Das Märchen im Drama

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From the series: Forum Modernes Theater #55
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Das Märchen im Drama
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Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama

Eine Studie zu deutschsprachigen Märchenbearbeitungen von 1797 bis 2017

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Umschlagabbildung: Gustave Doré, Le chat botté


Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation der Humboldt-Universität zu Berlin.

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8314-7 (Print)

ISBN 978-3-8233-0156-1 (ePub)

Inhalt

  Dank

  Einleitung 1.) Fokussierung der märchenhaften Simplifikation 2.) Reflexion von Darstellungsmitteln 3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens Vorgehen und Hypothese Zum Forschungsstand Charakteristika des Märchens Zur Auswahl der Märchendramen Das Märchen als dramatische Adaptation Zu dieser Arbeit. Eine Übersicht

 I. Charakteristika von Märchendramen am Beispiel der Werke von Gozzi und TieckI.1 Carlo Gozzis Fiabe teatrali (1761-65)Über den Modus der MärchenbearbeitungGozzis Bearbeitung der Märchen und ihre Synthese mit dem TheatralenI.2 Ludwig Tiecks MärchendramenLudwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drey Akten, mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge (1797/1812)Ludwig Tieck: Ritter Blaubart. Ein Märchen in fünf Akten (1799/1812)Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie (1800/12)Ludwig Tieck: Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen (1811)I.3 Resümee

 II. Disposition zur SatireII.1 Komik und Ironie in Märchendramen des 19. JahrhundertsAugust von Platen: Der gläserne Pantoffel. Eine heroische Komödie in fünf Akten (1823)Christian Dietrich Grabbe Aschenbrödel: Dramatisches Märchen (1829/35)II.2 Ausnahmen und GegenbewegungenII.3 Weil sie nicht gestorben sind – Wiederkehr der Märchensatiren im 20. JahrhundertRobert Walser: Schneewittchen (1901), Aschenbrödel (1901) und Dornröschen (1920)Martin Mosebach: Blaubart. Drama giocoso (1985)Tankred Dorst: Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) und Grindkopf. Libretto für Schauspieler (1986)Dea Loher: Blaubart – Hoffnung der Frauen (1997)II.4 Satirische Elemente in Dramenadaptationen des 21. JahrhundertsElfriede Jelinek: Prinzessinnendramen. Der Tod und das Mädchen I – II: Schneewittchen und Dornröschen (2000)Rebekka Kricheldorf: Testosteron. Eine schwarze Parabel (2012)Reto Finger: Hans im Glück (2015)II.5 Resümee

 III. Intertextuelle StrategienIII.1 Intertextuelle FormenIII.2 Gesteigerte IntertextualitätVerweise auf märchenfremde StoffeAnspielungen auf frühere MärchendramenIII.3 Intertextuelle Potenzen in Elfriede Jelineks Schneewittchen und DornröschenIII.4 Resümee

 IV. Metadramatische und autoreferentielle FormenIV.1 Shakespeares Erbe: Das Spiel im Spiel im MärchendramaIV.2 Metafiktionale Zeichen in den Werken von Walser, Jelinek und KricheldorfRobert Walsers MetadramenAutoreferentielle Zeichen in zeitgenössischen MärchendramenIV.3 Resümee

 V. Märchenhafte IdentitätenV.1 Zum Einsatz von Stereotypen statt von IndividuenV.2 Verhandlungen von Herkunft und BestimmungV.3 Volks-Märchen: Befragung gesellschaftlicher DynamikenV.4 ResümeeDas ‚Ich’ als KonstruktionVorstellungen einer ‚Ich’-EinheitMärchen als Kritik und Dekonstruktion

 VI. Ausblick anhand von Jean Giraudoux’ OndineVI.1 Satirische ElementeVI.2 Intertextuelle AspekteDas Verhältnis zur primären VorlageAnspielungen auf weitere QuellenÜbernahme von Motiven aus BühnenstoffenVI.3 Selbstreferentielle Momente und Spiel im SpielInhaltliche Reflexion des Märchens und des TheaterspielsSprachliche ReflexionenVI.4 Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen StrukturenVI.5 Resümee

  Übersicht zu den betrachteten Märchendramen

 LiteraturverzeichnisPrimärliteraturSekundärliteratur

Für Armü.

Meine Familie.

In Liebe.

In Erinnerung an Minusch, der am 1. September 2017 und

an Tankred Dorst, der am 1. Juni 2017 verstorben ist.

Dank

Für die umfangreiche und freundliche Unterstützung sowie ihre produktive Kritik danke ich besonders Prof. Dr. Steffen Martus und Prof. Dr. Doris Kolesch. Durch ihre aufmerksamen und genauen Hinweise hat diese Arbeit entscheidend gewonnen. Nicht selbstverständlich ist und umso mehr wiegt Steffen Martus‘ Offenheit für das im doppelten Sinne grenzgängerische Forschungsprojekt: Nicht nur dieses Projekt findet sich an der Schnittstelle zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft, sondern auch meine Arbeit als Wissenschaftlerin und Theaterautorin. Was zu dem schönen Umstand führte, ihn auch bei der Uraufführung einer eigenen Märchenbearbeitung am Deutschen Theater in Göttingen begrüßen zu dürfen. Hier entstand, um es mit Ludwig Tiecks Worten zu sagen, ein Zirkel, der in sich selbst zurückkehrt. Es bleibt zu hoffen, dass sich mit der Lektüre dieses Buches nicht auch der zweite Teil des Zitats erfüllt – nach dem „der Leser am Schluß grade eben so weit ist, als am Anfange“.

Darüber hinaus bedanke ich mich für die finanzielle und ideelle Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes, mit deren Stipendium diese Arbeit entstehen konnte. Für hilfreiche Anmerkungen und Korrekturen danke ich vor allem Hartmut von Sass, Christian Fissenebert und Jens Hasselmeier. Dem PhD-Net „Das Wissen der Literatur“ der HU Berlin danke ich herzlich für den anregenden Austausch und die Möglichkeit, diese Arbeit an der UC Berkeley in Kalifornien zu Ende schreiben zu können. Der FAZIT-Stiftung danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuss mithilfe dessen diese Arbeit publiziert wurde. Nicht zuletzt danke ich Sonja Szillinsky und Rike Lorenz für die so unzähligen wie schönen gemeinsamen Arbeitsstunden und, genauso wichtig, die Kaffeepausen.

Wir meinen, das Märchen

und das Spiel gehöre zur Kindheit:

wir Kurzsichtigen!

Als ob wir in irgend einem Lebensalter

ohne Märchen und Spiel leben möchten!1

Friedrich Nietzsche

Einleitung1

Als ob wir zu irgendeiner Zeit ohne Märchen und Spiele leben wollten – so impliziert es Friedrich Nietzsche in seinem Buch für freie Geister. Für ihn zählen auch das märchenhafte Spiel und das Spielerische des Märchens zum ‚Menschlichen, Allzumenschlichen’, sodass es einer „Selbstverkleinerung des Menschen“2, ja einer ‚Kurzsichtigkeit’ gleichkäme, sich dieser Dimension freiwillig zu berauben. Nietzsche behauptet folglich nicht, „ohne Märchen und Spiel“ gar nicht sein zu können, sondern stellt in Abrede, dass man dies überhaupt wollen könnte oder sollte. Und Nietzsche ruft auch nicht dazu auf, ein Kind zu bleiben, um für Spiele und Märchen noch zugänglich zu sein, sondern verteidigt die Bedeutung des Märchens für jedes, auch das reifere ‚Lebensalter’. Genau darin bestünde ‚Weitsicht’, so legt es der Autor nahe, dem Spiel des Märchens Raum zu geben, im gewöhnlichen Leben und auch in der wissenschaftlichen Betrachtung. Gerade im Märchendrama sind Märchen und Spiel miteinander verbunden. In potenzierter Weise werden hier Erkenntnisse durch das Märchen und als Spiel reflektiert. Inwiefern sich das Märchen im Drama im besonderen Maße zur Anschauung und zum Verständnis grundlegender Fragen anbietet, werde ich in der vorliegenden Arbeit betrachten.

 

Das Märchendrama stellt innerhalb der deutschsprachigen Dramatik eine eigene Traditionslinie dar. Während die zahlreichen Weihnachtsmärchen für Familien und Märchentheaterstücke für Kinder als fester Bestandteil des Theaterrepertoires gelten, wird dem Märchendrama für Erwachsene vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil.3 Dies ist überraschend, sind doch Märchen originär für Erwachsene entstanden.4 Auch haben etablierte deutschsprachige Autorinnen und Autoren von der Romantik bis zur Gegenwart literarische Märchenadaptationen als Dramen verfasst und sich fortlaufend dem Märchen als Gattung zugewandt. In dieser Studie möchte ich die Texte von Dramatikerinnen und Dramatikern im Zeitraum 1797 bis 2017 vergleichend vorstellen und untersuchen, wie in ihnen die Spezifika der Märchengattung ihre Wirkung entfalten.

Die große Relevanz dieses Korpus für die Dramenliteratur zeigt sich in den vielfältigen intertextuellen, reflexiv-kritischen Perspektiven und zeitgenössischen Fragestellungen, die in den Adaptationen durch die generativen Eigenarten des Märchens entworfen werden. Durch die Transformation des Märchens kommt es im Drama zu profunden Auseinandersetzungen mit Rollenbildern, Stereotypen und märchenhaften Illusionen, die den bedeutenden literaturgeschichtlichen Stellenwert des Märchens zur Geltung bringen. Aus diesen märchentypischen Erzählstrategien ergibt sich eine außergewöhnliche dramaturgische Eignung für das Drama. Wie zu zeigen sein wird, weist das Märchendrama folgende Eigenschaften auf: 1.) Fokussierung der märchenhaften Simplifikation, 2.) Reflexion von Darstellungsmitteln, 3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens.

1.) Fokussierung der märchenhaften Simplifikation

Meist wird nicht das im Märchen Dargestellte im Drama kommentiert; vielmehr dient die märchentypische Reduktion dem Theatertext, um die auf ihre wesentlichen Züge konzentrierte Welt kritisch zu adressieren. Die Wahrnehmung des Märchens wird hinterfragt, wenn dessen Darstellung einer geordneten Welt reflektiert wird. Für eine entsprechende Umsetzung ergeben sich dadurch verschiedene Optionen der Auseinandersetzung: vom dezidierten Gegenentwurf als Negation starrer Rollen über die ironische Brechung durch die Wiedergewinnung der dem Märchen fremden Ambivalenzen bis hin zur satirischen Affirmation, Fortschreibung und Steigerung. All dies sind Tendenzen, die sich auffällig oft in den zu behandelnden Märchendramen beobachten lassen.

Dabei kommen dem Märchen Eigenarten zu, die im Drama nicht unbedingt als gegeben erscheinen. Das Märchen zeichnet sich durch einfache Erzählkonstruktionen und holzschnittartige Archetypen aus. Weiterhin liefert es keine vordergründigen Erklärungen für seine oftmals supranaturalen Handlungen und Figuren, um dadurch charakteristische Leerstellen freizugeben und dem Rezipienten vielschichtige Projektions- und Identifikationsflächen zuzuspielen. Für das Drama hingegen ist diese Reduktion keine gattungsbedingte Selbstverständlichkeit, sondern eine künstlerische Entscheidung. Die immanente Distanz zum Märchen als Vorlage des Dramas spiegelt sich in einer oftmals explizit intertextuellen Aneignung. Weiterhin werden häufig märchenfremde Stoffe mit der Vorlage verbunden und die intertextuelle Dimension der Dramen somit potenziert.

2.) Reflexion von Darstellungsmitteln

Nun bedient sich das Märchendrama häufig nicht nur märchenimmanenter Mechanismen, sondern legt diese zugleich frei. Die spielerische Entlarvung der Erzählstrukturen lässt die bereits gegebene überspitzte Darstellung in eine Rekapitulation übergehen, sodass statt der eigentlichen Märchenhandlung die Märchenform zum Thema wird. Dessen geordnete Weltdarstellung kann durch die Reflexion der erzählerischen Illusionsmechanismen eine eigenständige Bedeutungsebene hinzugewinnen. Genau in diesem Sinne werden die formalen Möglichkeiten selbstreferentieller Theatertexte provoziert. Indem Illusionsmechanismen als solche kenntlich gemacht werden, verliert die Handlung zugunsten einer fokussierten Reflexion der Form an Gewicht. Dabei entsteht ein Vexierspiel mit den interagierenden Bedeutungsebenen. Im Vordergrund steht nicht mehr die Handlung des Märchens, sondern das Verwirrspiel mit der Wirklichkeit konstituierenden Kraft des Erzählens.1 Hier kommt es zu einem spielerischen Umgang mit märchenhaften Strukturen, wie es auch in Nietzsches Zitat anklingt.

Häufig wird in Märchendramen für Erwachsene ein inszeniertes Spiel im Spiel eingesetzt. Dabei werden Analogien zwischen der märchenhaften Handlung bzw. ihren übernatürlichen Elementen und dem Theaterspiel als Illusionskunst gezogen. Das Drama wird dann als Ausdruck und Form des Märchens gewählt, sodass die Verwandtschaft beider zur Disposition steht. Trotz der oder gerade durch die Entzauberung der Illusionsstrategien, die unsere Wahrnehmung lenken, bleiben diese als eigentümliche Ebene meist intakt. Wie es scheint, bieten sich Märchendramen in besonderer Weise dazu an, die in der Reflexion angelegte Selbstbezüglichkeit und das konfliktreiche Spiel divergenter Erzählebenen zu inszenieren.

3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens

Das Märchen ist der Inbegriff einer vermeintlichen Eindeutigkeit von individueller und kollektiver Identität, klaren Rollenbildern und einer geordneten, überschaubaren Welt. Es enthält daher vielfältige Möglichkeiten, seine Konstruktionen aufzubrechen. Die Erwartungshaltungen, die an das Märchen aufgrund seiner kulturellen Position herangetragen werden, können in einer spielerischen Reflexion zum Auslöser subversiver Märchenadaptationen werden. So trägt das Märchendrama zu einem gesellschaftlichen Diskurs bei, indem es die stereotypen Märchenkonstruktionen bemerkenswert oft als Ausdruck wiederkehrender (Wunsch-)Vorstellungen zeigt.

In der skizzierten Relevanz des Märchens für Fragen gesellschaftlicher Identität liegt zugleich die Gefahr, funktionalisiert zu werden. Eben diese ambivalente Inanspruchnahme bleibt so problematisch wie reizvoll. Denn gerade dadurch vermag das Drama, die gleichsam stereotype Vereinnahmung des Märchenstoffes zu entlarven. So zeichnet sich in vielen Märchenstücken für Erwachsene nun genau eine derartige Gegenbesetzung ab: Beispielsweise werden die charakteristischen Züge etablierter Geschlechterrollen separiert und neu ins Verhältnis gesetzt, um einerseits an der formalen Anordnung des Märchens festzuhalten, aber andererseits seiner vermeintlichen Intention unerwartete Facetten hinzuzufügen. Aus der Bestätigung von Klischees wird nun eine kritische Kommentierung, die jenseits bloßer Distanzierung oder Affirmation liegt. Die märchenhafte Disambiguierung spielt hier gerade ihrer eigenen Dekonstruktion in die Hände.

Grundsätzlich wird im Märchendrama auf ein kulturelles Erbe zurückgegriffen, dessen Einfluss sich bis in die Gegenwart in der anhaltenden Faszination für Märchen und Märchenbearbeitungen dokumentiert.1 Gerade in der letzten Dekade kam es zu einer auffälligen Hinwendung der Künste zum Märchen – besonders in Kinofilmen und Serien.2 Sechs der fünfundzwanzig Märchentexte, die hier besprochen werden, sind nach 2000 entstanden; dies mag teils auch darauf zurückzuführen sein, dass 2012 das zweihundertjährige Jubiläum der Kinder- und Hausmärchen von 1812 stattfand. Auch in der Dramatik zeigt sich wieder ein verstärktes Interesse an Märchenstoffen, was die Relevanz, die Märchen auch für aktuelle Diskurse annehmen können, verdeutlicht. Mit dieser Studie möchte ich das Potential des Märchens im Drama untersuchen und durch die Analyse der deutschsprachigen Werke eine sich daran anschließende wissenschaftliche Diskussion fördern.

Vorgehen und Hypothese

In dieser Arbeit werden erstmals deutschsprachige Märchendramen für Erwachsene sowohl chronologisch betrachtet als auch systematisch analysiert. Hierzu überprüfe ich, inwiefern sich Märchenadaptationen in typologisierende Unterkategorien einteilen lassen, um die vorherrschenden Tendenzen der Märchenbearbeitung einzuordnen. So können auch direkte Bezüge der Märchenstücke untereinander, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind, erkannt werden. Im Vordergrund der Studie stehen stets die Texte aus dem vorzustellenden Korpus an Märchenstücken; dies dient der Konzentration auf den Gegenstand. Eine selektive Beschäftigung mit weiterführender Sekundärliteratur soll in dieser Arbeit dennoch dabei helfen, die spezifischen Merkmale und den Umfang des Genres zu klären und diese an den historisch weitverzweigten Werken zu exemplifizieren.

Über das Erstellen einer derartigen Übersicht hinaus wird vor allem von Interesse sein, welche dramatischen Möglichkeiten der Gattung Märchen innewohnen. Wissenschaftlich sind die generischen Spezifika der Märchendramen für Erwachsene bislang kaum analysiert worden. Genau auf diese Leerstelle möchte ich mit meiner Studie reagieren. Durch diese Auseinandersetzung kann ein bemerkenswertes Desiderat innerhalb der jüngeren Literatur- und Theaterwissenschaften geschlossen werden. Dabei stellt sich die Frage nach dem Potential des Märchendramas für Erwachsene als künstlerisch eigenständige Form im Blick auf einen gesellschaftlich relevanten Diskurs.

Anhand der konkreten Märchendramen werde ich überprüfen, inwiefern sich die überspitzte, eindimensionale Darstellung im Märchen für eine dramatische Übersetzung eignet bzw. sich nicht geradezu für eine kritische Auseinandersetzung im Drama anbietet. Dabei scheint es, als könnte die dramatische Adaptation des Märchens dessen gezielt reduzierten Erzählstil aufzeigen, theatral vergrößern und so zu einer differenzierten Wahrnehmung der Gattung führen. In diesem Sinn ist von einer produktiven Wechselwirkung von Märchen und Drama auszugehen.

Um die markanten Schnittstellen zwischen Drama und Märchen zu verorten, werde ich bisherige Ergebnisse der Dramenanalyse mit denen der Märchenforschung verknüpfen. Hierzu untersuche ich die dem Märchen eigene Schematisierung der narrativen Anordnung sowie dessen Typisierung von Sprache und Figurenführung.1 Märchendramen, so die zu verifizierende Annahme, stellen eine Transformation der Eigenarten des Märchens im Theatertext dar. Die grundlegende Hypothese lautet dabei, dass sich Märchen durch ihre gattungsbedingte Architektonik samt gezielter Vereinfachung in ganz besonderer Weise für eine fruchtbare Rezeption im Drama eignen. Ich werde unterschiedliche, sich jedoch ergänzende Ansätze verfolgen, um diese These zu stützen.

Welche Dynamiken bei einer offensiven Verbindung von märchenspezifischen und dramatischen Erzählweisen evoziert werden, möchte ich mit folgenden Schwerpunkten der Analyse darlegen: Durch die Steigerung des märchenhaft Überzeichneten kommt es in vielen Stücken zu einer satirischen Ausrichtung. Ein wesentliches Merkmal vieler Märchendramen ist der satirisch-ironische Zugriff, der sich nicht gegen die Märchenvorlage richtet, sondern gerade mit ihr entwickelt wird. Um die Stücke erstmalig vorzustellen, bietet sich eine Analyse ihrer satirischen Dimension an; in der Untersuchung ihrer humorvollen Kritik lässt sich der Skopus der Stücke wesentlich entfalten.

Neben der satirischen Dimension werde ich vor allem die intertextuelle und selbstreferentielle Ausrichtung der Märchendramen betrachten. So lassen sich die Werke der Dramatikerinnen und Dramatiker zu ihrem Umgang mit dem grundsätzlich intertextuellen Charakter der Märchenadaptationen befragen. Anhand der vorliegenden Märchendramen für Erwachsene lege ich dar, welche Strategien gewählt werden, um die geregelte Märchenabstraktion und deren Wirkungsmechanismen freizulegen. So gehe ich davon aus, dass der intertextuelle Zugriff auf die Märchen zu einer Reflexion der Märchenform und deren Transformation im Drama führen kann. Daher untersuche ich anschließend den selbstreferentiellen Charakter vieler Märchendramen, der sich durch die Befragung der Märchen- und Theaterform zeigt.

 

Auffälligerweise kommt es in dem Korpus jedoch nicht zu einer Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von Mündlichem und Schriftlichem. Ebenso gehen die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren nach dem Erfolg der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm kaum auf die Bedeutung der Märchen als Nationalliteratur ein. Stattdessen behandeln sie in ihren Märchendramen vorrangig kollektive und individuelle Fragen der Identität, die ich daher in einem eigenen Kapitel vorstellen werde. Wie die Frage nach dem Märchen als Nationalliteratur jedoch gestellt werden kann, zeigt sich an einer Außenperspektive, der ich in einem abschließenden Resümee nachgehen möchte.