Das Märchen im Drama

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From the series: Forum Modernes Theater #55
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Ludwig Tieck: Ritter Blaubart. Ein Märchen in fünf Akten (1799/1812)

Eine Besonderheit von Tiecks Blaubart-Adaptation ist der intertextuelle Verweis auf das Genre der Ritterdramatik. Dieses wird in der szenischen Adaptation des Märchens spielerisch und mitunter grotesk dekonstruiert. Das Satirestück erweist sich als Travestie auf seinerzeit populäre Ritter- und Rührstücke.1 Die berühmte Vorlage ist La Barbe-Bleue2 von Charles Perrault, der Tieck neue Figuren und Handlungsstränge hinzufügt.3 Hier zu nennen sind unter anderen Mechthilde, die Haushälterin Blaubarts, Claus, ein Narr, und, dem Genre der Ritterdramatik folgend, auch mehrere Ritter. Es kommt dabei zu einer partiellen Individualisierung der Familie von Blaubarts Braut. Blaubart selbst heißt nun Peter Berner bzw. in der späteren Fassung Hugo von Wolfsbrunn.

In Tiecks Stück existiert eine grundsätzlich realistische Rahmenhandlung in einem zeitlosen und imaginären, aber dennoch konkreten Mittelalter.4 Auch tritt Blaubart auf den ersten Blick kaum noch als märchenhaft-wunderbare Figur auf, sondern stellt sich grausam, bieder und kleingeistig dar, während eher ‚realitätsnahe’ Figuren wie mancher Ritter dagegen als irrational Handelnde dargestellt werden.5 Der neu eingeführte Narr wiederum erscheint oftmals als die einzige vernunftbegabte Figur, was er in der ersten Szene des Stückes selbst erkennt: „Ich werde dafür bezahlt, um ein rechter wahrer Narr zu sein, und nun bin ich der verständigste von allen. Sie pfuschen dafür in mein Handwerk, und so ist kein Mensch mit seinem Stande zufrieden.“6 Scherers konziser Beschreibung folgend handelt es sich bei der Kontraststruktur dieser Darstellung um

ein zentrales Verfahrensprinzip des ganzen Stücks: die Demonstration der Komplementarität von Gegensätzen […]. Die Pole markieren damit nicht nur die Extreme im variantenreich abgestuften Spektrum menschlicher Dispositionen, sondern jede äußerste Grenze definiert sich nicht weniger über die potentielle Identität mit ihrem Gegenteil: in der Darstellung des Tragischen im Launigen und Albernen, des Heiteren im Schwermütigen, des Grausam-Dämonischen im Rhetorisch-Aufgeräumten (Berner) wie Bieder-Dienstbeflissenen (Mechthilde), des Vernünftig-Pragmatischen im Närrisch-Skurrilen usw. – und umgekehrt.7

Beispielhaft lässt sich das an folgendem Eingriff Tiecks in den Märchenprätext nachvollziehen: Anders als Perrault verzichtet Tieck nicht darauf, Blaubart ein Motiv für seine Morde zu geben, sodass dieser seine dämonische Größe verliert. Der einst äußerst unheimliche Protagonist des Märchens erhält fast bürgerliche Züge, wenn er sich im Namen der Menschenwürde und Humanität an die Bestrafung der Erbsünde macht. Nachdem Blaubart erkannt hat, dass seine neue Frau die verbotene Kammer mit den Leichen ihrer Vorgängerinnen geöffnet hat, verdammt er sie:

HUGO Verfluchte Neugier! – Er wirft zornig den Schlüssel hin. Durch dich kam die erste Sünde in die unschuldige Welt, und immer noch lenkst du den Menschen zu ungeheuren Verbrechen, die oft zu schwarz und greulich sind, um nur genannt zu werden. Die Sünde der ersten Mutter des Menschengeschlechts hat alle ihre nichtswürdigen Töchter vergiftet, und wehe dem betrogenen Manne, der eurer falschen Zärtlichkeit, euren unschuldigen Augen, eurem Lächeln und Händedruck vertraut! Betrug ist euer Handwerk, und um bequemer betrügen zu können, seid ihr schön. Man sollte euer ganzes Geschlecht von der Erde vertilgen. […]8

Bei Tieck wird Blaubart kurzerhand lächerlich, das Stück wendet sich hier vom Tragischen ins Groteske. So auch, wenn im 1. Akt, Dritte Szene, die Rede auf Blaubarts berüchtigten Bart kommt: Stellvertretend für die ganze Figur wird er als zugleich unheimlich und albern wahrgenommen, denn sein Bart „gibt ihm ein recht grausames, widerliches Ansehn, und dabei sieht er doch etwas lächerlich aus“9. In Perraults Märchen lassen sich solche Darstellungsbrüche nicht finden, auch wird märchentypisch keine Motivierung für Blaubarts Taten vorgenommen. Allein der widernatürlich blaue Bart suggeriert ein unergründliches und fast dämonisches Wesen. Durch die Märchenform braucht es keine weitere Erläuterung dieser Konnotation, sie wird ohne weiteres anerkannt. Tieck jedoch unterläuft diese märchenhafte Selbstverständlichkeit, indem er seinen Blaubart dann teilweise – aber eben nicht zur Gänze – psychologisiert und zwar als alltäglichen, fast lächerlichen Biedermann.10

Zugleich behält Blaubart seinen unnatürlich blauen Bart und handelt weiterhin voller Brutalität und tötet ohne Gnade selbst harmlose Widersacher. „Der unsinnige Tod dieser Ritter stellt die unbeschwerte Heiterkeit der ersten Szenen in ein Zwielicht, in dem das Lachen mit einem gewissen Entsetzen grundiert ist und ziemlich jäh das Beunruhigende einer fraglichen Zukünftigkeit einbricht“11, resümiert Manfred Frank treffend. Auffällig ist, wie sich Tieck die ‚Lizenz’ des Märchens zur unmotivierten Handlung, die sich auch in La Barbe-Bleue finden lässt, zu eigen macht. Indem er den Märchenunhold psychologisiert und ihn zugleich mit psychologischen Widersprüchen ausstaffiert, kreiert Tieck mit seinem Märchendrama eine Gegengattung zum Prosamärchen. In diesem Sinne erneuert er die psychologischen Leerstellen des Märchens und erschafft so im Märchendrama eine neue Qualität.

Dabei wird die lakonische Erzählweise des Märchens nicht bloßgestellt, sondern vielmehr durch einen doppelten Bruch wieder aufgegriffen. Indem Tieck die märchenuntypische Psychologisierung, die er vornimmt, zugleich selbstironisch ins Leere laufen lässt, bestätigt er die Erzählstrategie des Märchens letztlich wieder – obgleich sie im Märchendrama komplexer erscheint. Nicht zuletzt gewinnt das im Vergleich kurze Märchen durch die (sich widersprechenden) Erklärungsansätze sowohl an szenischem Material als auch an Möglichkeiten, sprachlich ausführlich zu werden, ohne die Figuren des Märchens greifbarer zu machen.12

Mit Scherer gesprochen, lässt sich in diesem einheitlichen Widerspruch der Darstellung eine „dramenpoetologische Innovation“ erkennen, da eine „ironisierte Komplexität als Simultanvirulenz äußerst gegenläufiger Dispositionen“ ihre Wirkmacht entfaltet.13 In dieser Hinsicht löst sich auch die Verwandtschaft mit Gozzis Fiabe auf, die solche Brüche innerhalb einer Figur nicht zulassen.14 Gozzis Ansatz der Märchenbearbeitung findet sich nur noch ex negativo: Die Infragestellung des märchenhaft Wunderbaren, die bei Gozzi eindeutig den Masken zugeordnet ist, tritt bei Tieck nur als Zusammenspiel von Affirmation und Infragestellung auf.

Auch im Vergleich zu Perraults Handlungsdarstellung verhält sich die von Tieck insgesamt uneindeutiger und subversiver. Während Perrault mit der Verbindung zwischen Lächerlichem und Furchterregendem arbeitet, die dann am Ende der Handlung zugunsten der Zuspitzung ins reine Grauen kippt, umfasst das Lächerliche und Alltägliche bei Tieck das gesamte Drama.15 Beispielhaft sei hier an den eigentlich höchst dramatischen Schluss des Märchens erinnert, wo Blaubarts Braut verzweifelt nach Rettung ausschaut. Diese Szene findet sich auch bei Tieck. Doch die Staubwolke, die vermeintlich nahende Reiter aufwirbeln, geht bei Tieck nur auf eine Herde Schafe zurück. Als der Bruder der bedrohten Frauen doch noch gesichtet wird, stürzt dieser jedoch mit seinem Pferd den Hügel hinunter und muss den Schwestern zu Fuß entgegenlaufen.16

Hier ist ein parodistischer und relativierender Umgang mit dem Mechanismus des deus ex machina der antiken Tragödie zu beobachten, der im Blaubart anschließend noch weiter ins Absurde getrieben wird: Am Ende stirbt Blaubart sehr schnell und mit einer gewissen Beiläufigkeit, was im Kontrast zur langen dramatischen Zuspitzung steht. Auch der vermeintliche Schatz des Blaubarts, der nach dessen Tod auf zwei Sänften herbeigetragen wird, entpuppt sich nicht als kostbare Beute, sondern als eingesperrter Bekannter der anderen Ritter.17

Grundsätzlich lässt sich in Tiecks Drama ein intertextueller Bezug auf dramenpoetologische Normen nachzeichnen, der besonders wirkungsvoll ist, da die Kritik und Entlarvung von narrativen Mechanismen mithilfe eines scheinbar trivialen Märchenstoffs vorgenommen werden. In dieser Konsequenz ist auch Tiecks zweite Märchendramenadaptation wieder auffällig angefüllt mit intertextuellen Markierungen der Genres und Gattungskonventionen, die satirisch reflektiert werden.18 Die Provokation liegt zum einen darin, dass eine seinerzeit etablierte Dramaturgie durch die Adaptation einer volkstümlich und naiv erscheinenden Geschichte hinterfragt wird. Aus systemreferentieller Sicht werden zum anderen die Konventionen der traditionellen und zeitgenössischen Darstellungsmodi des Dramas destabilisiert, indem durch die ironische Verkehrung ein konstruktiver Mechanismus in Gang gesetzt wird.19

Der besondere Unterschied zu anderen Satiren Tiecks, die auf zeitgenössische Diskurse und normative Darstellungen eingehen, liegt aber in der engen Verknüpfung der poetologischen Eigenarten des Märchens mit einer theatralen Künstlichkeit, die sich schon im Gestiefelten Kater angedeutet hat. Indem der unheimliche Protagonist in Tiecks widersprüchlicher Adaptation zugleich als bieder dargestellt wird, werden die Assoziationen, die das bekannte Märchen La Barbe-Bleue weckt, einerseits aufgegriffen und andererseits gebrochen. Das Spiel mit den Erwartungshaltungen spiegelt sich dabei im Drama, das seine eigenen Regeln und jedwede dramaturgische Zuspitzung gleich wieder spöttisch unterläuft.

Die dramatische Bearbeitung des Märchens betont in diesem Fall den gezielt reduzierten Erzählstil des Märchens, der keine Psychologisierung seiner Figuren zulässt, indem sie verschiedene Motivationen zwar etabliert, sie jedoch gleich wieder gegeneinander ausspielt. Weiterhin wird die holzschnittartige Darstellung im Märchen implizit durch die offengelegte Künstlichkeit der (ritterlichen) Dramenpoetik kommentiert, sodass die Mechanismen beider zutage treten.

 

Ähnlich wie in seinem Gestiefelten Kater diskreditiert Tieck jedoch das Märchen nicht als Gattung, sondern erschafft ein produktiv irritierendes Vexierspiel, das sich durch Uneindeutigkeit bei gleichzeitig klischeebelasteter Aufladung der Handlung auszeichnet. Während er im Gestiefelten Kater ein tendenziell parabatisches Spiel mit den Erwartungen, die an Märchen gestellt werden, betreibt, betont Tieck in seinem Blaubart stärker das typisch enigmatische Handlungsmovens der Märchenfiguren. Im Unterschied zur Vorlage lässt er die Leerstellen allerdings nicht unkommentiert, sondern füllt diese mit Widersprüchlichkeiten, die sein Verfahren wiederum ad absurdum führen. So bestätigt sein Vorgehen die unergründliche Figurenmotivation, die das Märchen vorgibt und vergrößert es spielerisch in dramatisch wirksamen Zirkelstrukturen.

Ludwig Tieck: Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie (1800/12)

In seiner nächsten Adaptation eines Märchens von Perrault, in diesem Fall Le Petit Chaperon rouge1, fügt Tieck dem Märchen erneut Figuren hinzu: Bekannte, auf die Rotkäppchen bei ihrem Spaziergang durch den Wald trifft, sowie neben dem Wolf weitere sprechende Tiere.2 Schon im Paratext kündigt sich erneut ein satirischer Zugriff an: Der auffällige Titel Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens. Eine Tragödie ist auf eine „ebenso selbstparodierende wie selbsttravestierende Kontrafaktur des christlich-poetischen Trauerspiels in mehrfachen Spiegelungen“3 aus. Allein indem Tieck einem ‚kleinen’ Märchen wie Perraults Le Petit Chaperon rouge im Paratext den Status eines Trauerspiels zuspricht, wird dem Märchen als Form ernsthafte Tragik zugetraut. Dies wird durch die Titulierung als Tragödie weiter betont und Rothkäppchen somit den großen Tragödien der Theatergeschichte generisch zugeteilt.

Im Umkehrschluss bedeutet diese Gleichsetzung aber auch eine spöttische Verkleinerung einer ‚erhabenen’ Dramatik und ihres Regelwerks. Statt fünf Akten gibt es bei Tieck daher konsequenterweise nur noch fünf Szenen und ausgerechnet ein kleines Rotkehlchen zitiert den griechischen Chor, indem es am Schluss eine Klage- und Jammerrede hält.4 Tieck gelingt es diesmal bereits durch den systemreferentiellen Verweis im Titel, eine strukturelle und inhaltliche Unangemessenheit zu etablieren.

Der Unterhaltungswert, der sich aus dem Abgleich von Tiecks Bearbeitung mit konventionellen Erwartungen an die Dramatisierung eines Märchens wie Le Petit Chaperon rouge ergibt, entsteht demnach vor allem, wenn dem Rezipienten das Märchen sowie die anzitierten Theaterformen bekannt sind, so Petzoldt einsichtig: „Eine Irritation des Lesers, der sich in seinen Erwartungen an den Text getäuscht sieht, so daß diese in Form metatextueller Reflexion selbst thematisiert werden, ist besonders wirkungsvoll und provokativ, setzt aber wie bei allen intertextuellen Referenzen die Kenntnis des Architexts wie auch des Prätextes und seine Profilierung durch einen ‚Codewechsel’ voraus.“5

Anders als im Gestiefelten Kater, wo im Fokus der Adaptation das Spiel im Spiel steht, und im Blaubart, wo die Ritterromantik für komische Brüche sorgt, ist Rothkäppchen weitgehend auf den Märchenstoff und die ironische Auseinandersetzung mit dem Trauerspiel ausgerichtet. Neben Formen der Albernheit trägt das Märchenstück jedoch auch durchaus ernsthafte Elemente in sich. So lassen sich kritisch-satirische Anspielungen auf die Französische Revolution ablesen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.6 Von Interesse ist vielmehr, wie vor allem die Figurenzeichnung von Rotkäppchen und dem Wolf weniger satirisch als tragisch ausfällt.

Dazu sollen die beiden Hauptfiguren exemplarisch näher vorgestellt werden, um in einem zweiten Schritt nachzuvollziehen, wie sich der freundlich gesinnte Spott ihnen gegenüber von Tiecks üblicher Kritik an gesellschaftlichen und künstlerischen Diskursen absetzt. Gerade in Rothkäppchen zeigt sich, so die Vermutung, dass sich Tieck nicht über das Märchen und sein Personal mokiert, sondern dass er mit dessen Hilfe zeitgenössische Konventionen hinterfragt. Rotkäppchen wird zunächst in der zweiten Szene als schlagfertige Siebenjährige7 eingeführt, die zwar altklug und kokett-sinnlich daherkommt, aber auch intelligent und von großer Unbefangenheit ist.8

Sie entzieht sich beispielsweise geschickt der körperlichen Übergriffigkeit des Jägers, ignoriert aber auch die Warnungen vor dem Wolf, dem sie am Ende zum Opfer fällt. Rotkäppchen sieht sich schon vorher mehrfach dem Vorwurf des Hochmuts ausgesetzt. So zum Beispiel durch einen Kuckuck im Wald, dessen onomatopoetischer Name in der vierten Szene sprachlich aufgegriffen wird, indem er ihr hinterherruft: „Kuck, kuck, kuck um dich mehr!“9 und „Kuck, kuck den Hochmut!“10. Obgleich sie die tödliche Gefahr im Wald nicht erkennt, erscheint Tiecks Rotkäppchen in Bezug auf ihr Umfeld als ausgesprochen scharfsinnig. Spöttelnd kommentiert sie das Verhalten ihrer Mitmenschen und bringt deren Unzulänglichkeiten und Bösartigkeiten auf den Punkt:

ROTKÄPPCHEN […]

Er hätte keine andre Braut getroffen,

Sie durfte auf keinen andern Bräutigam hoffen,

Drum halten sie viel voneinander mit Recht,

Und meinen nun jetzt sie wären nicht schlecht.11

ROTKÄPPCHEN […]

Der Vater war nicht gut aufgelegt,

Ich lief schnell fort, weil er manchmal schlägt, […]12

Tragisch wird Rotkäppchens Schicksal bei Tieck dadurch, dass hier ein junges Mädchen charakterisiert wird, das klug, eigenwillig und selbstbewusst ist. Nicht weil es dumm oder naiv, sondern weil es aufgeweckt ist, entzieht es sich den Zurechtweisungen der anderen und kommt daraufhin zu Tode. Hier setzt sich die Märchenadaptation von der Vorlage wirkungsvoll ab: Während das Märchen an sich nicht tragisch ist, gewinnt Tiecks Adaptation tragische Züge; dennoch bleibt Tiecks Adaptation dem Märchen insofern treu, als dass sie keine vollständig individuellen Charaktere zeigt. Die Figuren bleiben fragmentarisch und entwickeln sich nicht weiter.13

Die kritischen Anspielungen auf fragwürdige Erziehungsmethoden lassen sich anhand der Darstellung des Wolfes noch genauer verfolgen. Dessen Schicksal ist bei Tieck mindestens ebenso tragisch wie das von Rotkäppchen, denn im Unterschied zu ihr hat sich der Wolf zunächst die größte Mühe gegeben, sich dem Menschen zu unterwerfen.14 Nachdem ihm dennoch nur mit Misstrauen und Aggression begegnet und seine Liebste, die Wölfin Elisa, brutal vertrieben wurde, muss der Wolf einsehen, dass ihm trotz aller Bemühungen und Qualen kein sozialer Aufstieg möglich ist. Er geht zum Gegenangriff über:

WOLF […]

Seitdem ist aber auch mein Plan,

Unheil zu stiften, so viel ich nur kann;

Seitdem tut mir nichts gut,

Als nur der Anblick von Blut.

Ich will alles Glück ruinieren,

Dem Bräutigam seine Braut massakrieren,

Die Kinder von den Eltern trennen,

[…]15

Trotz dieser eher tragischen Töne sorgt Tieck dafür, dass die „verulkende Kontrafaktur“16 auch hier nicht zu seriös wird: Der Wolf spricht pathetisch im lächerlich anmutenden Versmaß, während Rotkäppchen saloppe und ‚falsch’ klingende Paarreime zugewiesen sind. Spätestens wenn das Mädchen die berühmtesten Sätze des Märchens mit dem Wolf tauscht, gehen Tragödie und Komödie eine Symbiose miteinander ein:

ROTKÄPPCHEN Es wollten zu Hause die beiden Alten,

Daß ich die Nacht bei dir bleiben sollte.

WOLF Das war es, was ich selber wollte. […]

ROTKÄPPCHEN […] Ei Herr Je! Was hast du für ’nen großen Mund!

WOLF Desto besser er dich fressen kunnt!17

So sind selbst die tragisch konnotierten Figuren nicht vor freundlichem Spott gefeit, auch wenn sich die Kritik vor allem gegen die aufgeklärten Erziehungstraktate richtet. Manfred Frank konstatiert folgerichtig, „dass Tieck vor allem der flach optimistischen, spießig verständigen Aufklärungs-Pädagogik, die die Angst für etwas a priori Irrationales hält und die wilde Natur verharmlost, einen lachenden Denkzettel zu verpassen gedenkt, der freilich auch über das Ideal des edlen, etwas sanskulottisch in der Wolle gefärbten Wilden (im Wolf inkarniert) das Lachen nicht zurückhalten kann“18.

Oder wie Tieck es eine Figur im Phantasus über Rothkäppchen resümieren lässt: „Es schien mir, daß die Parodie der Tragödie hier mit der Tragödie selbst zusammen fallen könne.“19 Die tragikomischen Züge des Wolfes und Rotkäppchens sind sich auch insofern ähnlich, als dass beide gerade durch ihre Verweigerung dem Schicksal unterliegen, dem sie entfliehen wollten: Rotkäppchen wird Opfer einer gewalttätigen und ungerechten Strafe, der Wolf am Ende des Stückes von einem Menschen vernichtet. Tieck schafft eine allegorische Kritik der Dialektik der Aufklärung, indem er sie als Tragödie inszeniert. Diese Tragödie unterläuft er zugleich mit einer generischen Subversion durch komödiantisch-lächerliche Darstellungen; in seiner launigen Märchenbearbeitung dramatisiert er auf diese Weise ein postrevolutionäres Einhergehen von scheinbarer ‚Liberalität’ und ängstlicher Intoleranz.20

Wie im Falle des Gestiefelten Katers und des Blaubarts wird mitnichten eine Märchensatire im Sinne einer kritischen Märchenbetrachtung betrieben, vielmehr richtet sich der Spott mithilfe der Märchengattung gegen zeitgenössische Erziehungsdiskurse, systemreferentiell gegen eine poetisierte Legendendramatik sowie explizit gegen die Regelpoesie der Tragödie.21 Bei Tiecks Rothkäppchen handelt es sich um eine im poetologischen Sinn selbstreferentielle und darüber hinaus um eine vielfältige intertextuelle Adaptation, die ihre Sympathie für die märchenhafte Vorlage durchweg aufrecht erhält.

Ludwig Tieck: Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen (1811)

Tiecks letztes Märchendrama basiert auf einem sehr ähnlichen Bearbeitungsverfahren wie die vorherigen; daher gehe ich hier nur überblickartig darauf ein, wie sich Gemeinsamkeiten und Abweichungen äußern. So geht Däumchen anders als in den anderen drei Adaptationen auf verschiedene literarische Vorlagen zurück.1 Ähnlich aber wie in Rothkäppchen deutet sich schon im Titel eine Persiflage auf eine religiös motivierte Poetik der Legendendramatik an.2 Die Parodie in Form eines dreiaktigen Märchendramas ironisiert weiterhin heldenhafte Ritterdramen wie im Blaubart – hier durch die Darstellung einer im Zerfall begriffenen Artus-Runde, in der Artus als hilfloser König Preußens fungiert.3 Weiterhin hat Tieck im Vergleich zu Perrault wieder Figuren hinzugefügt (zum Beispiel den Hofrat Semmelziege), unpersonifizierte Figuren individualisiert und Beziehungen unter ihnen neu erfunden.

Generell lassen sich drei Handlungsebenen unterscheiden: So wird, wie im Paratext angekündigt, das Märchen nach Perrault erzählt – Däumchen stiehlt einem riesenhaften Oger seine Siebenmeilenstiefel, als er von seinen Eltern ausgesetzt wird und verhilft schließlich dem König durch die magischen Fähigkeiten der Stiefel zum Sieg. Weiterhin dienen Motive aus der Artus-Sage zur Persiflage der Regierung Friedrich Wilhelms III., da die Stückhandlung in dessen Kriegszeit versetzt wird. Die Okkupation durch Napoleon wird angedeutet und die Unfähigkeit des Königs von Preußen, der von einem zwergenhaften Däumchen gerettet werden muss, herausgestellt.4

Neben diesen intertextuellen, ironischen Anspielungen auf Prätexte, Gattungen und historisches Inventar finden sich drittens gesellschaftssatirische Momente. Gut nachzeichnen lässt sich diese an der Figur des Hofrats Semmelziege: Dessen eigentlich niedere Motivationen und die banalen Zänkereien mit seiner Ehefrau werden durch seinen unangemessen erscheinenden elaborierten Sprachgebrauch der Lächerlichkeit ausgesetzt. Gegenstand des Spotts in Tiecks selbstbezüglicher Literatursatire ist die Gräkomanie.5 Semmelziege, der sich in jambischen Trimetern, dem Versmaß der griechischen Tragödie ausdrückt, wird zu deren Vehikel:

SEMMELZIEGE O Göttersöhne, Jugendfreunde, Weisheitsbrüder,

Du, Hoher, mit dem Klang der süßen Lieder,

Du, Großer, mit dem tiefen Spähersinn,

 

Wißt und erfahrt, der Hofrat ist dahin,

Ein Sklav, gefangen, schlimmer noch als tot,

Bin ich dem Wüttrich dort nur Pierrot.

ALFRED Ich verstehs nicht, explizier dich deutlicher.

PERSIWEIN Du siehst aus wie vom Theater, und doch nahm dein Genie ehemals einen höhern Schwung.

SEMMELZIEGE Hätt’ ich erfahren nie, was Schwung bedeutet!

Wie schön auf sichrer ebner Erde wallen!

Weh mir, ob diesem Streben nach der Höhe!

ALFRED Also bist du kuriert und ein vernünftiger Mensch geworden?

SEMMELZIEGE O Freund, dahin auf ewig sind die Tage,

Als ich des Adlers Fittich mir gewünscht,

Das Morgenrot zu rühren mit dem Scheitel,

Erfüllung übervoll der Jugendtriebe

Ward mir, die Liebe fand die Gegenliebe.

ALFRED Das halte der Henker aus. Kerl, laß dich doch in verständliches Deutsch übersetzen.6

Tiecks Märchenstück weist viele derartige Reminiszenzen auf ästhetische Diskurse um 1800 auf. Neben der besagten Kritik am Gräzisieren folgt weitere an der etwa von Schiller im Drama praktizierten Antikenrezeption oder der von Tieck mitbegründeten Begeisterung für das Mittelalter.7 Bei Däumchen handelt es sich demnach um eine vielschichtige und satirische Vermischung der Epochen Mittelalter, Klassizismus, Aufklärung und Romantik.8 Es findet sich eine Fülle an philosophischen, naturwissenschaftlichen, poetologischen, literatursatirischen und persiflierenden Formzitaten;9 zudem gibt es ungewöhnlich viele Nebenschauplätze, und auch die Einheit von Ort, Zeit und Raum wird außer Kraft gesetzt.

Die märchenhaften Züge werden wiederum durch den Einbruch realistischer Perspektiven betont und gleichermaßen gebrochen, wenn zum Beispiel die fachlich-handwerkliche Überprüfung der wundersamen Siebenmeilen-Stiefel mit pseudo-historischer Ursprungsklärung vorgenommen wird.10 Trotz der mannigfaltigen Bedeutungsebenen und -brüche bleibt das Märchen wie in den anderen Märchendramen als primärer Bezug immer sichtbar.

Im Vergleich zum Gestiefelten Kater, der mit Däumchen auf Märchenebene inhaltlich und durch die Anspielungen auf den preußischen König in politsatirischer Hinsicht Parallelen aufweist, fällt die theatersatirische Dimension weniger ins Gewicht. Stattdessen ist der Ton der Bearbeitung in Bezug auf die zeitgenössischen Anspielungen generell schärfer, wie auch Scherer bemerkt:

Das Däumchen ist drastischer in der Erfassung von Elend, Armut, Not, zeitgeschichtlich konkreter kontextualisiert und hierbei auch expliziter in der Erwähnung von Kriegsgewalt, hinsichtlich der Formverulkung […] transparenter in der Satirisierung der Figuren, weniger transparent indes mit Blick auf die allegorische Begründung, skeptischer und resignativer insgesamt im Vergleich zur einst noch geglaubten Produktivität romantischer Poesie.11

Demnach radikalisiert Tieck in diesem späten Werk seinen früh angelegten Umgang mit Märchen – er nutzt das Märchen mit seiner charakteristischen Veranlagung zur Überzeichnung bei gleichzeitiger formaler Eindeutigkeit als artifizielle Ausdrucksform. Auf diese Weise werden künstlerische und künstliche Konventionen als solche transparent gemacht. Indem Tieck neben der Form des Märchens auch die dramatische wählt, wirkt die transformierende Verbindung von märchenhafter und theatraler Illusion implizit. Auch ohne ein parabatisches Verfahren, wie es Tieck in seinen anderen Märchendramen noch einsetzt, wird hier die Künstlichkeit der Märchenform offengelegt und im satirischen Drama als Instrument der Kritik eingesetzt.