On the Road

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Am Morgen klingelt es, draußen hat sich ein Mann aufgebaut ... in einem Anzug, wie ihn Manager aus den höheren Etagen tragen. Neal steht da - nackt. Er fragte mürrisch-skeptisch: ›Was wollen Sie denn hier?‹ Der Mann hebt einen Schlüsselbund: ›Tut mir leid. Die Wohnung gehört leider mir.‹

Auch eine Art, sich kennenzulernen. Der Mann in dem dunklen Anzug ist ein Hochschullehrer, zur Aufbesserung seiner Bezüge auch als Wohnungsmakler tätig.

Für diesen Justin B. Mannerly ist Neal Cassady ein exotischer Schmetterling, den er sich gern mal unter dem Vergrößerungsglas betrachten möchte, denn diese Spezies steht in keinem Bestimmungsbuch. Was ihn neugierig werden lässt ist eine merkwürdige Eigenart dieser Spezies: der Junge hat einen Bildungseifer, wie ihn Mannerly sich für manchen seiner Studenten wünschen würde. Und Neal merkt sich den Namen eines ehemaligen Schülers Mannerlys, der in New York an der Columbia University studiert. Der Name lautet Hal Chase. Bald ist der seltene Schmetterling wieder davon geflattert. In eine Reformschule, auf eine Straffarm. Das übliche Delikt: Autodiebstahl. Anfang 1945 kommt Neal wieder auf freien Fuß. Er betritt mit dem Mädchen, das ihn zu dieser Zeit aushält, Walgreen’s Drugstore in Denver. Er sieht eine süße, etwas töricht dreinblickende Blondine. Das Honigtopflächeln. Er sagt zu seiner Begleiterin: ›Dieses Mädchen werde ich heiraten.‹ Das Mädchen heißt LuAnne und ist fünfzehn, er ist jetzt neunzehn. Fünf Monate später sind sie tatsächlich verheiratet. LuAnne entzieht sich durch die Eheschließung den Nachstellungen ihres Stiefvaters. LuAnne und Neal laufen aus Denver davon. Sie trampen nach Nebraska, wo LuAnne eine Anstellung als Dienstmädchen bei einem blinden Rechtsanwalt findet und Neal einen Job als Tellerwäscher annimmt. Sie leben in einem winzigen Zimmer, für das sie im Monat zwölf Dollar Miete zahlen. In der Nacht findet Neal häufig keinen Schlaf. Dann zitiert er Shakespeare oder liest seiner jungen Frau Proust vor.

›Und nun, Schatz, möchte ich, dass du mir so genau wie möglich die Wirkung dieser Sätze auf deinen Gefühlszustand beschreibst...!‹

Schließlich siedelt das Paar nach Sidney in Nebraska über, wo LuAnne für eine Tante arbeitet, aber sich bald von der alten Frau ausgenützt fühlt.

Mitte 1946 beschließt Neal, er habe nun vom Mittelwesten entschieden genug gesehen. LuAnne stiehlt ihrer Tante hundert Dollar. Neal schließt den Wagen des Onkels kurz.

Sie nehmen sich vor, auf der Ranch eines Freundes in Sterling, Colorado, Station zu machen. Aber dann erfasst Neal der Reiserausch. Sie fahren durch ein Unwetter. Er bindet sich ein Taschentuch über die Augen, um sich so gegen die sichtbehindernden Hagelschauer zu schützen, lehnt sich aus dem Seitenfenster. Nach einer Weile wendet er sich kurz um und schreit LuAnne zu: ›Ich seh jetzt klar. Wir fahren durch bis nach New York, Schatz! Hab die Adressen von Hal Chase und Ed White. Und, verstehst du: Sie werden uns mit so herrlich poetischen Menschen wie diesem Allen Ginsberg und Jack Kerouac bekannt machen. Yiiippee!‹

2

Die langen Schatten des Wahnsinns

(1926-1944) Allen Ginsberg

... City of horrors,

New York much like hell.

Allen Ginsberg1

... geboren am 3. Juni 1926 im Beth Israel Hospital in Newark im Staate New Jersey. Der Vater, Louis Ginsberg, ist Sohn jüdischer Einwanderer aus Lwow (Lemberg) in Galizien, die 1880 nach Newark kamen, wo sie Verwandte hatten. In Amerika angekommen, kauft sich Aliens Großvater Pferd und Wagen und beginnt eine Wäscherei zu betreiben; Er heiratet Rebecca Schechtman, deren Eltern 1870 aus der Ukraine in die Vereinigten Staaten eingewandert sind.

Während Louis von klein auf Sozialist ist - als Kind hat ihn sein Vater zu den Vorträgen von Eugene Victor Debs, dem Gründer der IWW (Industrial Workers of the World) mitgenommen -, ist seine Frau Naomi Kommunistin. Naomi stammt ebenfalls aus einer jüdischen Familie. Ihr Vater Mendel Livergang - sein Name wird bei seiner Einreise in die USA in Morris Levy abgeändert - hat sich in Russland der Einberufung zum Militär dadurch entzogen, dass er aus seinem Heimatdorf in die Großstadt Witebsk übersiedelt ist, in der damals die Juden ein Drittel der gesamten Bevölkerung ausmachten. Während die Juden im Süden eher einem sozialistisch getönten Zionismus zuneigten, wurde die Judenschaft von Witebsk durch Einflüsse aus dem Deutschen Kaiserreich marxistisch. 1905 war es in der Stadt, in der als junger Mann auch der Maler Marc Chagall gelebt hat, zu einem Pogrom gekommen. Mendel hatte sich daraufhin entschlossen, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern. Dort ließ, er sich in der Orchard Street, in einem alten jüdischen Viertel von Manhattan, nieder und eröffnete einen Laden, in dem man Eiscreme und süßes Gebäck kaufen konnte. Später zog die Familie Naomis aus den Slums der Lower Eastside nach Newark. Noch auf der High-School mit siebzehn begegnete Naomi ihrem späteren Mann, der wie sie selbst auch Lehrer werden wollte.

Von Anfang an gibt es zwischen Louis’ Familie und Naomi Konflikte, bei denen die unterschiedlichen politischen Ansichten zumindest das auslösende Moment sind. Naomi ist inzwischen in die Kommunistische Partei eingetreten. Die Sozialisten befürworten einen Kriegseintritt der USA, die Kommunisten sind dagegen.

1918 stirbt Naomis Mutter Judith, als Opfer der Grippeepidemie, die damals von Europa nach Amerika übergreift. Naomi erleidet einen Nervenzusammenbruch. Sie ist überempfindlich gegen Licht und muss drei Wochen in einem abgedunkelten Raum liegen, ehe sie ihre Tätigkeit an einer Schule für geistig behinderte Kinder wieder aufnehmen kann.

Louis und Naomi beschließen, trotz Widerstands der Eltern des Bräutigams zu heiraten. 1919, nach ihrer Eheschließung, ziehen sie nach Newark. Das junge Paar gibt sich betont fortschrittlich. Louis schreibt Gedichte, und es gelingt ihm, seine ersten Verse zu veröffentlichen. Zusammen mit seiner Frau tritt er der Poetry Society of America bei.

1921 wird ein Sohn geboren, der den Namen Eugene erhält, 1926 ein zweiter, Allen. Der Vorname ist von dem seines Urgroßvaters abgeleitet, der S’rul Avrum hieß.

1929 muss sich Naomi einer Operation an der Bauchspeicheldrüse unterziehen. Abermals hat sie einen Nervenzusammenbruch und kommt vorübergehend in ein Sanatorium. Louis übersiedelt zunächst ohne seine Frau nach Paterson in New Jersey, wo er eine Stellung als Englischlehrer annimmt. Die Ginsbergs wohnen in einem heruntergekommenen jüdischen Viertel. Vor dem Haus kreuzt eine Eisenbahnlinie die Straße, auf der anderen Seite des Schienenstrangs steht das Backsteingebäude einer Seidenfabrik.

Allen, der auf der Straße im Sand Murmeln spielt, fürchtet sich vor Geistern. Als er in die Schule kommt, ist die Mutter immer noch im Sanatorium. Am ersten Schultag macht das Kind ein solches Geschrei, dass man den Vater rufen muss, der es mit heimnimmt. Es ist nicht leicht für Louis, neben seiner Tätigkeit als Lehrer auch noch für die beiden kleinen Jungen zu sorgen.

Den Sommer verbringen Eugene und Allen mit Naomi in einem Ferienlager der Kommunistischen Partei bei Monroe Lake im Staat New York, einem paradiesischen Ort für Stadtkinder, die hier draußen nackt in den Wiesen herumtollen und in den Bächen Fische fangen.

Louis, der seine Frau und die Kinder jeweils am Wochenende besuchen kommt, ist unangenehm berührt von den Propagandamalereien im Speisesaal, auf denen die Kapitalisten mit bluttropfenden Händen dargestellt werden. Weil es aber Naomi und den Kindern in der ländlichen Umgebung so gut gefällt, erhebt Louis keine Einwände, als seine Frau auch im zweiten Jahr mit ihren beiden Söhnen in dieses Lager fährt.

Nach Ende der Ferien stürzt sich Naomi mit einem Eifer, der nichts Gutes vermuten lässt, in die Parteiarbeit und wird vorübergehend sogar Sekretärin des Ortsvereins. Louis muss deswegen um seine Anstellung als Lehrer fürchten; Zu Parteiversammlungen nimmt Naomi häufig ihre beiden Söhne mit.

Das erste Lied, das Allen lernt, ist das Kampflied der amerikanischen Kommunisten The Red Flag. Er selbst hat die Atmosphäre dieser Zeit in einem Gedicht mit dem Titel ›Amerika‹ so beschrieben: ›... als ich sieben war nahm mich meine Mama mit zu den Versammlungen der Kommunistischen Zelle sie verkauften uns Garbanzos, für jedes Ticket bekam man eine Handvoll, der Eintritt kostete fünf Cents und die Reden gabs umsonst. Alle waren engelhaft und hatten ein Herz für die Arbeiter. Es war alles war so aufrichtig. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine gute Sache die Partei 1935 war. Scott Nearing war ein großer alter Mann ein richtiger Mensch. Mother Bloor rührte mich zu Tränen einmal sah ich den Israel Amter ganz aus der Nähe. Das müssen wohl alles Spione gewesen sein.‹2

1934 ziehen die Ginsbergs wieder einmal um. In der Haledon Avenue mieten sie nun ein ganzes Haus. Die beiden Brüder schlafen in einem Bett. Wenn Allen sich bei Gene ankuscheln will, gefällt das dem Bruder nicht.

In der Nacht wacht Allen manchmal plötzlich von Straßengeräuschen auf und versucht, sich die riesigen Entfernungen von der Erde zu den Sternen vorzustellen.

Er hat Tagträume, ist in Earl, den blondhaarigen Anführer einer Jungenbande, verliebt, steht manchmal vor dessen Haus. Er denkt sich aus, wie herrlich es wäre, eine Zauberformel zu kennen. Er wünscht sich Dollars, ein weißes Pferd, ein Schloss mit einem Kerker: ›Ich inspiziere meine nackten Opfer/gefesselt und verkehrt herum aufgehängt/meine Fingerspitzen fordern Zustimmung an ihren Hüften/während ich ihre unbehaarten Wangen küssen kann, soviel ich will... ich gehe mit meinen starken Wächtern vorbei, gebeugt/den Hintern herausgestreckt, damit sie mir zustimmend draufklatschen.‹3 Häufig hat er solche Unterwerfungsphantasien.

 

In der Familie gibt es jetzt immer öfter Streit. Die Schwiegereltern machen Naomi dafür verantwortlich, dass ihr Sohn Schulden hat. Naomis Misstrauen gegen ihre Schwiegermutter wächst.

Naomi läuft daheim nackt durch die Wohnung. Louis ist nicht prüde, aber dieses Bedürfnis bei ihr wird immer mehr zu einem neurotischen Exhibitionismus, der auch die Kinder verschreckt.

Immer deutlicher zeichnen sich bei ihr Symptome einer paranoiden Schizophrenie ab. Sie hört Stimmen, macht überspannte Bemerkungen, reagiert übertrieben misstrauisch.

Bald muss sie wieder in eine Anstalt. Louis’ Geldmittel sind erschöpft, deswegen kommt diesmal ein Privatsanatorium nicht in Frage. Louis lässt sie in das Staatliche Krankenhaus Greystone in New Jersey einweisen.

Greystone ist ein riesiger Bau, eine Kaserne, anonym, unheimlich. Die dort bei Geisteskrankheiten angewandte Therapie besteht in der Verabreichung von Insulin und in Elektroschocks. Vierzigmal wird Naomi Stromstößen ausgesetzt, die ihre Phantasien dämpfen, aber sie gleichzeitig zutiefst verängstigen.

Im Vertrauen auf die Sachkenntnis der Ärzte lässt Louis die Behandlung seiner Frau mit Elektroschocks weiter zu. Erst 1936 kehrt Naomi wieder zu der Familie heim.

Allen trägt jetzt eine Brille mit dicken Gläsern und eine Zahnspange. Ein hässlicher Junge - weich, schwammig, unbeholfen. Sein Lieblingsschriftsteller ist Edgar Allan Poe, sein Lieblingsbuch Dr. Doolittle. Als sein Motto gibt das Jahrgangsbuch der Schule an: ›Tu, was du willst, wenn du es willst.‹4 Sein Freund Morton vertraut ihm an, wenn er in der Schule Mädchen sähe, würde er sich am liebsten auf sie stürzen. Ob auch Allen solche Wünsche überkämen? Nein, solche Empfindungen sind Allen fremd.

Im Haus von Mortons Eltern gehen vier Jungen ins Badezimmer. Allen ist auch mit dabei. Morton setzt sich auf die Toilette, einer der Jungen kniet sich vor ihn hin und küsst Mortons Penis.

1937, Allen ist jetzt elf, verdüstert sich die Atmosphäre daheim immer mehr. Naomi hat erneut einen Schub. Sie beschuldigt ihre Schwiegermutter, ihr ständig nachzuspionieren; das Geld für ihren Aufenthalt in der Anstalt habe Louis in Wahrheit seiner Mutter gegeben.

Wenn Louis auf solche Anschuldigungen nicht reagiert, macht Naomi dunkle Anspielungen auf eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann in den ersten Jahren ihrer Ehe. Häufig schwänzt Allen die Schule, um daheim auf seine Mutter aufzupassen.

Eines Nachts schließt Naomi sich im Badezimmer ein und weigert sich herauszukommen. Louis Ginsberg muss die Tür aufbrechen. Drinnen steht seine Frau, starr und mit entgeistertem Blick. Das Blut rinnt ihr von beiden Handgelenken. Die Kinder warten im Nachthemd zitternd im Flur. Schließlich ruft der Jüngere: ›Mama verliert ihr Blut. Mama muss sterben.‹ Louis schließt die Tür. Seine Geduld mit der Kranken ist bewunderungswürdig.

Die erstaunliche Toleranz gegenüber Wahnsinn und Abweichungen von der Norm, die Allen Ginsberg zeit seines Lebens an den Tag legen wird - hier dürfte sie ihre Wurzeln haben.

Im Herbst 1939: Die Deutschen fallen in Polen ein. Naomi ist über drei Jahre in Greystone interniert gewesen. Noch einmal holt Louis sie heim. Sie ist desorientiert, verkriecht sich ins Schlafzimmer. Allen geht zu ihr. Ein Augenblick, der die ganze Misere verrät: ›Sie ging ins Schlafzimmer, um sich aufs Bett zu legen, zu grübeln, zu schlafen, sich zu verstecken - Ich leg mich zu ihr, um sie nicht allein zu lassen - leg mich auf das Bett neben sie - die Jalousien sind heruntergelassen, dämmrig, später Nachmittag - Louis im Vorderzimmer am Schreibtisch, wartet - vielleicht drauf, dass das Hühnchen zum Abendessen kocht.

»Hab keine Angst vor mir, weil ich aus der Irrenanstalt zurückkomme - ich bin deine Mutter -«

Arme Liebe, verloren - eine Furcht - ich liege da. Hab gesagt: »Ich lieb dich, Naomi« - steif, neben ihrem Arm. Ich hätte weinen können.‹5

Die politischen Streitigkeiten zwischen den Eltern leben wieder auf.

Naomi verteidigt den Überfall der Sowjetunion auf Finnland. Louis kann auch nicht immer den Mund halten.

Allen geht inzwischen auf die High-School, bekommt gute Noten in Englisch, arbeitet an der Schülerzeitung mit. Er debattiert über Hitler, denkt auf dem Heimweg von einer Theatervorstellung, von den merkwürdigen Mustern der Hecken und geheimnisvollen Schatten befremdet, über die Ausdehnung des Universums nach... vielleicht, dass das Ende Mauern aus Gummi sind. Aber wie kann das das Ende sein? Jenseits der Gummiwand ist doch wohl auch noch etwas?

Sich selbst sieht er so: ›Starke Brille und ein dünnes Gesicht mit vorstehenden Zähnen, geht zum Zahnarzt, um sie richten zu lassen. Eine Art mentaler Ghoul, völlig losgelöst vom Kontakt mit der Wirklichkeit, existierte er in einer Welt der Zeitungen und der Ästhetik: Beethoven, Leadbelly, Ma Rainey und Bessie Smith.‹6 Er schreibt Gedichte, getraut sich sogar, sie in der Klasse vorzulesen. Seine Englischlehrerin macht ihn mit der Lyrik Walt Whitmans bekannt. Der langschwingende Rhythmus in den Zeilen dieser Verse, die Aufforderung zum Ungehorsam, die Rebellion gegen von den Mächtigen geforderte Anpassung, die hymnische Begeisterung über die Magie der Wirklichkeit rühren ihn an. So denkt, so atmet auch er. Whitman definiert seine politischen Ideale.

Im Winter 1941 wird Naomis Zustand wieder bedenklich. Gibt es Suppe zu den Mahlzeiten, behauptet sie, ihre Schwiegermutter habe Gift hineingeschüttet. Es überkommen sie rätselhafte Anfälle, ein Versagen verschiedenster Körperfunktionen... Bilder, die sich Allen unvergesslich einprägen.

›Eines Nachts, plötzlicher Anfall - ihre Geräusche im Badezimmer - wie ein Krächzen ihrer Seele - Auswurf und rote Kotze kommt ihr aus dem Mund - wässriger Durchfall explodiert aus ihrem Hintern - auf allen vieren vor der Toilette - Urin läuft zwischen ihren Beinen davon...‹7

Wenn Allen von der Schule wegbleibt, um bei ihr zu wachen, erzählt sie ihm ihre Angstphantasien: Allein Buba, der Schwiegermutter, ist es zuzuschreiben, dass man ihr in Greystone vierzig Elektroschocks verabreicht hat.

In der Zimmerdecke sind Drähte eingebaut. Jedes Wort, das sie ausspricht, wird von Präsident Roosevelt persönlich abgehört. Allen holt einen Besenstiel und klopft damit die Zimmerdecke ab, um seiner Mutter zu beweisen, dass da nichts ist. Doch, beharrte sie. Sie hört sie doch reden. Sie geben ihr Namen, heißen sie eine Hure, befehlen dem Agenten, sie zu töten.

Dann springt sie auf und rennt zum Fenster. Die Stimmen haben ihr gesagt, dass der Agent unten auf der Straße steht.

Allen tritt hinter ihr ans Fenster. Es ist ihr zuzutrauen, dass sie sich hinabstürzt.. An einer Bushaltestelle warten ein paar Leute. Der eine Mann sieht aus wie ein Bankangestellter, er trägt einen eleganten Hut. Das ist er, ruft Naomi. Sie öffnet das Fenster, schreit: Fort mit dir, du Mistkerl.

Dann plötzlich erklärt sie, sie sei so müde, brauche Ruhe, müsse sich erholen.

Allen muss den Hausarzt anrufen, den sie anfleht, sie in eine Klinik in Lakewood einzuliefem. Erstaunlicherweise stimmt der Arzt ihrem Ansinnen zu.

Naomi packt einen Koffer, weigert sich, den Lift zu benutzen, weil sie fürchtet, der Fahrstuhlführer könne ihr Weggehen den Spitzeln melden.

Auf der Straße hält sie sich den hochgestellten Kragen ihres Mantels vor den Mund, um sich so gegen die von ihrer Schwiegermutter ausgestreuten Bazillen zu schützen.

Naomi und der fünfzehnjährige Allen sprechen in mehreren Sanatorien vor. Sie werden aber überall abgewiesen.

Endlich gelingt es Allen, die Aufnahme der Mutter durchzusetzen. Man führt sie in ein Zimmer unter dem Dach. Allen raunt der Mutter zu, sie solle sich still verhalten. Hier sei sie in Sicherheit. Er werde jetzt heimfahren, um Louis zu verständigen.

Nein, ruft sie, Louis dürfe nichts erfahren. Er werde sonst sofort Spione ausschicken, um sie überwachen zu lassen. Er werde sie vergiften. Der einzige Grund, warum er sie überhaupt am Leben gelassen habe, sei der, dass er sie früher geliebt habe. Ginge es nach seiner Mutter, sei sie schon längst tot.

Als Allen sie einigermaßen beruhigt hat, tritt er die lange Rückfahrt nach Paterson an.

Daheim wartete der Vater schon verängstigt. Um zwei Uhr nachts kommt ein Telefonanruf. Naomi ist barfuß hinunter in die Empfangshalle gekommen, hat an Türen geklopft und alte Frauen in ihren Zimmern erschreckt. Dann hat sie sich verbarrikadiert. Sie hat Mussolini, Hitler und ihre Schwiegermutter verwünscht.

Die bestürzten Pfleger verlangen von Louis, dass er seine Frau sofort abholen kommt.

Um halb sieben Uhr morgens macht er sich von Paterson mit dem Bus über Newark auf den Weg.

Auf dem Weg von der Anstalt zur Busstation hat er alle Mühe, ihrer Herr zu werden. Sie stürzt in eine Apotheke und verlangt dort eine Bluttransfusion. Louis kann sie endlich beruhigen und zur Bushaltestelle führen. Aber als der Bus ankommt, weigert sich der Fahrer, die offensichtlich gemeingefährliche Frau einsteigen zu lassen. Louis telefoniert mit Greystone und setzt durch, dass man seine Frau dort aufnimmt. In der Staatlichen Nervenheilanstalt bleibt sie während der nächsten zwei Jahre.

Allen wird sechzehn. Er beobachtet Sterne. Er polemisiert gegen die Anhänger der Isolationspolitik. Er hört Musik: Gershwin und Aaron Copland. Sein Bruder Eugene, der von der Lehrerausbildung zum Jurastudium gewechselt hat, wird zur Armee einberufen. Allen betätigt sich bei der Zivilverteidigung. Er arbeitet als Laufbursche in der Öffentlichen Bibliothek und verdient dreizehn Cent in der Stunde. Einmal schleicht er sich heimlich in das Büro der Bibliothekarin, entnimmt aus dem Giftschrank den Krafft-Ebing und schlägt darin das Stichwort ›Homosexualität‹ nach.

Er will herausfinden, ob er schwul ist. Wenn er sich verliebt, sind es immer Jungen. Einer, für den er besonders schwärmt, heißt Paul Roth. Er ist ein halbes Jahr älter als Allen und geht mit einem Stipendium an die Columbia University in New York.

Allen will seinem Idol dorthin folgen und bewirbt sich ebenfalls an dieser Universität. Er bekommt ein Stipendium.

An dem Tag, an dem er mit der Fähre von Hoboken nach Manhattan übersetzt, legt er vor sich selbst den Schwur ab, sein Leben dem Dienst an der Arbeiterklasse zu widmen.

Er besteht die Aufnahmeprüfung. Aber dem Jungen, in den er verliebt ist, begegnet er an der Universität selten. Er hört Jura. Er ist entschlossen, Anwalt für Arbeitsrecht zu werden.

In Columbia sind die Kriegsmarinekadetten eingezogen. Die zivilen Studenten hat man ausgelagert.

Allen wird in einem großen Apartmenthaus des Union-Theological-Seminars, einen halben Block vom Campus entfernt, untergebracht.

Einige Tage vor Weihnachten 1943 hört er aus einer der Studentenbuden auf seinem Flur ein Musikstück, das ihn interessiert. Er klopft. Es öffnet ihm ein engelsgesichtiger junger Mann mit blondem Haar und hohlen Wangen. Man könnte meinen, er trinke nichts anderes als Wind und statt Fleisch esse er einen Haufen Schatten, geht es Allen durch den Kopf.

›Was spielst du denn da?‹ fragt er.

›Gefällt es dir?‹

›Ich würde sagen, es ist das Klarinettenquintett von Brahms.‹

›Richtig. dass es jemanden gibt, der so etwas zu schätzen weiß‹, wundert sich der andere und bittet ihn zu sich herein. Der Kommilitone stellt sich vor. Luden Carr. In den Bücherregalen sieht Allen französische Bücher. Flaubert, Rimbaud. Carr stellt zwei Gläser auf den Tisch und schenkt Rotwein ein. Die beiden werden Freunde. Sie treffen sich immer öfter zu langen Gesprächen. Carr stammt aus einer wohlhabenden Familie aus St. Louis, wo sein Großvater mütterlicherseits mit Jute und Hanffasern handelte. Als Lucien noch ein Kind war, hatte der Vater die Familie verlassen.

Lucien ist zwei Jahre älter als Allen. Er hat eine Schule für verhaltensgestörte Kinder besucht, hat später an der renommierten Universität von Chicago sein Studium begonnen und ist im Herbst nach Columbia gekommen.

Für Allen wird Rimbaud, mit dessen Gedichten ihn Carr bekannt macht, zur großen Entdeckung, zum Tor in die europäische Moderne. Bei ihm stößt er auf Sätze, auf die sich später die Literaten der Beat Generation berufen werden. Sein Tagebuch verzeichnet, was ihm nun als Aufgabe und Eigenart des Dichters erscheint:

 

›Der Dichter wird ein Seher durch ein langes dérangement aller Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns hat er durchlaufen. Er sucht sich selbst, gibt sich allen Giften in sich hin, behält aber nur die Quintessenz. Unbeschreibliche Qual, zu der er all seinen Glauben braucht, all seine übermenschliche Kraft, da er unter den Menschen zum großen Patienten wird, zum großen Kriminellen, zum großen Verfluchten - und zum überragenden Gelehrten. Denn wonach es ihn verlangt, ist das Unbekannte.‹8

Es wird zugleich sein Lebensprogramm für die nächsten Jahre. Noch zögert Allen, ob er sich auf ein solches Boheme-Leben, wie es Lucien predigt, einlassen soll. Hat er sich nicht vorgenommen, ein Anwalt und Verteidiger des Proletariats zu werden?

Langsam verflüchtigen sich Allens idealistische Träume. Er sieht, dass sich die Literatur der europäischen Moderne mit Themen beschäftigt, die auch ihn persönlich beunruhigen: Wahnsinn, Außenseitertum, das, was der Spießer abartig zu nennen pflegt.

Ja doch, auch er ist ein Abartiger, ein Außenseiter. Er will es nur immer noch nicht wahrhaben.

Daheim hat sich auch einiges geändert. Nachdem beide Söhne aus dem Haus sind, nachdem Louis zweiundzwanzig Jahre an der Seite von Naomi vor allem aus Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl ausgehalten hat, sie seine Liebe längst nicht mehr erwidert, ihn ständig mit Anschuldigungen und Verdächtigungen überhäuft, ist er am Ende seiner psychischen Kraft. Mehrmals hat Naomi nach solchen Anfällen von Misstrauen die gemeinsame Wohnung verlassen. Jetzt zieht sie endgültig aus, kriecht bei ihrer Schwester Eleanor in der Bronx unter. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Adressenschreiben. Auf Außenstehende wirkt sie normal, voller Selbstvertrauen, geradezu fröhlich. Aber immer wieder hat sie Anfälle, bei denen sie dann Stimmen hört und die alten Ängste sie wieder überwältigen. Sie wird schließlich die Geliebte eines Vertrauensarztes der Marinegewerkschaft, bei dem sie als Sprechstundenhilfe arbeitet.

Dass es irgendwann zwischen den Eltern zum Bruch kommen würde, war vorauszusehen gewesen. Insofern geht Allen die Trennung der Eltern jetzt auch nicht übermäßig nahe. Er besucht hin und wieder sowohl den Vater in Paterson als auch die Mutter bei ihrem neuen Freund. Mehr und mehr nehmen ihn die Gespräche und die Lebensart seiner neuen Bekannten an der Universität gefangen.

Mit Lucien Carr besucht er zum ersten Mal das New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village, dem damals noch ein Hauch Verworfenheit anhaftete.

Durch Lucien lernt Allen einen hochaufgeschossenen, rotbärtigen Mann kennen, der David Kammerer heißt: eine tragische Gestalt.

Kammerer hatte sich in Lucien Carr verliebt, als er diesen als Kind auf einem Spielplatz sah. Seither ist er ihm überallhin gefolgt. Hier in New York schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er ist zu jedem Opfer bereit, wenn er nur in Luciens Nähe sein kann. Das Verhältnis der beiden ist spannungsreich, weil es kaum ein Mädchen gibt, auf das der schöne Lucien mit seinen grünen Katzenaugen keinen Eindruck machen würde.

Bei Allen löst das Verhältnis der beiden Männer zwiespältige Empfindungen aus. Einerseits kommt es ihm geradezu wie eine Offenbarung vor, dass sich jemand ganz offen zu seiner von der Gesellschaft tabuisierten Neigung bekennt. Andererseits hat die Besessenheit Kammerers und die Distanzierung, mit der Carr darauf reagiert, für ihn etwas Erschreckendes. Angesichts dieses Verhältnisses wird ihm klar, in welche Enttäuschungen und Leiden seine Veranlagung auch ihn stürzen wird.

Als sie Kammerer aufsuchen, hat der einen Freund aus St. Louis zu Besuch: einen großen, dünnen Mann mit aschgrauer Haut, sandfarbenem Haar und zusammengekniffenen Lippen, die ab und zu nervös zucken. Allen, der zu diesem Zeitpunkt siebzehn ist, kommt der Besucher uralt vor. In Wirklichkeit ist der Gast, der gleich um die Ecke wohnt, damals dreißig Jahre.

Die Rede kommt auf eine Schlägerei zwischen Kammerer und einem betrunkenen Maler, bei der dessen Atelier völlig verwüstet worden ist. Lucien hat dabei dem Maler ein Stück vom Ohrläppchen abgebissen und darauf seine Zähne auch noch in Kammerers Schulter gegraben.

›Mit den Worten des unsterblichen Barden‹, zitiert der Gast, der sich als William Seward Burroughs vorgestellt hat, ›ein Gegenstand, zu ausgehungert für mein Schwert.‹9

Dass jemand offenbar für alle Gelegenheiten ein passendes Shakespearezitat aus dem Ärmel schütteln kann, beeindruckt Allen ungemein. So beginnt seine Freundschaft mit William Burroughs.