On the Road

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Burroughs hört in Harvard zunächst Literatur, Linguistik und Anthropologie.

Er belegt Vorlesungen über Chaucer und Shakespeare. Letzteres bei George Lyman Kittredge, einem amüsanten Mann, der, ohne den Doktorgrad zu haben, an der Universität lehrt.

Kittredge hat die Angewohnheit, vor seinen Studenten lange Passagen aus Shakespeares Stücken zu rezitieren, die sich Burroughs, der ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis besitzt, für immer einprägen. Er hört T. S. Eliot mit einer kritischen Vorlesung über die Romantiker. Im übrigen verläuft sein Studentenleben nach dem Motto: ›Sofern Harvard sich mir gegenüber anständig verhält, gedenke ich mich gegenüber Harvard ebenfalls anständig zu verhalten.‹13

Freilich geht das immer noch Hand in Hand mit ziemlich exzentrischen Vorlieben. So hält er sich beispielsweise, dazu angeregt durch eine Kurzgeschichte von Saki, in der ein zehnjähriger Junge ein solches Tier abrichtet, um seine ungeliebte Gouvernante zu beißen, in seiner Studentenbude ein Frettchen, über das die Putzfrau oder der Hausmeister erschrecken, wenn es plötzlich aus einer Ritze der Sofabezüge auftaucht.

Eine gefährlichere Situation beschwört Bills Vorliebe für Schusswaffen herauf. Obwohl es gegen die Hausordnung verstößt, bewahrt er in seinem Schreibtisch einen 32er Revolver auf. Eines Tages sind einige Freunde und Bekannte bei ihm. Die jungen Männer albern herum. Billy zieht seine Waffe; er ist völlig sicher, dass sie nicht geladen ist. Er legt auf einen seiner Freunde an, der macht eine Art Ausfallbewegung. Billy drückt ab, ein Schuss löst sich und schlägt in die Wand. Erst jetzt erinnert sich Burroughs, dass er die Waffe noch in St. Louis geladen hatte, als er meinte, in der Nacht im Haus einen Einbrecher herumschleichen zu hören.

Burroughs ist noch während seiner Studentenzeit von erstaunlicher sexueller Naivität. Er hat bis dahin weder mit einer Frau noch mit einem Mann sexuell verkehrt, abgesehen von den Spielereien mit dem von ihm bewunderten Mitschüler in Los Alamos. Er hat eine geradezu ammenmärchenhafte Vorstellung vom Geburtsvorgang: Bis ihn seine Freunde an der Universität aufklären, ist er fest davon überzeugt, Kinder kämen durch den Nabel der Mutter zur Welt.

Da er sich nicht getraut, Kontakte zu anderen Homosexuellen aufzunehmen, besucht er, als er während der Ferien nach St. Louis kommt, dort ein Bordell, dessen Kuppelmutter ihn an Salt Chunk Mary erinnert. Er lässt sich immer von dem gleichen Mädchen bedienen, muss gewöhnlich auf sie in einem kleinen Raum warten, um nicht auf der Treppe ehrbaren Bürgern der Stadt zu begegnen, die ebenfalls hier verkehren.

Zu Beginn des Semesters wieder in Harvard, wagt er nun endlich, eine sexuelle Beziehung einzugehen, die seinen tatsächlichen Neigungen entspricht, und bezahlt teuer dafür. Er holt sich die Syphilis, deren Symptome erst nach einer gewissen Zeit sichtbar werden.

Im Juni 1936 legt Burroughs in Harvard sein Abschlussexamen ab, dass er damit in die gesellschaftliche Elite des Landes aufgenommen ist, bedeutet ihm wenig.

Die Belohnung der Eltern für den graduierten Sohn besteht darin, ihm eine Reise nach Europa zu spendieren, die er zusammen mit einem Freund, Bob Miller, antritt. Sie fahren zunächst nach Paris, dann nach Wien. Sie erleben ein Österreich, in dem schon die Braunhemden marschieren. Sie bewundern die schönen jungen Männer, die sich in den Strandbädern an der Donau tummeln, und reisen dann nach Budapest weiter, wo sie in dem Hotel König von Ungarn landen, in einem Haus, in dem Frauen unerwünscht sind.

Von Wien fahren die Freunde nach Dubrovnik und machen dort die Bekanntschaft einer fünfunddreißigjährigen Frau, die burschikos-männlich auftritt, aber auch erfreulich unkonventionell ist. Sie heißt Ilse Hertzfeld, stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie und war mit einem Arzt namens Klapper verheiratet. Das Aufführungsverbot für die Musik Mendelssohns war für sie Warnzeichen genug gewesen, um 1934 aus Deutschland fortzugehen. In Dubrovnik hat sie sich von Dr. Klapper scheiden lassen, der hier ohne entsprechende Niederlassungserlaubnis weiter praktiziert. Ilse bringt sich mit Englischstunden und als Fremdenführerin durch. Die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern und ihr beruht auf gemeinsamen intellektuellen Interessen und ihrer aller Abneigung gegen gesellschaftliche Konventionen.

Bill hat sich plötzlich entschlossen, Medizin zu studieren. Für ein Studium in den USA fehlt ihm dazu der Schein des Vorkurses. In Wien bestehen derartige Auflagen nicht. Seine Eltern schicken ihm monatlich 200 Dollar. Damit kann er bei dem günstigen Wechselkurs der amerikanischen Währung in Europa ohne Schwierigkeiten auskommen. Zu schaffen macht ihm immer noch seine Syphilis, die er weiter behandeln lassen muss. Er besucht in Wien medizinische Vorlesungen. Sein schlechter Gesundheitszustand und das von faschistischen Gewaltakten verdüsterte gesellschaftliche Klima Österreichs deprimieren ihn. Mit lautstarken Demonstrationen und Bombenanschlägen versuchen die Nazis den Anschluss des Landes ans Reich vorzubereiten.

Im Frühjahr 1937 muss Burroughs sich einer Blinddarmoperation unterziehen. Um sich zu erholen, fährt er wieder nach Dubrovnik. Er sieht Ilse wieder. Sie ist in Panik. Ihr Visum für Jugoslawien läuft ab. Da sie Jüdin ist, wird es nicht erneuert werden. Die Kriegsgefahr in Europa wächst. Sie macht sich keine Illusionen darüber, was ihr blühen wird, wenn die Deutschen das Land besetzen.

Bill und Ilse einigen sich auf eine Scheinehe, die für beide Teile ihre Vorteile haben könnte. Ilse wird durch die Heirat amerikanische Staatsbürgerin, ihn wird die Tatsache, dass er verheiratet ist, vor möglichen Schwierigkeiten als Homosexueller schützen. Gewiss belustigt ihn auch die Vorstellung, auf diese Weise eine bürgerliche Institution wie die Ehe zu persiflieren. Seine Eltern sind bestürzt, als sie davon hören, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn eine Fünfunddreißigjährige heiraten will. Aber Bill beharrt auf der Heirat. Er reist mit Ilse nach Athen. Die bürgerliche Trauung vollzieht der amerikanische Konsul, kirchlich getraut werden sie von einem griechisch-orthodoxen Priester. Der erste Pope, bei dem sie vorsprechen, hatte sich geweigert. Der zweite, der ihnen dann schließlich doch noch den kirchlichen Segen gibt, ist mit zehn Dollar bestochen worden.

Noch liegen die nötigen Papiere für die Einreise der Ehefrau in die USA nicht vor. Ilse kehrt also vorerst nach Dubrovnik zurück, und Billy eilt heim, um seine Eltern zu beruhigen.

Den Plan eines Medizinstudiums in Wien hat er unterdessen aufgegeben. Wegen des zunehmenden Drucks der Nazis auf Österreich sieht er für sich Schwierigkeiten voraus, denen er sich nicht aussetzen will.

Er erfährt, dass sein Freund Keils, von seiner Frau geschieden, allein in einem kleinen Haus in Harvard lebt. Er beschließt, zu ihm zu ziehen und eine Universitätskarriere in Ethnologie anzustreben. Bald jedoch wird ihm klar, dass er dem akademischen Klüngel und den Intrigen an einer Universität nicht gewachsen ist.

Das offenbar glückliche Zusammenleben mit Keils bringt ihn wieder dazu zu schreiben. Die beiden verfassen eine groteske Geschichte über den Untergang der Titanic, einen Text, der in seiner Mischung von Slapstick, Surrealismus und schwarzem Humor Burroughs’ spätere Sichtweise der Welt als eines absurden Comic vorwegnimmt. Die beiden jungen Männer schicken den Text an Esquire. Die Redaktion lehnt ihn mit der Begründung ab: ›Zu verdreht, aber dann auch wiederum nicht wirksam genug für uns.‹14

Diesmal sollten sechs Jahre vergehen, ehe sich Burroughs abermals daranmacht, etwas zu schreiben.

Die nächsten Jahre in seinem Leben gleichen dem Zickzackkurs eines Schiffes, das von niemandem gesteuert wird.

Wir erleben einen Mann, der sich dem Entree ins bürgerliche Leben verweigert, aber auch nicht recht weiß, was er sonst mit sich anfangen soll.

So macht er Erfahrungen mal hier und mal dort, und wie unterschiedlich und ungewöhnlich, ja lächerlich sie im einzelnen auch sein mögen: sie geben ihm Selbstvertrauen und verhelfen ihm zu einer unkonventionellen Art von Lebensweisheit. Den American way of life wird er von nun an nur noch zynisch-sarkastisch sehen und kommentieren.

Burroughs entwickelt einen schwarzen Humor, der ihn zusammen mit seiner anarchistisch-kriminellen Energie und seiner formalen Experimentierfreudigkeit als Chronisten des außer Kontrolle geratenen Bösen, der Suchtverfallenheit und des Autoritären geradezu prädestiniert. Er beginnt zu dieser Zeit mit seinen observer notes, Aufzeichnungen über bestimmte soziale Milieus und die zugehörigen Menschen, ein Einfall, der ihm wahrscheinlich durch seine anthropologischen und völkerkundlichen Studien nahegelegt worden ist.

Er muss dafür sorgen, dass Ilse Klapper in die USA einreisen kann. Er wird von der Einwanderungsbehörde scharf befragt, ob die Ehe vielleicht nur eingegangen worden sei, um Ilse die Einreise zu ermöglichen. Mit todernstem Gesicht erklärt er, er liebe seine Frau und wolle mit ihr leben.

In Amerika im Frühjahr 1939 eingetroffen, wird Ilse die Sekretärin des aus Nazideutschland emigrierten Schriftstellers Ernst Toller, der in den zurückliegenden Monaten versucht hat, eine humanitäre Hilfsaktion für die zivilen Opfer des spanischen Bürgerkriegs ins Leben zu rufen. Da bricht nach einer erneuten nationalspanischen Offensive die spanische Republik endgültig zusammen. Bei seiner selbstgestellten Aufgabe gescheitert, von den Nazis verfolgt, von seiner jungen Frau verlassen und von der Vorstellung bedrängt, als Künstler in den Vereinigten Staaten in Vergessenheit zu geraten, begeht Toller Selbstmord.

 

Ilse findet ihn, als sie einmal verspätet vom Lunch ins Büro kommt, im Badezimmer. Er hat sich mit dem Gürtel seines Bademantels erhängt.

Die Erklärung, die Burroughs für das Ereignis gibt, von dem er durch Ilse erfährt, ist typisch für seine Sichtweise der Wirklichkeit. Er erzählt ihr, dass Ratten zweierlei nicht ertragen könnten, nämlich ins Wasser geworfen oder ihrer Schnauzhaare beraubt zu werden. Toller sei beides widerfahren.

Ilse findet eine neue Anstellung bei einem österreichischen Schauspieler. Seinem Biographen erzählt Burroughs später: ›Sie hat nie einen Cent von mir verlangt.‹

In die zweite Hälfte des Jahres 1939 fällt Burroughs’ intensive Beschäftigung mit den Lehren Alfred Korzybskis.

Korzybski bezeichnet einen der Fixpunkte europäisch-abendländischen Denkens, nämlich das Entweder/Oder der aristotelischen Philosophie, als grundsätzlichen Irrtum, weil so zwischen der Realität und der Sprache eine Kluft entstehe. Korzybski sagt die politische Herrschaft der Naturwissenschaften und die Manipulation menschlicher Physis und Psyche durch sie voraus - Gedanken, die sich fiktional verarbeitet in Burroughs’ Romanen wiederfinden.

Zu dieser Zeit verliebt sich Burroughs in New York in einen schönen, aber intellektuell anspruchslosen jungen Mann namens Jack Anderson, der als Laufbursche arbeitet und als Sexualpartner von Frauen und Männern dazuverdient.

Burroughs, nun endgültig von seiner Syphilis geheilt, entwickelt für das windige Bürschchen, das ihn schlecht behandelt, eine wilde Leidenschaft. Er trennt sich mit dem Sägeblatt einer Geflügelschere ein Glied vom kleinen Finger der linken Hand ab. Er will damit Anderson, der ihn ständig mit anderen Männern und Frauen betrügt, die Intensität seiner Gefühle beweisen.

Daraufhin kommt er wieder zur Vernunft. Er geht zu seinem Psychiater und fordert den Mann dazu auf, das Stück Finger wieder anzunähen. Burroughs findet sich schließlich in der städtischen Irrenanstalt wieder, in der ihn eine Psychiaterin als schizophren-paranoiden Fall diagnostiziert.

Sein Vater muss nach New York kommen. Er veranlasst beim Direktor die Überweisung seines Sohnes in eine Privatklinik. Die Eltern, offensichtlich daran gewöhnt, in den ungewöhnlichsten Situationen einspringen zu müssen, holen ihren Sohn nach St. Louis und beschäftigen ihn als Fahrer und Boten in ihrem Gartenbaubetrieb.

Der Zweite Weltkrieg ist ausgebrochen. Amerika mobilisiert seine Streitkräfte. Bei der Marine wird Bill abgewiesen, weil er kurzsichtig ist und Plattfüße hat.

Burroughs bewirbt sich bei der Luftwaffe und wird angenommen. Er absolviert trotz seiner Kurzsichtigkeit hundert Flugstunden in einer Piper und legt seine Flugprüfung ab. Erst dann kommt man ihm auf die Schliche und mustert ihn aus.

Dann versucht er es bei einer Spionageabteilung der Armee. Er hat Pech. Einer der Ausbilder dort ist sein ehemaliger Hausmeister aus Harvard, der auf ihn nicht gut zu sprechen ist.

Nachdem es mit dem Dienst fürs Vaterland nicht geklappt hat, bringt der Vater Bill schließlich bei einem Bekannten unter, der in New York eine Werbeagentur betreibt. Burroughs lebt nun mit Anderson zusammen. Von Zeit zu Zeit muss er die Beschimpfungen von dessen ehemaligen Freundinnen über sich ergehen lassen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass ein Mann sie verdrängt hat.

Am 7. Dezember 1941 treten die USA in den Krieg ein. Anderson wird eingezogen. Auch Burroughs erhält 1942 einen Gestellungsbefehl. Der Gedanke, eventuell an die Front geschickt zu werden, versetzt ihn in Panik. Seine Mutter kennt einen Arzt, der Bill für wehruntauglich erklärt und ein entsprechendes Attest ausstellt. Im September 1942 geht Burroughs nach Chicago und lebt dort in einem Viertel, dessen Taschendiebe, Spieler und Gescheiterte aus dem Lieblingsbuch seiner Kindheit You Can‘t Win entsprungen zu sein scheinen.

Er beteiligt sich an den in diesem Viertel üblichen Würfelspielen. Als er damit nicht genügend Geld verdient, lässt er sich als Kammerjäger anwerben. Die zehn Unterschriften von Kunden, die er pro Tag in der Firma nachweisen muss, um in der Woche 50 Dollar ausgezahlt zu bekommen, beschafft er sich, indem er manchmal auch Leute unterschreiben lässt, bei denen er nicht tätig geworden ist. Er behält diesen Job acht Monate. Seine Spezialität ist die Vertilgung von Wanzen in Bettzeug. Er sieht in unzählige Wohnungen, lernt die merkwürdigsten Leute kennen und denkt an Tschechow, der einmal gesagt haben soll, er sei nur deswegen Arzt geworden, weil ihm die Hausbesuche Einblick in die verschiedensten Gruppen der Gesellschaft verschafften.

Im Herbst dieses Jahres tauchen zwei Freunde aus St. Louis bei ihm in Chicago auf: der siebzehnjährige Lucien Carr und der Lucien sklavisch ergebene David Kammerer.

Inzwischen brodeln in Burroughs wieder kriminelle Phantasien. Einmal entwickelt er Pläne zum Überfall eines Geldtransports. Ein andermal will er die Kasse eines türkischen Bades berauben, erfährt aber an dem für den Überfall vorgesehenen Tag gerade noch rechtzeitig, dass das Geld, auf das er es abgesehen hatte, schon fortgeschafft worden ist.

Carr unternimmt einen Selbstmordversuch, bei dem er den Kopf in die Backröhre eines Ofens steckt. Die Gründe für seine Tat bleiben undurchsichtig. Nachdem er in die psychiatrische Station eines Krankenhauses eingeliefert worden ist, erscheint seine Mutter in Chicago. Um ihren Sohn von seinen windigen Bekannten loszueisen, überredet sie ihn, sich für das nächste Semester an der Columbia University in New York einschreiben zu lassen.

Aber dort stecken die drei bald wieder zusammen. Sie wohnen nicht weit voneinander entfernt im Village.

Bald ist Burroughs so etwas wie der literarische Guru einer Gruppe junger Männer und Frauen, die sich bei ihm psychologischen Rat holen und von seiner Belesenheit profitieren. Unter der Bedingung, dass er seine psychiatrische Behandlung nicht vernachlässigt, überweisen ihm seine Eltern immer noch jeden Monat 200 Dollar. Manchmal arbeitet er, um etwas dazuzuverdienen, als Barkeeper in einem der zwielichtigen Restaurants am Times Square, in denen Prostituierte, Dealer, Einbrecher und deren Hehler verkehren.

Immer noch übt das kriminelle Milieu eine starke Anziehungskraft auf ihn aus: Er würde gern reisen, aber dafür reichen seine Geldmittel nicht hin.

Bei einem Treffen mit Lucien Carr überlegt er laut, ob er nicht vielleicht zur Handelsmarine gehen solle.

Carr kennt einen jungen Mann, der zur See gefahren ist. Er heißt Jack Kerouac. Burroughs und Kerouac treffen sich. Gleich bei ihrer, ersten Begegnung erfährt Burroughs, dass Kerouac schreibt, und empfiehlt ihm, Spenglers Untergang des Abendlandes zu lesen.

Allen Ginsberg; William Burroughs, Jack Kerouac - etwas später wird noch Neal Cassady zu der Gruppe stoßen -, die Autoren, die man einmal die Beat generation nennen wird, sind an dem ersten Schnittpunkt ihrer Schicksale, in Manhattan, versammelt. Wer die Geschichten ihrer Herkunft und ihrer Kindheit in der großen amerikanischen Wüste, wer die Erfahrungen kennt, die sie bis dahin in ihrer Jugend gemacht haben, ahnt, welch sozialer und psychologischer Sprengstoff sich mit und in dieser Gruppe zusammengebraut hat. Die Lunte brennt... beat: das heißt geschlagen, am Boden liegend, spielt aber gleichzeitig auf das englische Wort beatitude an, was mit Glückseligkeit zu übersetzen wäre. In einer Gesellschaft, deren Gründerväter den Anspruch erhoben, jeder Bürger sei mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter das Anrecht auf Glück, versuchen sie, wider den Strich von Konformität und Normen lebend, mit dieser Forderung auf eine neue radikale Art und Weise ernst zu machen. Sie definieren neu, was Glück ist in Amerika:

Und sie reden und erzählen von diesem ihrem Glück in Gedichten, Manifesten, Romanen und Erzählungen, die die etablierten Literaten und Literaturwissenschaftler nicht weniger irritieren als den auf Gesetz und Ordnung pochenden Spießbürger, den square.

Zu ihrem Wortführer wird in diesen Jahren ein junger Mann, der schon von seiner äußeren Erscheinung her, erst recht aber durch seine Lebendigkeit, sein Bedürfnis nach Mobilität und seine leidenschaftlich und risikoreich praktizierte Sinnsuche auf sich aufmerksam macht! Sein Name ist Jack Kerouac.

4

Der Traum vom Glück der Ferne

(1922-1944) Jack Kerouac

I was an American Boy

I read the American Boy Magazine

and became a boy scout

in the suburbs.

I thought I was Tom Sawyer

catching crayfish in the Bronx River

and imagining the Mississippi.

Lawrence Ferlinghetti1

... geboren als drittes Kind seiner Eltern am 12. März 1922 in der Kleinstadt Lowell, dreißig Meilen von Boston im nordöstlichen Massachusetts, Neuengland.

Bestimmend für die innere Landschaft, die im Bewusstsein des Jungen, der hier heranwächst, entsteht, ist das Bild des Merrimack River. Die große dunkle Schlange, die aus den Wäldern herabkommt, die in einem Wasserfall abstürzt.

›Der tosende Schlafbringer unserer Nächte - Ich hörte ihn mit einem Stöhnen von den Felsen erstehen, und wie er mit seinen Wassern heulte, sprulsch, sprulischsch, uum, uum ssuu, die ganze Nacht über suuuu, suuuu, und die Sterne wie Löcher in einem Tintendach. Merrimack, dunkler Name, der mit düsteren Tälern protzt: mein Lowell hatte große Bäume aus alter Zeit im rauen Norden, die über abgebrochenen Pfeilspitzen und Indianerskalps winkten, das Ufergeröll der Schieferküste steckt voller Perlen, barfüßige Indianer liefen darüber hinweg. Der Merrimack saust von einem Norden der Ewigkeiten herab, fällt wie ein Pissestrahl durch Schleusen, Klüfte und Schaumberge auf Felsen, blosch, und rollt grummelnd dem Mammon entgegen, gebändigt durch tausamtene Steinmulden mit scharfen Kanten (wir tauchten ab, zerschnitten unsere Füße, miese Sommernachmittags-Schulschwänzer).‹2

Der Fluss muss sehr stark auf das Kind gewirkt haben, undenkbar sonst, dass der Mann später ein so intensives, magisch-mystisch überhöhtes Bild von ihm hätte entwerfen können.

Zuerst ist der Fluss als reales Bild da.

Später wird sich sein reales Bild in einen Strom von Erinnerungen verwandeln.

Memory Babe wird Jack schon als Schuljunge wegen seines auffälligen Erinnerungsvermögens genannt.

Irgendwann im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte jemand den stürmischen Lauf des Flusses mit einem Kanal und einem Damm gebändigt. Am Ufer entstand eine der ersten Industriestädte Amerikas mit einem Dutzend Textil- und Schuhfabriken.

Wie viele Kleinstädte in Neuengland wuchs Lowell aus einer Anzahl von Dörfern zusammen. Während der ersten Jahre der industriellen Revolution galt es als Mustersiedlung. In den Fabriken wurden die Vermögen Bostoner Unternehmerfamilien verdient, Vermögen, die bis heute fortbestehen. Charles Dickens, ein strenger Kritiker des Fabrikwesens in seinem eigenen Land, besuchte den Ort und war beeindruckt vom Straßenbild und von dem selbstsicheren Auftreten der Bauernmädchen, die an den Webstühlen arbeiteten; er fand auch an ihrer Bezahlung, zwei Dollar die Woche, nichts auszusetzen.

Die Fabrikherren bescherten dem Ort ein Textil-Institut am Nordufer des Flusses, aber gegenüber ihren Arbeitern waren sie weniger großzügig. Im späten 19. Jahrhundert sanken die Löhne immer weiter. Die Bauernmädchen zogen es nun vor, als Sekretärinnen und Telefonistinnen nach Boston zu gehen.

Ihre Plätze an den Spinnmaschinen wurden von den Töchtern der Einwanderer aus Irland, Kanada und Polen eingenommen.

Die Webstühle ratterten weiter bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, als die Fabriken in den Südstaaten billigere Waren produzierten und eine Spinnerei nach der anderen schließen musste.

in Jacks Kindheit ist die Blütezeit von Lowell schon vorbei. Seine Eltern, Leo und Gabrielle Angée Levesque, wurden in Kanada geboren, waren aber schon südlich der Grenze, in Nashua, einer Kleinstadt in New Hampshire, aufgewachsen.

Gabrielles Vater hatte es dort zu einem kleinen Gasthaus gebracht. Er starb, als die Töchter erst vierzehn Jahre alt war. Seitdem hatte sie in einem Schuhgeschäft gearbeitet. Sie ist eine kurzbeinige, gedrungene Frau mit blauen Augen; roten Äpfelwangen und glänzendem schwarzen Haar. Die schwere Kindheit hat das Bedürfnis nach Sicherheit und Nestwärme und ein Verlangen nach sozialem Aufstieg tief in sie eingesenkt.

 

Leos Vater, Jean-Baptiste, war in seinen besten Tagen ein einigermaßen wohlhabender Holzkaufmann gewesen, ein Mann, dessen Jähzorn und rebellisches Wesen selbst vor Gott nicht haltmachte. Wenn Gewitterwolken den Tag verdunkelten, soll er mit einer Laterne vor die Tür getreten sein und ausgerufen haben: ›Nur weiter so, wenn du mächtiger bist als ich, dann schlag jetzt zu und lösch dieses Licht auch noch aus!‹ Es waren die großen Mengen selbstgebrannten Schnapses, die ihn schließlich unter die Erde brachten.

Seinem Sohn Leo, der 1889 noch in Kanada geboren wurde, hatte er eine gute Schulbildung zuteil werden lassen. Leo besuchte eine Privatschule in Rhode Island. Als Schriftsetzer, Reporter und Übersetzer kam er zum Etoile, einer kleinen Zeitung für die französischsprachige Bevölkerungsgruppe in Lowell.

Er trug sich mit dem Gedanken, nach Kalifornien zu gehen, aber dann lernte er in Nashua Gabrielle Levesque kennen, ein ordentliches Mädchen, das sich für die Ehe rein hielt, streng katholisch, mit einem Hang zum Mystischen, bereit, sich anzupassen, voller Sehnsucht nach einem kleinbürgerlichen Familienidyll. Der lebenslustige, früh zu Korpulenz neigende Leo, ein Mann, der sich für Sport interessierte, in der Lokalpolitik mitmischte, einer, der empfänglich war für Erklärungen, warum die Reichen immer reicher werden, die Armen aber ewig arm bleiben, mag gefunden haben, dass mit dieser Frau ein stabilisierendes Element in sein Leben kommen werde. Sie heiraten 1915. 1916 kommt ihr erstes Kind Francis Gerard zur Welt, zwei Jahre später wird eine Tochter, Caroline, genannt Ti Nin, geboren. Die Umgangssprache in der Familie ist Joual, das Patois der Frankokanadier, der Canucks, wie sie in den USA genannt werden.

Die Einwanderer aus Kanada, die aus den steinigen Abhängen zu beiden Seiten des St. Lawrence in die breiten sanft rollenden Wiesen von Vermont und New Hampshire und die üppigen Täler von Massachusetts kommen, sind dort alles andere als beliebt. Man nennt sie verächtlich ›weiße Nigger‹. Sie sind bereit, in den Fabriken zu niedrigen Löhnen härter zu arbeiten als die Einheimischen, und sie sind geschäftstüchtiger als diese. Sie halten eisern zusammen, bleiben in ihren katholischen Pfarrgemeinden unter sich, dringen darauf, dass ihre Kinder französisch sprechen.

Die alteingesessenen Puritaner halten sie für großsprecherisch, mit Illusionen und nostalgischen Träumen von illustren Vorfahren. Solche Erinnerungen leben auch bei den Kerouacs fort. Für Jack wird es später wichtig sein, angeblich von einem gewissen Baron Alexandre Louis Lebris de Kerouac abzustammen, einem bretonischen Adligen, der Landrechte in Kanada verliehen bekommen hatte und dessen Nachkommen angeblich Mohawk- und Caughnawaga-Indianer heirateten.

Tatsächlich gibt es in den Vierteln der Canucks meist mehr Debile, Verrückte als anderswo, aber auch mehr Originale. Ins Abseits und in die Isolation gedrängt, entwickeln die Frankokanadier in den USA, ähnlich wie die Iren in den Jahrhunderten englischer Okkupation, ein ausgeprägtes Innenleben, oft erfüllt von bizarren Phantasien.

Jean-Louis - erst später wird daraus Jack - Kerouac ist das letzte Kind, das Gabrielle zur Welt bringt.

Sie gebiert es daheim, in einem großen Messingbett unter einem Kruzifix, an einem Tag, an dem es gerade Frühling zu werden beginnt.

Es ist bezeichnend für Kerouacs Hang zu mystifizierenden Phantasmagorien, dass er in Doctor Sax seine Geburt beschreibt, als habe er ihr als Beobachter zugesehen:

›Über den weiten Kessel zum Hügel hin - in der Lupine Road im März 1922 um fünf Uhr am Nachmittag einer völlig in Rot getauchten Abendessenszeit, als schläfrig in den Kneipen der Moody und Lakeview Biere gezapft wurden und der Fluss mit seiner Eisfracht über gerötete verschlickte Steine hinwegrauschte, und an den Ufern das Röhricht zwischen Matratzen und alten weggeworfenen Stiefeln wogte und nasse Schneefladen träge von tiefgebeugten Zweigen schwarzer, dorniger, taugeölter Kiefern rutschten, und darunter der schwere Schnee an den Hängen, auf denen verirrte Sonnenstrahlen blitzten und die Schmelze des Winters sich vermischte mit den Fluten des Merrimack - wurde ich geboren.. [...] Ganz Auge war ich, kam und hörte die Flussröte; ich erinnere mich an diesen Nachmittag, schaute ihn durch die Perlenschnüre, die als Vorhang in der Tür hingen und durch Glas von einer universellen traurigen Röte tödlicher Verdammnis... der Schnee schmolz. Die Schlange hatte sich im Hügel eingerollt, nicht in meinem Herzen.‹3

Urbane und kosmische Verbundenheit evoziert dieser Text, und wieder wird der Fluss erwähnt. Aber auch eine Traurigkeit, ja tödliche Verdammnis klingen an, und die Schlange, die ja eine Metapher für den Fluss ist, rollt sich im Hügel ein, nicht im Herzen des Neugeborenen. Das heißt: Trennung von der kosmischen Geborgenheit. Aber die Schlange des Flusses meinte auch die Schlange aus dem Paradies, die Versucherin des Menschen, Symbol des Bösen und der Sünde. Und ob ihm das bewusst sein mag oder nicht: Kerouac gibt in diesem Text über seine Geburt einen Hinweis auf ein fundamentales Problem seines Lebens: die Frage nach Gut und Böse, die Ängste über seine Sündhaftigkeit, sein Bedürfnis nach Erlösung.

Bis auf gewisse Meinungsverschiedenheiten in religiösen Fragen zwischen Leo und Gabrielle ist es eine harmonische Familie, in die der Junge hineingeboren wird. Eine Familie mit Eltern und Geschwistern, die Geborgenheit und Sicherheit geben, in der man Späße kennt, Geselligkeit liebt, gutes deftiges Essen auf den Tisch kommt. Freilich lebt Leo vorwiegend in seiner Männerwelt: in der Werkstatt, vor dem Tresen im Wirtshaus, auf dem Sportfeld. Zu dieser Zeit ist er noch voller Vitalität, gut gelaunt, von einer Großzügigkeit, die Gabrielle abgeht. Sie fühlt sich dafür zuständig, das Geld zusammenzuhalten und für das Seelenheil ihrer Lieben zu beten. Sie füllt das Haus mit Bildern der heiligen Thérèse von Lisieux, einer Karmeliterin, die mit vierundzwanzig Jahren an Tuberkulose starb. Gabrielle bringt ihren Kindern Gebete an diese Heilige bei, und viele Jahre später wird Jack Kerouac auf dem Höhepunkt seines literarischen Erfolges gegenüber dem Lyriker Philip Whalen bekennen, welchen Trost und Zuflucht für ihn die Gebete zu Thérèse und dem ›kleinen Lämmchen Jesus‹ bedeuten. Gewiss liegt in der von der Mutter zelebrierten Heiligenverehrung eine Wurzel für Kerouacs intensives Bedürfnis nach religiöser Erlösung.

Seit September 1938 geht Jean-Louis in eine von Ordensschwestern geleitete Pfarrschule. Seine Lehrerin erscheint dem nervösen kleinen Jungen als ›ein großer schwarzer Engel mit gewaltigen flatternden Schwingen‹.4

Gabrielle ist immer bereit, sich für die Familie zu opfern, kann aber ihre Opfer auch eiskalt vorrechnen und mit Herrschaftsanspruch einklagen. Als Widerpart zu ihr, dem Gefühlsseligkeit und Stallwärme verbreitenden Muttertier, verkörpert der Vater in dieser Familie das Element des Gewagten-Unangepassten. Aber auch etwas Unseriöses haftet Leo an. Ein Besserwisser, ein Schwadroneur, ein Hansdampf in allen Gassen. Man zieht häufig um, und die verschiedenen Wohngegenden kennzeichnen einen allmählichen sozialen Abstieg. Die längsten Zeitabschnitte seiner Kindheit verbringt Jean-Louis oder Jack in dem eher etwas schäbigen Viertel der Canucks, in Pawtucketville. Über das Familienidyll, wie es sich Gabrielle, die nun zeit ihres Lebens Mémère genannt wird, wünschen würde, fallen immer bedrohlichere Schatten. Nicht nur aus Adelsstolz hat Jack später auf das Motto im Familienwappen der Keroaucs verwiesen, das lautet ›Aimer, Travailler et Souffrir‹.5

Tatsächlich treffen die Stichworte ›Lieben, Arbeiten, Leiden‹ auf die Generation seiner Eltern und auf sein eigenes Leben zu.

Bezeichnenderweise sind seine frühesten Kindheitserinnerungen die an einen hungrigen Gassenjungen, der Plourdes hieß und den der Bruder mit heimbrachte, um ihn mit Mémères Butterbroten zu füttern. - Plourdes: Jack wird diesen Namen nie vergessen, weil er für ihn alle Verzweiflung, die offen zutage liegende schmerzende Hoffnungslosigkeit und den kalten, entmutigenden Kummer von Lowell enthält.