deutschland bekommen zu haben, um Hitler mit seinen Werbetricks in ein günstiges Licht zu. rücken. Um den süßen Geschmack des Erfolgs gebracht und nun gar als Staatsfeind gebrandmarkt, starb er verbittert im Oktober 1934 mit erst 57 Jahren an einer Gehirnblutung.

Laura Lee und Mortimer Burroughs heirateten 1910. Der junge Ehemann arbeitete noch für kurze Zeit als Vertreter für die Burroughs Company. Nach dem Verkauf seiner Firmenanteile eröffnete er ein Geschäft für Glasscheiben. Das Ehepaar hatte zwei Söhne, Mortimer jr., der 1911 geboren wurde, und William Seward II., der drei Jahre später zur Welt kam. Man lebte in einem Viertel der High-Society, ohne selbst recht dazuzugehören. Die Ehe der Eltern scheint glücklich gewesen zu sein, aber es ist eine Familie, in der man Gefühle nicht zeigt. Mort, der Ältere, schlägt nach dem Vater, ist von gedrungener Statur, wirkt gesund. Billy ist dünn, bleich, sieht eher der Mutter ähnlich und wird rasch zum schwarzen Schaf der Familie.

Billys Entwicklung verläuft von Anfang an kompliziert. Schon sehr früh scheint es Eindrücke und Einflüsse gegeben zu haben, die ihn in die Rolle des Außenseiters und Rebellen drängten.

Gefährlich wird sich in dieser Familie, in der zwischen den Eltern nie ein lautes Wort fällt, aber ein eher frostig-formelles Klima herrscht, der Einfluss von zwei Frauengestalten ausgewirkt haben, denen etwas Unheimliches anhaftet, die aber im Halbdunkel frühester Erinnerungen bleiben.

Da ist eine alte irische Köchin, die Burroughs retrospektiv mit einer der Hexen aus Macbeth vergleichen wird. Von ihr lernt er Praktiken des Magisch-Unheimlichen, beispielsweise einen Ruf, um Kröten anzulocken, oder einen Zauber, um jemandem das Augenlicht zu nehmen.

 

Schädigender und das kindliche Bewusstsein nachhaltiger beeindruckend sind die sexuellen Stimulationen, mit denen die Kinderfrau Mary Evans den Jungen an sich zu binden versucht.

Offenbar gibt es da eine verschüttete Schlüsselszene, einen Vorfall, der sich bei Billy im Alter von vier Jahren abgespielt haben könnte, obgleich Burroughs ihn sich auch in späteren Jahren bei psychoanalytischen Behandlungen nie mehr klar und deutlich ins Bewusstsein zu rufen vermocht hat. So bleibt es eine Mutmaßung, dass Mary Evans das Kind veranlasst hat, mit ihrem Freund stellvertretend für sie sexuell zu verkehren. Die Eltern merken offenbar nicht, dass diese Mary Evans trotz ihrer untadeligen Referenzen eine Person mit perversen Neigungen ist. Bill hingegen leidet unter dem Mangel an Kontakt mit seinen Eltern. Er hat manchmal das Empfinden, überhaupt keine Eltern zu haben.

Billy mag unter anderem auch die unsichere soziale Position seiner Familie gespürt haben.

Die Türsteher in den Häusern seiner Spielgefährten aus reichen Familien wollen ihn nicht hereinlassen. Wenn er in einem Geschäft einkauft, wird ihm das Wechselgeld wortlos, ohne Höflichkeitsbezeugungen zugeschoben.

Von der siebten bis zur zehnten Klasse besucht Billy eine Privatschule in St. Louis. Auch hier bleibt er isoliert, zumal er sich nicht für Sport interessiert. Der Lateinunterricht ist ihm verhasst. Die Hausaufgaben erledigt er widerwillig. Er sitzt in der Klasse ganz hinten und zielt in den Schulstunden mit einem Bleistift auf seine Mitschülerinnen und Mitschüler.

1927, Billy ist nun dreizehn, wird St. Louis von einem Tornado heimgesucht. Der Sturm bringt ganze Häuserblocks zum Einsturz. Dreihundert Menschen kommen ums Leben. Auf die öffentliche Katastrophe folgt eine persönliche.

Mit vierzehn experimentiert Billy im Keller mit Chemikalien. Es kommt zu einer Explosion. Der Vater, der sich im Nebenraum aufhält, fährt den verletzten Jungen sofort ins Krankenhaus. Die Operation unter Morphium dauert zwei Stunden. Sechs Wochen muss Billy im Krankenhaus bleiben.

Seine Vorliebe für Sprengstoff und Waffen scheint danach eher noch zugenommen zu haben. Er bastelt eine Bombe und legt sie seinem Klassenlehrer vor das Fenster. Der Sprengkörper wird entdeckt, ehe er Schaden anrichtet. Die Frau des Lehrers verständigt Billys Mutter, und er muss sich entschuldigen gehen.

1929, nachdem der Vater seine Firmenanteile zu Geld gemacht hat, reisen die Burroughs nach Frankreich. Billy geht mit seinem Vater und seinem Bruder auf die Entenjagd. Gewehre, überhaupt jede Art von Waffen, imponieren dem Jungen schon damals ungemein. Aus Europa bringt er einen Stockdegen mit heim.

Wieder in St. Louis, verliebt er sich in einen hübschen, braunäugigen Lockenkopf, Keils Elvins. Der Vater ist ein ehemaliger Kongressabgeordneter, Rechtsanwalt und rabiater Antisemit.

Billy scheint sich zu diesem Zeitpunkt darüber klargewesen zu sein, dass er homosexuell veranlagt ist. Er lehnt später alle psychologischen Erklärungen ab und ist davon überzeugt, er sei so geboren worden.

Der bewunderte Keils ist alles das, was er nicht ist, aber zu sein wünscht: sportlich, populär, ein großer Frauenheld.

Jemand, der Genugtuung dabei empfindet, Frauen zu verführen, ohne sie eigentlich zu mögen, dem es große Lust bereitet, sie zu demütigen.

Ein Lehrer, der das Verhältnis der beiden zueinander beobachtet, sagte zu Billy: ›Du bist ja sein Sklave.‹3

Es wird eine lebenslange Freundschaft.

Immer wieder werden sich ihre Wege kreuzen.

Ohne Zweifel findet Billy das Leben in St. Louis langweilig und die Atmosphäre in seinem Elternhaus wenig herzlich.

Mit dreizehn Jahren entdeckt er ein Buch, das seine Lebensentwürfe und seine Wünsche nachhaltig beeinflusst. Es stimuliert sein langanhaltendes Interesse am kriminellen Milieu und am Verbrechen. Der Autor nennt sich Jack Black, der Titel lautet: You can’t win. Es handelt sich um die Memoiren eines berufsmäßigen Diebes und Rauschgiftsüchtigen. Einer von Burroughs’ Biographen, Ted Morgan, beschreibt den Inhalt und seine Wirkung auf Burroughs wie folgt: ›Jack Black verlässt die Schule mit vierzehn. Er arbeitet in einem Zigarrengeschäft, in dessen Hinterzimmer Poker gespielt und gewürfelt wird. Er dient den Halunken als Laufbursche, und ihm gefällt deren farbige Ausdrucksweise: »Wenn es immer Suppe regnet, hat es keinen Zweck, dass ich mir einen Zinnlöffel kaufe« oder »Ich habe eine Reihe Schulden, länger als die Wäscheleine einer Witwe«. Jack wird ein Einbrecher und macht die Bekanntschaft von Salt Chunk Mary, einer Hehlerin, die alles Diebesgut aufkauft und verkauft, aber »ehrlicher ist als eine goldene Guinee«.‹4

Salt Chunk Mary gehört zur Johnson-Familie, einer Gruppe von Gaunern mit einem eigenen Verhaltenskodex. Die Johnsons verlassen sich nur auf Angehörige des eigenen Klans. Sie sind gegenüber ihrer Sippschaft loyal und ehrlich und helfen sich, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten gerät. Sie mögen Outlaws und Diebe sein, aber gemäß den Gesetzen, die sie sich selbst gegeben haben, sind sie rechtschaffen, und auf ihr Wort ist Verlass. Die Johnsons wurden für Billy zum Vorbild für seine individuelle Moral. Vor allem imponierte ihm der Kontrast zu der Heuchelei, der Geschäftigkeit und der doppelten Moral der guten Bürger in St. Louis.

Natürlich romantisiert der Heranwachsende das kriminelle Milieu. Um es in der Realität kennenzulernen, wird er sich in den nächsten Jahrzehnten seines Lebens immer wieder in Abenteuer einlassen, deren Gefährlichkeit er mit seinem scharfen analytischen Verstand zweifellos abzuschätzen vermag. Warum - so: liegt es nahe zu fragen - lässt er sich dennoch darauf ein?

Er vermeint zu spüren, dass dieser Jack Black und diese Salt Chunk Mary, Gold Tooth und Foot und Half George und all die anderen Leute seines Schlages sind. Er ist nicht mehr allein. Die Johnsons werden zu einem Teil seiner persönlichen Mythologie. Um diese Zeit beginnt Billy selbst zu schreiben.

›Sein erster literarischer-Versuch nannte sich »Die Autobiographie eines Wolfes«. Mari lachte ihn aus und sagte: »Du meinst wohl die Biographie eines Wolfes.« Aber nein, ihm ging es um eine autobiographische Erzählung, in der er ein junger Wolf ist und mit seinem rothaarigen Wolfsgespielen Jerry in einer kühlen Kalksteinhöhle haust, wo sie sich gegenseitig das Blut ablecken, sie sind damit verschmiert von Kopf bis Fuß, denn sie haben in der Nacht ausgiebig Schafe gerissen und sich prächtig amüsiert. Sie lachen über die dummen Rancher, die nicht ahnen, dass sie ihnen die vergifteten Fleischstücke oft meilenweit wegschleppen und am Farmhaus über den Zaun schleudern, wo dann alsbald die Hofhunde daran verrecken. Als die Sonne aufgeht, kuscheln sie sich aneinander und sinken zufrieden rülpsend in den Schlaf.

Doch das Idyll nimmt ein jähes Ende; Jerry wird von einem Jäger erledigt, der Wölfe gegen Prämien abschießt. Audrey, traurig über den Verlust seines Gespielen und überdies von Staupe befallen und entsprechend geschwächt, wird von einem Grizzly erwischt und gefressen.‹5

So schildert Burroughs fast fünfzig Jahre später diesen ersten literarischen Versuch und auch dessen Fortschreibung: Aus Jerry, dem rothaarigen Wolf, wird der Saure Kid, ein Saxophonist im knallroten Hemd, der sich plötzlich eine Zitrone in den Mund schiebt und damit eine-Entgleisung auslöst:

›Ein Crescendo saurer Töne von Saxophonen und Trompetern: Die Sängerin steht mit offenem Mund da. Speichelfäden hängen ihr vom Kinn wie bei einer Kuh mit Maul- und Klauenseuche. Kellner und Rausschmeißer nähern sich von mehreren Seiten. Der Saure Kid spuckt die Zitrone aus, geht auf alle viere herunter und verwandelt sich in einen dürren, sehnigen, rothaarigen Wolf. Er bleckt die Zähne zu einem wölfischen Grinsen und springt mit einem Satz aus dem nächsten Fenster hinaus in die Sommernacht. Der Saure Kid demolierte nun Kirchenlieder, Nationalhymnen, irische Tenöre, jodelnde Cowboys... bei einer Wahlkundgebung von Gouverneur Wallace macht er Old Glory mit seiner Zitrone zur Schnecke...‹6

Die nächste Steigerung - diesmal attackiert der Saure Kid die schwüle Erotik mancher Tierfilme - besteht in der Zurschaustellung von Sexualität, und zwar auf eine Weise, die für eine puritanische Gesellschaft schockierend sein muss:

›Er geht auf alle viere herunter, bleckt grinsend die Zähne und ejakuliert. Reißzähne brechen aus seinem blutenden Gaumen. Kiefer, Mund und Nase schieben sich vor und werden zu einer Schnauze, rotes Fell sprießt ihm am Rücken herunter und endet in einem buschigen roten Schweif, der seine schmalen, sehnigen Lenden peitscht, seine Eier ziehen sich zusammen, der Saft schießt ihm in langen Spritzern aus seinem roten wölfischen Phallus, ein Zittern durchläuft seinen Körper, sein Atem dringt keuchend durch die gebleckten Zähne, seine Augen leuchten auf in einem knalligen Zitronengelb, ein beißender Geruch entströmt seinem dampfenden Fell, ein Gestank nach verschmortem Zelluloid und animalischen Ausdünstungen. Mit einem Satz springt er aus einem unsichtbaren Fenster und verschwindet in einer Sommernacht um 1920. Aus weiter Feme hört man den klagenden Pfiff einer Lokomotive.‹7

Zurück zu den ersten Schreibversuchen des Vierzehn-, Fünfzehnjährigen.

Nach der wölfischen Autobiographie, und tatsächlich ist er ja ein lonesome wolf, sind es aktionsreiche Western, die alle schon jene faktische Direktheit haben, für die Burroughs’ spätere literarische Werke berüchtigt sind.

Offenbar werden hier Lüste ausgelebt, die sich einzugestehen dem Schreibenden sonst verboten ist.

Billy liest seine Geschichten in der Schule vor. Er spielt sogar mit dem Gedanken, sie an ein Magazin mit dem Titel True Confessions zu schicken.

Häufig kommt in diesen Texten der die reale Welt aus den Angeln hebende Einfluss von Rauschgift vor, und immer spielen sie in exotischen Milieus.

In der neueren Psychiatrie ist die These aufgestellt worden, dass die Affinität zu Drogen einen Überschuss an Phantasie bei der betreffenden Person zur Voraussetzung habe. So entstände eine Enttäuschung über die reale Welt. Aus ihr wiederum ergäbe sich ein stark ausgeprägtes Verlangen nach Phantastischem, das nur unter dem Einfluss der Droge seine Erfüllung findet.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, wie Burroughs sich als Jugendlicher den Beruf eines Autors vorgestellt hat: (Schriftsteller waren reich und berühmt. Sie machten sich ein bequemes Leben in Singapur und Rangun, trugen gelbe Seidenanzüge und rauchten Opium. Sie schnupften Kokain in Mayfair, erkundeten gefährliche Sumpfgebiete in Begleitung eines treu ergebenen Eingeborenenjungen und wohnten in der Kasbah von Tanger, wo sie Haschisch rauchten und lässig eine zahme Gazelle streichelten.‹8

Bezeichnenderweise ist es ein Aufsatz mit dem Titel ›Persönlicher Magnetismus‹, der als erstes Stück Prosa aus der Feder des Vierzehnjährigen in der Schulzeitung erscheint.

Tatsächlich werden die für seine Psyche bezeichnenden Obsessionen und ihre literarische Verarbeitung schon in seiner Pubertät erkennbar.

›Ist es mir nun gelungen, andere mit nichts als einem Blick zu kontrollieren? Oh, gewiss doch, aber ich hatte nicht den Mut, es auch wirklich zu tun. Aber hier will ich erklären, wie man es macht: Man muss dem Opfer geradewegs in die Augen schauen, und mit tiefer, ernster Stimme sagen: ›Ich rede, und du hast zuzuhören‹, dann muss man den Blick noch intensivieren: ›Du kannst mir nicht entkommen.‹ Nachdem ich mein Opfer völlig unterworfen hatte, hätte ich sagen sollen: ›Du kannst mir nicht entkommen. Hebe dich hinweg von mir, Satan.‹ Man stelle sich vor, ich hätte das mit Mr. Baker gemacht.‹9

Auch der besondere Burroughssche Humor - Ungeheuerliches mit gleichgültigem Gesicht von sich zu geben - deutet sich hier schon an.

Skandalöse Bücher zu schreiben und ihre Veröffentlichung zu erzwingen, ist schließlich auch eine Möglichkeit, sich über andere Gewalt zu verschaffen.

1929 ist das letzte Jahr, das Billy in St. Louis verbringt. Er leidet häufig unter Trigeminusschmerzen und Asthmaanfällen, die durch einen Aufenthalt in einem trockenen und warmen Klima ausgeheilt werden sollen. Deswegen hat die Mutter ihn für die letzten beiden Jahre der High-School am Ranch School College eines gewissen Pond Ashley bei Los Alamos in New Mexico angemeldet. Er hat dort schon an einem Ferienlager teilgenommen.

 

Die Schule, auf die Billy da geschickt wird, samt dem Mann, der sie betreibt, muten an wie satirische Erfindungen eines Romanautors, der sich vorgenommen hat, den kapitalistisch-imperialistischen Zeitgeist in den USA der dreißiger Jahre zu geißeln.

Ponds Erziehungskonzept war simpel, imponierte aber den Superreichen im Land ganz ungemein. In seiner Schule sollten aus Muttersöhnchen harte Männer werden. Nicht Buchwissen wollte diese Anstalt vermitteln, sondern ihre Schüler auf den Lebenskampf im Ellbogenkapitalismus vorbereiten. Das Überlebenstraining inmitten einer nahezu unberührten Natur würde die Heranwachsenden fit machen für die Schlammschlachten in Wirtschaft und Politik. Die Schule gab sich ganz bewusst antiintellektuell, propagierte, einem falsch verstandenen Darwinismus folgend, das Recht der Stärksten.

Als Schuldirektor stellte Ashley Pond 1917 den Iren A.J. Connell ein, der zuvor Ranger im Santa Fe National Forest und Master der Santa Fe National Boy Scouts gewesen war.

Connell gab sich gern den Anschein eines harten Mannes.

›Selbstverständlich gibt es so etwas wie menschenfressende Haie nicht. Was aber die Krokodile betrifft, so verspeisen sie höchstens mal ab und an ein zartes Niggerbüblein, sagen wir so an die zwanzigtausend im Jahr.‹10

Sein Zimmer in der Ranch School glich dem Salon einer Madame in einem Bordell. Parfümwolken zogen zwischen Seidentapeten umher. Ständig brannten Räucherstäbchen, und aus dem Grammophon erklang der Bolero von Ravel.

Billy Burroughs kommt die Schule von Anfang an wie ein Gefängnis vor. Das einzige, was ihm dort gefällt, ist, dass es einen Schießplatz gibt. Er wird ein guter Schütze und verbringt Stunden damit, mit Wurfmessern auf Pfosten und Baumstämme zu zielen.

Im März 1930 kommt ihn die Mutter besuchen. Sie nimmt ihn und seinen Klassenkameraden, Rogers Scudder, mit nach Santa Fe, wo die Jungen allein umher spazieren. Billy geht in einen Drugstore und verlangt Chlorhydrat. Der Apotheker fragt, wozu er die Chemikalie brauche. Billy antwortet mit Grabesstimme: Um Selbstmord zu begehen. Der Apotheker nimmt an, der Junge mache einen Witz. Er händigt ihm ein Fläschchen Chlorhydrat aus. Einige Tage später nimmt Billy eine Dosis ein, die zu seinem Tod hätte führen können. Dem Schulpersonal fällt auf, dass er plötzlich taumelt. Man pumpt ihm den Magen aus. Er wird gerettet.

Als der Direktor erfährt, dass Scudder von dem Kauf des Giftes gewusst hat, bestellt er ihn zu sich und schimpft ihn aus:

›Verdammt, du hattest kein Recht, uns davon nichts zu sagen... du hättest wissen müssen, dass er etwas Verrücktes vorhat. Alles kommt nur daher, dass dem Jungen von seiner Mutter eingeredet wird, er sei ein Genie. Dabei ist er auch nur ein Menschenaffe.‹

In einem Brief an Billys Vater drückt Connell die Überzeugung aus, Billy werde dergleichen nie wieder tun.

Der Erzfeind des Jungen unter den Lehrern ist ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg namens Henry Bosworth, der Mathematik und Boxen unterrichtet.

Billy mag nicht boxen. Bosworth hält ihn für einen Drückeberger.

Billy liest in seinem Zimmer die spielkartengroßen Ausgaben der Blue Books, eine Reihe, in der französische Freigeister wie Anatole France und Guy de Maupassant erscheinen.

Die Bücher werden konfisziert. Lesen gilt in Los Alamos als dekadent und weibisch.

Auf einem Radausflug fahren die Jungen unvermutet in ein Wespennest. Billy wird viermal gestochen. Obwohl Bosworth einen Erste-Hilfe-Kasten bei sich hat, denkt er nicht daran, ihn zu verarzten.

Billys Rache besteht darin, dass er eine einen Pariser Boy-Scout darstellende, lebensgroße Puppe, die gewöhnlich am Eingang des Schulgebäudes steht, im Speisesaal über dem Kamin aufhängt... mit einem Schild um den Hals: Bozzy-bitch. Gott verdamme ihn.11

Natürlich sickert durch, wer der Übeltäter ist. Ein dritter Zwischenfall ereignet sich in Santa Fe. Ab und zu verbringen dort Gruppen von Schülern mit einem Lehrer ein Wochenende im berühmten La Fonda Hotel.

An einem Samstagabend verlässt Bill heimlich sein Zimmer. Er schleicht sich in die Stadt, um Schnaps zu besorgen.

Er trifft auf der Straße auf eine Mexikanerin, die behauptet, ihm Alkohol verkaufen zu können.

Die Frau und der Junge erregen die Aufmerksamkeit eines Polizisten, der sie anhält und kontrolliert. Der Ordnungshüter will Burroughs’ Ausweis sehen. Den hat Billy nicht bei sich, also wird er wegen Landstreicherei festgenommen und verbringt die Nacht auf der Polizeiwache, während der die Gruppe der Schüler begleitende Lehrer in Santa Fe überall nach ihm sucht.

Erst am Morgen gelingt es Billy, der Polizei klarzumachen, dass er ein Schüler aus Los Alamos ist.

Billy verliebt sich in einen seiner Mitschüler, Danny Franklin. Ein paarmal treiben sie es unter den Laken beim Licht einer Taschenlampe miteinander. Dann findet Danny keinen Spaß mehr daran, oder sein Gewissen regt sich. Jedenfalls will er plötzlich nicht mehr mitspielen. Was Billy weit mehr kränkt: Danny spricht nicht mehr mit ihm... verspottet ihn sogar vor den anderen Jungen.

Dem Direktor bleibt nicht verborgen, dass etwas mit seinem Schüler nicht in Ordnung ist. Um was es sich genau handelt, darüber tappt er angeblich völlig im dunkeln, will es vielleicht auch gar nicht wissen.

Für Juni steht die Schlussprüfung an.

Am 9. April kommt Mrs. Burroughs aus St. Louis herüber.

Billy erklärt ihr, er könne unmöglich länger auf der Schule bleiben, wolle mit ihr heimkommen.

Nach langem Zögern gesteht er ihr den wahren Grund.

Sie ist entsetzt.

Homosexualität ist in den Augen der Gesellschaftsschicht, aus der sie stammt, ein Laster, das man nicht einmal beim Namen nennen darf. Überstürzt reisen Mutter und Sohn ab. Ein Fußleiden Billys dient als Vorwand.

Ein Nervenarzt, an den sich die Mutter in St. Louis wendet, verweist auf die alten Griechen, bei denen das angebliche Laster weit verbreitet war, und versichert Laura, ihr Sohn befinde sich in einer Übergangsphase; die Sache werde sich mit der Zeit auswachsen.

Als Billy seine Sachen aus der Schule nachgeschickt werden, findet er darunter seine Tagebücher. Er liest nach, was er geschrieben hat, und ist entsetzt und beschämt bei der Vorstellung, seine Klassenkameraden könnten es gelesen haben. Er verbrennt die Hefte. Ekel gegenüber allem Geschriebenen überkommt ihn. Es wird neun Jahre dauern, bis er sich dazu durchringt, wieder etwas zu schreiben.

Für Burroughs wird die Tatsache, dass er an jenem Ort zur Schule gegangen ist, an dem später die furchtbarste aller Massenvernichtungswaffen entwickelt wird, seit deren Einsatz in Nagasaki und Hiroshima von metaphorischer Bedeutung sein. Für ihn ist die Entwicklung der Atombombe eine Art moderner faustischer Pakt, in dem Amerika seine Seele an das (teuflische) Prinzip der Macht verkauft und seine Unschuld verloren hat.

Das Amerika der Ära vor der Bombe wird in seinem Bewusstsein nostalgisch verklärt. Vor der Bombe war sein Amerika ein sicherer und beschützter Ort, ein Land, das seine eigenen Wege ging, seine eigenen Träume verfolgte. Wozu Amerika danach wurde, davon ist in seinen Schriften und in seinen Äußerungen immer wieder die Rede. In einem Restaurant in New York wird er einmal gefragt, was er bestellen wolle. Seine Antwort: ›Einen Barsch aus dem Lake Huron, gefangen im Jahr 1920.‹12

Ein Jahr auf einer Tutoring-Schule gibt Billy trotz der nicht abgeschlossenen High-School die Möglichkeit, sich im September 1932 in Harvard zu immatrikulieren.

Im November dieses Jahres wird Franklin Delano Roosevelt zum ersten Malzum Präsidenten der USA gewählt. Sein vielleicht aussichtsreichster Rivale, der Populist Huey Long aus Louisiana, ist kurz zuvor einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Mit Roosevelts Amtszeit und seinem New-Deal-Programm enden für die USA die Jahre der Depression. Es geht langsam wieder aufwärts.