Das Märchen im Drama

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From the series: Forum Modernes Theater #55
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Christian Dietrich Grabbe Aschenbrödel: Dramatisches Märchen (1829/35)

In seiner satirischen Dimension sehr viel eindeutiger zeigt sich wenig später Grabbes Bearbeitung von Cendrillon ou la petite pantoufle de vair.1 Das Motiv des Aschenbrödels, das damals immer wieder in Unterhaltungsstücken und Opern aufgegriffen wird, enthält bei Grabbe mannigfaltige Kritik an einer Gesellschaft, die in der Darstellung des Autors von Habgier und Materialismus geprägt ist.2 Bereits Perraults Vorlage und andere verwandte Bearbeitungen weisen das Motiv des gesellschaftlichen Strebens nach einer lukrativen Heirat auf, das von Grabbe mit zynischem Humor verstärkt wird: „Wie ein Perrault-Märchen zum Ausgangspunkt eines szenischen Spiels gemacht werden kann, in dem neben der Welt des Wunderbaren auch satirisch gespiegelte Realitätsfragmente Platz haben können, das hatte Tieck vorgemacht […]. Hier konnte Grabbe anknüpfen.“3

Im Vordergrund der Handlung steht ein Baron mit seiner neuen Frau und deren zwei Töchtern, die sein Geld verprassen, sodass er erhebliche Schulden bei dem Bankier Isaak aufnehmen muss. Des Barons Tochter aus erster Ehe, Olympia, muss ihnen in Aschenbrödel-Manier dienen. Schließlich gibt der König einen Ball, auf dem der Rüpel in königlicher Kleidung auftritt, sodass sich der König inkognito nach einer nicht opportunen Frau umschauen kann. Dort verliebt er sich in Olympia, die sich gleichfalls unerkannt unter die Feiernden gemischt hat.

Inhaltlich interessiert Grabbe dabei vor allem das Thema der Wahrheitssuche. So liegt der Fokus darauf, dass Olympia sich ihr Glück mit dem König verdient, indem sie hinter die Fassade schaut und dem wahren König trotz seiner Verkleidung ihre Zuneigung schenkt. Vorbereitet wird diese Perspektive unter anderem durch einen Dialog zwischen dem König und seinem Berater Mahan, aus dem hervorgeht, dass im Umfeld des Königs Oberflächlichkeit und Heuchelei vorherrschen:

KÖNIG Der Narr und Krüppel soll den König spielen.

MAHAN Erlaubst Du es, wird es Dich gar ergötzen.

Seh’n wirst Du wie er auch als König Narr bleibt.

Und doch für weise gilt. Verschwinden wird der

Hocker, der ihm drückt den Rücken,

Dazu für modisch noch erklärt. Verachtet wirst du

an seiner Seite stehen, – wenn

Du redest, kaum ein mitleidsvoller Blick

Dich treffen.4

Auf dem Ball unterhalten sich der Rüpel als vermeintlicher König und der verkleidete König mit Olympia sowie ihren Stiefschwestern Louison und Clorinde über ein Schauspiel, das gerade gegeben wurde. Dieses wird von den Stiefschwestern mit schmeichelhaften Beschreibungen gelobt. Nur Olympia sagt frei heraus, dass ihr das Stück nicht gefallen habe und begeistert mit ihrer Ehrlichkeit den König, der ebenfalls keine hohe Meinung von dem Schauspiel hat.5 Weitere Unterstützung findet die aufrechte Olympia bei ihrer Patin, der Feenkönigin, die jener mit ihrem Gefolge aus Feen, Gnomen und den von ihr verwandelten Tieren erst einen märchenhaften Auftritt auf dem Ball und schließlich die Ehe mit dem König beschert. Komisch-absurde Szenen entstehen vor allem durch die von der Feenkönigin verwandelten Tiere; so behält etwa eine zu Olympias Kutscher mutierte Ratte ihr tierisches Wesen bei.

Ebenso wie bei Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (1822-27) handelt es sich bei seinem Aschenbrödel um ein von Tieck beeinflusstes satirisches Lustspiel, das sich ebenfalls kritisch mit zeitgenössischer Literatur auseinandersetzt. Im Hinblick auf eine satirische Betrachtung der Literaturszene ist Grabbes erste Fassung des Märchendramas von 1829 allerdings sehr viel reichhaltiger, da er sich hier noch mit ironischen Kommentaren explizit über die stilistischen Eigenarten seiner literarischen Zeitgenossen lustig macht (unter anderen über Karl Immermann und August von Platen).

Indem Grabbe die desillusionierenden und romantisch geprägten Satiremomente in seiner finalen Fassung zugunsten einer unironischen Märchenerzählung tilgt, wird auch die ursprüngliche Intention, ein satirisches Lustspiel zu verfassen, verdeckt.6 Erhalten blieben nur einige wenige Passagen, in denen sich Grabbe über die deutschsprachige Literatur echauffiert. So unterhält sich der Baron etwa mit dem Kutscher (der verwandelten Ratte) und zwei Herren auf dem Ball des Königs:

ALTER HERR […] Interessiert Sie auch unsere, etwas zurückgebliebene, magere, deutsche Literatur?

KUTSCHER Mager? Es ist die dickste.

ALTER HERR Sie beschäftigen sich damit?

KUTSCHER Ich fresse sie.

BARON Das ist ’ne Metapher! aus Roastbeef!

ALTER HERR Deutschlands Literatur wird im Auslande endlich anerkannt? So werden wir bald auch bei uns gelten, und unser rohes Gold wird gut gemünzt zu uns zurück kommen, und courant werden: Schiller durch Benjamin Constant, Goethe durch Carlyle – Sie lieben vorzüglich?

KUTSCHER Die Folianten über den westphälischen Friedenschluß, Zepernickii repertorium iuris feudalis, Muelleri promtuarium, und dergleichen, – das jetzige Zeugs in Octav oder Duodez freß’ ich nur wie dieses, (er schluckt einen Band von Renilworth herunter) aus Noth, es ist zu klein und sättigt nicht.7

Seltene Szenen wie diese stehen für Grabbes typische „Dekonstruktion idealistischer Philosophie und Lebenshaltung, […] extrem groteske, ja surreale Szenen und komisch-clowneske Figuren“8. Dieser Charakter hat sich jedoch in der Dramenfassung von 1835 (die auch als Aschenbrödel II geführt wird) unter dem Einfluss von Immermann als Lektor weitgehend verloren.9 Ladislaus Löb ordnet Grabbes Aschenbrödel II nicht zuletzt daher als eines seiner schwächeren Werke ein und klassifiziert es als eine unausgewogene „Mischung aus Märchenspiel, Gesellschaftskritik und Literaturkomödie“10.

Im Vergleich mit Platen und Gozzi fällt auf, dass Grabbe ebenfalls mit Kontraststrukturen arbeitet, doch basieren diese nicht mehr auf der Gegenüberstellung von komisch-bürgerlichen und ätherisch-adeligen Figuren. Stattdessen stützen sich Grabbes dramatische Konflikte auf den Dualismus von moralischer Integrität einzelner Figuren auf der einen und dem rüde anmutenden Fehlverhalten ihrer Antagonisten auf der anderen Seite. Die Figur Aschenbrödel ist bei Grabbe durch ihre Gesten der Bescheidenheit und Pietät ungebrochen positiv konnotiert. Auch ihr Vater, der unter der Verschwendungssucht seiner Ehefrau leidet, und der König, den die falschen Schmeicheleien seiner Untertanen ermüdet haben, werden als aufrechte und verständige Charaktere etabliert.11

Im Gegensatz zu Platens Märchenadaptation erschöpft sich Grabbes Lustspiel nicht darin, dass rangniedere Figuren ein märchenhaft entrücktes Gebaren am Hof mit gutmütigem Spott kommentieren. Vielmehr macht sich Grabbe spezifische Märchenelemente zu Nutze, mit denen er eine materialistische Ausrichtung der Gegenspieler Olympias scharf kritisieren kann. Auch noch in Aschenbrödel II verurteilt Grabbe heuchlerisches und raffgieriges Gebaren sehr viel zynischer und entlarvender als Platen, wie ich im Folgenden zeigen möchte.12

Im Stück entwickelt sich die Satire, indem die in Menschen verwandelten Tiere die scheinbare Kultiviertheit und moralische Souveränität der tatsächlichen Menschen als gesellschaftliche Maskierung des Primitiven und Gierigen entlarven. Wenn sich Katze und Ratte nach ihrer Verwandlung in Olympias Bedienstete unerkannt als Fressfeinde umkreisen, die Ratte als Kutscher absurde Gespräche mit den nichts ahnenden Ballgästen führt und sich unangebracht gebärdet, rutscht Grabbes Stück in die Nähe der Buffonerie der Commedia dell’arte und gewinnt groteske Züge.13 Der spöttisch-scharfe Zugriff zeigt sich demnach darin, dass der Mensch immer wieder implizit auf das Animalische herabgestuft wird, wenn sich Tiere unerkannt als Menschen ausgeben können.

Die Einführung animalischer Figuren beruht auf einer langen Tradition satirischer Literatur in Europa; anders als etwa in der Fabel suggeriert diese hier jedoch nicht die Menschenähnlichkeit, sondern gerade die Fremdheit der tierischen Position.14 Im Vergleich zu Platens Adaptation verschiebt sich bei Grabbe hier der Gestus der Abgrenzung: Nicht mehr gesellschaftlich ‚niedere’ und ‚höhere’ Figuren werden einander gegenübergestellt, stattdessen wird eine antiprimitive Distinktion etabliert, die sich gegen Charaktere aller Schichten richtet.

So werden etwa auf der einen Seite die Stiefmutter von Olympia und ihre Töchter als vulgär, unmoralisch und eigennützig dargestellt – eine Lesart, die bereits in der Vorlage von Perrault dominant ist. Auf der anderen Seite erfindet Grabbe die Figur des jüdisch-bürgerlichen Schuldeneintreibers Isaak, der ähnlich charakterisiert wird. Wenn die zum Kutscher mutierte Ratte am Ende einen wertvollen Scheck auffrisst, um den Isaak im Verlauf des Stückes vergebens gerungen hat, wirkt dieser durch seine wüsten Proteste ebenso tierisch wie das verwandelte Tier:15

RÜPEL Tödt’ doch Niemand um lumpiges Geld, Isaak!

ISAAK Lumpig? Achtzigtausend Thaler machen sich schwer zusammen, und ein Mensch ist gemacht sehr leicht, – man kann einen bekommen um einen Pfennig, oft gar umsonst – Mit 80,000 Thalern kannst Du in Deinen Staaten binnen einem Jahre machen lassen eine Million Kinder! (Dringt wieder mit dem Messer nach dem Kutscher […]).

KUTSCHER hin und her retirierend Hülfe –

(Er stürzt Clorinden an die Brust.)

CLORINDE (macht ihn von sich los:) Laß mich, Ungethüm!

ISAAK Ich stehe hier auf meinen Schein! Ich will den Schein!

RÜPEL Haltet den Shylock am Bart! Es ist kein Spaß, er bringt den Kerl um!

 

(Isaak wird am Bart gepackt.)

ISAAK Den Bart abgeschnitten! – So nun bin ich wieder frei! – Den Schein!

RÜPEL Ich lasse dich erschlagen, eher Du den Menschen aufschneidest.16

Isaak erinnert dabei an die überdrehten Typen der frühen Commedia dell’arte und ihr teils triebgesteuertes Verhalten. Die Figur ist ein unzerstörbares Stehaufmännchen: Mit ihm wird das Märchenpersonal durch eine „farcial figure, the comic Jew“, der „grotesque and frightening“17 ist, ergänzt. Sein widernatürliches Wesen zeigt sich bereits, als er wiederholt an der Hauswand des Barons hochklettert und unverletzt bleibt, wenn er aus dem zweiten Stockwerk gestoßen wird.18 In ihm, dem ‚Unmenschen’, der als unbequemer antisozialer Schädling präsentiert wird, spiegeln sich die in Menschen verwandelten Tiere des Märchens. Beide erscheinen gleichermaßen unpassend animalisch. Die Ratte wird zum Kutscher, Isaak hingegen kriecht bei Grabbe wie Ungeziefer aus dem Kamin, um in das Haus seines Schuldners zu gelangen.19 So spiegeln sich die Gelüste der in Menschen verwandelten Tiere in den Begierden der getriebenen Menschen.20

Die Wirkung solcher Figuren verdankt sich vor allem der abweichenden, misanthropischen und dramatisch vergrößerten Darstellung der bekannten Märchenvorlage und seiner Liaison mit der Buffonerie des Theaters. In seiner märchenhaft-absurden Übertreibung erlangt Grabbes Aschenbrödel eine satirische Qualität, die auf der übernatürlichen Handlung und den Stereotypen des Märchens einerseits und auf dessen narrativen Leerstellen andererseits fußt. Letztere bedingen sich durch die reduzierte Erzählweise des Märchens, das viele seiner übernatürlichen Handlungsmomente nicht weiter kommentiert. Diese nicht weiter erläuterten unrealistischen Vorkommnisse bieten sich Grabbe für eine dramatische Ausformulierung und Interpretation geradezu an.

An Grabbes Drama lässt sich ablesen, was Jens Roselt als „ironisches Distanzierungsverfahren“ und dessen „widersprüchliche Bewegung des impliziten Dementis“ bezeichnet – indem sich Grabbe des Märchens annimmt, „um sich gleichzeitig von diesem zu distanzieren“21. Es entsteht eine Verbindung von Kontrasten und Widersprüchlichem der verschiedenen Gattungen, indem sich der Autor Merkmale mit ironischem Gestus aneignet. Das satirische Moment zeigt sich dabei durchaus skeptisch gegenüber Konventionen und ist durch Relativierung und Subversion gekennzeichnet.22 Grabbe nutzt die märchenspezifische Lakonie, um eine originelle und zynische Lesart durchzusetzen, die – das Wortspiel sei mir verziehen – einen Rattenschwanz an gesellschaftskritischer Satire nach sich zieht. Auf diese Weise tritt eine Nähe zum Volkstheater zutage, die sich in Grabbes Adaptation als eine Affinität zu hyperbolischen Effekten, zur Groteske und zu stilistischen Brüchen sowie als Destruktion von ästhetischen Formen und Regeln bemerkbar macht.23 Dies gelingt hier vor allem mit der satirischen Fortschreibung der märchenhaften Überzeichnung und Schematisierung.

Trotz seiner Nähe zum Volkstheater hat der Humor von Grabbe, der von Roy C. Cowen auch als ein „Meister des Grotesken und Tragikomischen“24 bezeichnet wird, oft nichts Heiteres wie bei Platen, sondern ist verzweifelt, desillusioniert und voller Verachtung. Zwar ist die Verwandtschaft von Aschenbrödel zu Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung durch die Streichungen verborgen, doch wenn Grabbe letzteres ein „Lachen der Verzweiflung“25 nennt, trifft dies auch wesentlich auf sein Märchenstück zu.26 Auch die Hauptfiguren in Aschenbrödel stellen die Karikatur einer unzulänglichen und verblendeten Gesellschaft dar.27 Obgleich vor allem in der ersten Fassung eine potentiell vielschichtige Anlage und einzelne gelungene Szenen vorhanden sind, konnte Aschenbrödel seinerzeit nicht überzeugen und wird auch heute noch für seine insgesamt eher ungeschickte Handlungsentwicklung kritisiert.28 Nichtsdestotrotz schließt Grabbes Märchenadaptation in den aufgezeigten Aspekten eloquent an die von Gozzi und Tieck begründete Gattung des satirischen Märchendramas an.

II.2 Ausnahmen und Gegenbewegungen

Nach Platen und Grabbe pausierte die satirische Märchenbearbeitung in der deutschsprachigen Dramatik mit Ausnahme von Robert Walsers Lesedramen für etwa ein Jahrhundert. Nennenswert sind allerdings zwei Märchenadaptationen des Österreichers Johann Nestroy im Wiener Volkstheater: 1832 entsteht dessen Satire Nagerl und Handschuh oder die Schicksale der Familie Maxenpfutsch. Neue Parodie eines schon oft parodierten Stoffes in 3 Aufzügen, die sich auf zwei zeitgenössische Aschenbrödel-Opern bezieht. Vier Jahre später schreibt er die märchenhafte Posse Die beiden Nachtwandler oder Das Notwendige und das Überflüssige, welche inhaltlich sehr verwandt mit Grimms Das Märchen vom Fischer und syner Frau ist.

Grundsätzlich handelt es sich jedoch bei Nestroys Märchenstücken um Parodien der Werke seiner Zeitgenossen und weniger um eine direkte Adaptation der Märchen. So geht etwa die Wahl der Märchen nicht auf ihn selbst zurück; vielmehr bedient er sich der Stoffe, die seine Kollegen und Kolleginnen für sich entdeckt haben und greift diese auf, um sich ironisch mit einer zeitgenössischen Theaterästhetik und der Wiener Gesellschaft auseinanderzusetzen. Durch die direkte Übernahme seinerzeit populärer Bühnenstoffe wirkt die intendierte Satire noch unmittelbarer, da die konkreten Bezüge so nicht zu übersehen sind. Es wäre aber verfehlt, Nestroys Märchenoperparodien mit den Märchensatiren von Tieck, Platen und Grabbe in eine direkte Linie zu stellen.1

Der auffällig lange dramenliterarische Dornröschenschlaf wurde zwar um 1900 durch ungewöhnlich viele Märchenbearbeitungen im Drama unterbrochen, allerdings sind diese oft durch den Symbolismus bzw. durch den charakteristischen mythischen Ausdruck einer literarischen Neoromantik geprägt.2 Diese sympathisieren im Zuge einer Besinnung auf die ‚deutsche’ Kultur mit Mystik und Metaphysik.3 Hierzu zählen Eberhard Königs Gevatter Tod (1900), Herbert Eulenbergs Ritter Blaubart. Ein Märchenstück in drei Aufzügen (1905) und Hans Schönfelds Joringel und Jorinde. Ein Märchenspiel in 5 Akten (1922), die direkte Märchenadaptionen sind. Die genannten Märchenstücke sind im Unterschied zu vorherigen Bearbeitungen durch keinerlei satirische Komponenten gekennzeichnet.

Stattdessen handelt es sich um dramatische und ungebrochene Nacherzählungen der jeweiligen Märchen, die alle einen ausgeprägten Hang zur Verinnerlichung, formal zu allegorischen Szenen und inhaltlich zu transzendenter (Selbst-)Erfahrung der Figuren aufweisen.4 Die Autoren suchten „keine Objektivität […], sondern Weltanschauung, nicht überklugen Materialismus, sondern Mystik, nicht Tagespolitik, sondern Ewigkeitswerte, nicht Wirklichkeit, nicht Arbeiterelend, sondern Vornehmheit und Pracht, nicht Häßlichkeit, sondern Schönheit, nicht Abklatsch der Wirklichkeit, sondern Stilisierung, nicht Alltag, sondern Außergewöhnliches“5, so fassen es Jost Hermand und Richard Harmann treffend zusammen.

Diese lyrischen Märchendramen stellen eine evidente Ausnahme, wenn nicht sogar eine erhebliche Gegenbewegung zu satirischen Bearbeitungen dar – die These, dass Märchenbearbeitungen im Drama eine Affinität zu satirischen Formen aufweisen, ist daher nur eingeschränkt gültig. So ist zwar bei späteren Märchendramen, auf die ich noch eingehen werde, eine auffällige Tendenz zur satirischen Adaptation zu beobachten, allerdings werden die gerade genannten Werke in diesem Sinne nicht greifbar und bilden demnach eine partiell eigenständige Traditionslinie. Ob sie andere typische Züge, die bei Märchendramen vermutet werden, aufweisen, wird in den folgenden Kapiteln überprüft werden.

II.3 Weil sie nicht gestorben sind – Wiederkehr der Märchensatiren im 20. Jahrhundert

Die satirischen Tendenzen im 20. Jahrhundert stellen sich teils als neue Märchenadaptationen (Walser und Loher) dar und teils als Reminiszenz an frühere Werke von Autoren, die bereits Märchendramen verfasst haben (Dorst und Mosebach). Auffällig oft kommen in diesen Werken zudem satirische Elemente vor, die in unterschiedlicher Ausprägung in der Tradition der Märchensatire von Gozzi und Tieck stehen. Auf diese Überschneidungen möchte ich nun eingehen, denn es scheint, als würden beide Autoren auch weiterhin grundlegende Charakteristika der Märchensatire anregen. Zu diesen zählen vor allem die Aneignung narrativer Leerstellen, die Reflexion von Märchen- und Theaterkonventionen und deren immanenten Illusionsmechanismen. Auffällig oft kommt es aufgrund der spezifischen Typisierung im Märchen auch in den jüngeren Adaptationen zu einer satirischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Gesellschaftsdiskursen – so die zu verifizierende Vermutung.

Zunächst gehe ich auf Robert Walsers Werke Schneewittchen und Aschenbrödel von 1901 sowie Dornröschen von 1920 ein, auf die erneut eine ungewöhnlich große zeitliche Lücke im Korpus der deutschsprachigen Märchendramen folgt. Erst 1964 entsteht die nächste Arbeit, als Tankred Dorst mit Der Kater oder Wie man das Spiel spielt Tiecks Gestiefelten Kater modernisiert. Wiederum 22 Jahre später nimmt er sich des Märchens Eisenhans in seinem Grindkopf an. Die unterschiedliche Ausrichtung und Ausprägung der satirischen Elemente werde ich im Folgenden betrachten. Im Anschluss wird Martin Mosebachs heute eher unbekannte Adaptation des Blaubarts von 1985 vorgestellt und seine Bearbeitung von Rotkäppchen aus dem Jahr 1988.1 Weiterhin untersuche ich Dea Lohers Blaubart – Hoffnung der Frauen von 1997.

Meine Betrachtung der Theatertexte konzentriert sich auf die nachweisbaren Satireelemente und hat nicht den Anspruch, allen Aspekten der Dramen gerecht zu werden. Eine tiefere Auseinandersetzung kann in vielen Fällen in diesem Kapitel nicht geleistet werden; doch versuche ich, die wesentlichen Merkmale der einzelnen Stücke im Zusammenspiel aller Kapitel vorzustellen, sodass in toto ein komplexer Eindruck ihrer Tendenzen und Eigenarten entstehen kann.

Robert Walser: Schneewittchen (1901), Aschenbrödel (1901) und Dornröschen (1920)

Obwohl Robert Walsers Märchendramen ungefähr in der gleichen Zeit wie die Werke von Eberhard König, Herbert Eulenberg und Hans Schönfeld entstehen, sind sie im Hinblick auf ihre ironischen Komponenten sehr viel ausgeprägter veranlagt. Dennoch lassen sich diese nicht als reine Satirestücke bezeichnen; wie auch Katalin Horn erkennt, bewegen sich Walsers Märchenstücke zwischen romantischer Affirmation und distanzierter Parodie.1 In Walsers Arbeiten dominieren andere Wesenszüge mehr als die parodierenden, dennoch zeugen sie von einem sehr hintergründigen Humor, auf den ich in diesem Rahmen eingehen möchte.2 Dieser entsteht vor allem durch die kontrafaktische und travestierende Behandlung eines Märchens, was nach Dieter Borchmeyer kennzeichnend für Walsers Adaptationsverfahren ist.3

In seinem Märchenstück Schneewittchen tritt Walsers ironischer Tonfall vor allem hervor, wenn die vordergründige Naivität der Figuren derartig überspitzt erscheint, dass sie als künstlich entlarvt wird.4 Walser zeigt hier Charaktere, die zu allen bekannten und hinzugefügten Wendungen des Märchens eine unkritisch-bejahende Haltung einnehmen. Vor allem Schneewittchen vergibt ihrer Stiefmutter und dem Jäger, der sie töten sollte, mit einem beinahe pathologisch anmutenden Großmut. Ferruccio Masini beobachtet konzise, „daß die Welt hier gleichsam kaputtgelobt wird. Das Positive schlägt ins Gegenteil um“5. So stellt Walser gerade durch die auffällig übertriebene Affirmation seiner Protagonistinnen und Protagonisten die ansonsten unhinterfragte Motivation der Märchenfiguren zur Disposition.

Doch obwohl sich in Schneewittchen und den anderen Stücken eine kritische, teils gar zynische Lesart einer naiven Märchenrezeption verfolgen lässt, wird der Märchenstoff nicht explizit parodiert.6 Stattdessen zeigt sich Walsers ironischer, teils satirischer Zugriff konstitutiv in der Grundsituation seiner Märchenbearbeitungen. Dabei bleibt bei Walser partiell unklar, ob er eine rein ironische oder teils affirmative Haltung zu den Konventionen des Märchens einnimmt.7 Gerade diese Unklarheit der Darstellung verstärkt jene Spannung, die der Satire als Form zu eigen ist. Das Satirische zeigt sich hier als Widerstandsfigur gegen die Dominanz der Logik des Entweder-Oder, das stets die Bedingung des ‚Endoxen’ aufweist, um sich von ihr distanzieren zu können.8

 

Diese Ambivalenz lässt sich auch in Walsers Aschenbrödel beobachten. Hier wird die gleichnamige Protagonistin von dem Prinzen und dem in persona auftretenden Märchen genötigt, die ihr vorgeschriebene Rolle als Braut des Prinzen zu übernehmen, obwohl sie sich in ihrer vorherigen Position in Walsers Lesart des Märchens besser fühlt.9 Am Ende jedoch unterwirft sie sich dem scheinbar vorgegebenen Verlauf des Märchens und heiratet den Prinzen:

PRINZ Nun, nun, beruhige dich. Ich weiß,

jetzt gehst du, legst das Kleid dir an,

das Märchen dir beschieden hat.

So Süßes war dir vorbestimmt,

und du entkommst der Fessel nicht,

so sehr zehntausend Launen sich

in dir dagegen sträuben. Darf

ich dich geleiten bis zur Tür?

Sie stehen auf.

Sieh, es wär’ schade doch für dich.

Die Feinheit, die du an dir hast,

bestimmt dich zur Gemahlin mir.

Du weinst?

ASCHENBRÖDEL Weil ich dir folgen muß, und weil

trotz dem Gesagten ich so gern

dir fürder folgen will.

PRINZ Ich bitte recht, recht sehr.

[…]

ASCHENBRÖDEL Zu dienen, Herr.

PRINZ Ach du! Nein, oh wie – -

Er springt ihr gegen die Treppe entgegen.

ASCHENBRÖDEL Ja, ja.10

Das vormals glückliche Ende des Märchens erscheint somit ambivalent und ironisch umkodiert. Dabei hinterfragt Walser nicht nur die tradierte Lesart eines glücklichen Märchenendes, sondern auch die häufig künstliche Herbeiführung eines Happy Ends in den komödiantischen Theaterstücken seiner Kollegen, wie Peter Utz einsichtig darlegt: „Wie die avanciertesten Komödien der Zeit, die eigentlich tragisch enden müßten, den von der Gattung abverlangten positiven Schluß aber doch noch inszenieren, endet das Aschenbrödel als provokative Parodie des Formenmodells, das es zitierend erfüllt.“11

Die Frage nach der Authentizität bzw. Künstlichkeit der Darstellung setzt sich in den Figuren selbst fort, wenn Walsers Märchenhelden durch ihre äußerst disparaten Äußerungen und Handlungen undurchschaubar werden. Gewissermaßen folgt Walser mit dieser mehr verdeckenden, denn erklärenden Figurendarstellung Tiecks Verfahren im Blaubart. Allerdings geht Walser noch weiter, indem er seine Figuren auch selbst über die ihnen eigene Widersprüchlichkeit reden lässt. Dabei erscheint die Offenlegung ihrer ambivalenten Äußerungen selbst als Methode, um sich ungreifbar zu machen, wie das folgende Beispiel zeigt:

ASCHENBRÖDEL

Welch eine Art und Weise dreht

sich doch mit mir im Kreise um,

macht mein Betragen mir so zum Falsch,

dies Herz zu einem Kugelspiel!

Gefühle rollen Kugeln gleich

wie zur Belustigung hin und her.

Ich, die sie halten sollte, bin

im Reize dieses Spiels verstrickt.12

Auch im viele Jahre später verfassten Dornröschen verhalten sich Walsers Figuren konträr zu naheliegenden Erwartungen, die Rezipienten und Märchenkenner an sie richten würden. So etwa äußern die Figuren aus Dornröschens Hofstaat lautstark ihr Missfallen über ihre Erweckung durch den Prinzen. Nachdem sich der Prinz für seine Tat vor der versammelten Gesellschaft rechtfertigen musste, drängt schlussendlich Dornröschen doch auf eine schnelle Hochzeit, denn sonst „wird uns die Suppe kalt“13. Nicht Dankbarkeit oder gar romantische Gefühle bewirken bei Walser ihre Vermählung mit dem Prinzen, sondern pragmatisch-nüchterne Erwägungen über ausstehende Mahlzeiten. Angesichts des Bruches mit der erwarteten, da aus der Vorlage bekannten Märchenhochzeit gewinnt Dornröschens lapidare Kommentierung einen geradezu selbstironischen und abgeklärten Charakter. Grundsätzlich ist es jedoch eher die distanzierte Erzählhaltung Walsers, die man ironisch nennen kann.

Eine parodistische Note erhalten Walsers Märchendramen folglich auf der einen Seite, indem das glückliche Märchenende mit dem gattungsbedingten positiven Ende der Komödie gleichgesetzt wird, und beide als hoch artifiziell und folglich unglaubwürdig dargestellt werden; auf der anderen Seite bricht Walser mit der stereotypen Figurenzeichnung der Märchengattung, indem er die klassische Rollenverteilung befragt und die holzschnittartigen Figuren zwar viel reden, aber wenig über sich verraten. Die Ironie zeigt sich jedoch nicht vordergründig, sondern schwingt als Grundton seiner subversiven Märchendramen mit. Walsers Lesart der Märchen lässt diese zu undurchsichtig erscheinen, um eine ausdrückliche Satire zu forcieren.

Nichtsdestotrotz fügen sich seine Märchendramen mit ihren ironischen Komponenten durchaus in den Reigen der Märchensatiren ein und regen schließlich etwa ein Jahrhundert später Elfriede Jelinek zu ihren satirischen Märchenbearbeitungen an. Während sich die ironische Behandlung der Märchen bei Walser noch zurückhaltend zeigt, wird sie bei Jelinek als offen satirischer Geschlechterdiskurs zugespitzt. Denn was sich bei Walser vorrangig als spielerische und erratische Überschreitung der Rollenzuschreibung zeigt, wird bei Jelinek zum sprachlichen Exzess über die Resistenz scheinbar abgelegter Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder. Dazu übernimmt sie die bei Walser angelegte Offenlegung der Künstlichkeit von Märchen- und Geschlechterrollen und überführt sie in eine explizite Auseinandersetzung mit Stereotypen des 21. Jahrhunderts. Hierauf werde ich an späterer Stelle noch genauer eingehen.14

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