Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3

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»Ich wurde daran erinnert, als das Verfahren vor dem Gerichtshof publik wurde.«

»Plastikk benutzte das Wort ›Kontrollkapsel‹«, erinnerte sich Sol. »Ist es das, was ich mir darunter vorstelle?«

»Nein, nicht ganz«, erwiderte Darius. »Es war nicht so, dass damit das Bewusstsein seiner Träger kontrolliert wurde oder sein Körper oder sonst etwas. Es war keine direkte Kontrolle, sondern vor allem ein Abhörgerät. Es wurde alles aufgezeichnet, was jeder im Dienst sagte und hörte – permanent. Ohne vorherige Einwilligung. Ohne Kenntnis. Befand sich die Person in der Nähe einer Flotteneinrichtung oder einer administrativen Einheit der Zivilverwaltung, wurde der Speicher runtergeladen und alle Informationen landeten beim Geheimdienst, wo KIs ihn permanent auswerteten. Ein absolut vollständige und umfassende Überwachung. Natürlich zum Schutz gegen Terroristen oder Korruption.«

»Was geschah?«, wollte Sol wissen. Er machte große Augen. Natürlich hatte er, der nie in Diensten des Imperiums gestanden hatte, von der Geschichte nichts mitbekommen.

»Es kam raus. Es ging vor Gericht. Die Rechtslage war klar. Es wurde verboten. Es wurden dann keine neuen Kapseln eingepflanzt und diejenigen, die noch da waren, mussten beseitigt werden. Es gab großzügige Entschädigungszahlungen, die den Aufruhr unter Kontrolle hielten. Ein paar Sündenböcke waren auch schnell gefunden und wurden wegbefördert oder in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Dann wuchs Gras über die Sache.« Darius nickte Plastikk zu. »Nur die Narben blieben – und mit ihnen die Erinnerung bei den Betroffenen.«

»Wir fühlten uns alle plötzlich sehr …« Plastikk suchte für einen Moment nach dem richtigen Wort. »… nackt. Ja, das trifft es wohl am besten.«

»Was hat das mit unserem Problem zu tun?«, fragte der immer noch irritierte Sol, bei dem man derzeit nicht mehr erreicht hatte, als seine wahrscheinlich ohnehin zynische Haltung zum Imperium noch zu bestärken.

Vocis verstand ihn. Sie fühlte sich ebenfalls aufgewühlt. Sie hatte diesem Staat lange gedient, und keinesfalls unwillentlich. An diese Dinge erinnert zu werden … Unwillkürlich zitterte sie. Es war kalt auf der Aume, daran bestand kein Zweifel.

»Wenn man in Reichweite ist, kann man die Kapselinhalte abrufen«, erinnerte ihn Darius. »Wir könnten also alles erfahren, was diese Leute mitbekommen haben – und das könnten exakt die Informationen sein, die wir brauchen. Es gibt sogar eine Möglichkeit, die Kapseln zu befragen, wenn ihre Träger längst tot sind. Glaube ich. Ich bin kein richtiger Experte, muss ich zugeben. Es gibt dabei nur ein kleines Problem – oder vielmehr zwei: Das eine ist die Distanz. Man muss auf unter 50 Kilometer heran.«

»Da kann ich helfen, wenn Dendhs Hauptquartier so reagiert – oder nicht reagiert – wie ein Kollapsar«, sagte Aume.

»Das zweite Problem: Wir brauchen den Aktivierungscode der Kapseln. Der ist Staatsgeheimnis gewesen. Ich weiß nicht, wo diese Sachen noch gespeichert werden, und ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch gespeichert sind. Die Codes sind individuell nach Träger, es gibt keinen Zentralschlüssel. Eindeutige Identifizierung der Informationsquelle war das Diktat jener Zeit.«

»Ich kann da helfen.«

Alle drehten sich um, als Thasri nach vorne trat, Darius zunickte und damit alles bestätigte, was dieser bisher vorgetragen hatte. Sie tippte sich an den Kopf. »Agenten des Geheimdienstes hatten auch so ein Ding, übrigens auch noch, als der Gerichtshof den Einsatz bei den Truppen verboten hatte. Keine Angst, ich habe nach meinem Ruhestand sehr sorgfältig darauf geachtet, dass es entfernt wird.« Sie sah Plastikk verständnisvoll an. »Nackt ist gar kein Ausdruck.«

Dann wandte sie sich an die Runde.

»Ich kenne die Architektur der Codes. Ich werde Aume alles darüber sagen und sie …«

»… wird in kürzester Zeit jede mögliche Kombination ausprobiert haben«, vervollständigte die Schiffsintelligenz den Satz. »Es gibt keinen Code, den ich nicht knacken kann. Und wenn Sie mir helfen, wird es noch schneller gehen.« Sie sah von einem zum anderen. »Also, haben wir einen Plan? Wir fliegen zu den Koordinaten, und suchen nach Dendh, einem Signal der Kontrollkapseln und der Rettung des Universums?«

»Es ist ein Scheißplan«, sagte Plastikk. »Spätestens wenn wir auf dem Ding landen, das die Kollapsare ausspuckt, sind wir Gefrierfleisch.«

»Egal wer, sie erkennen mich nicht.«

Alle Köpfe drehten sich um. Und neigten sich um eine Nuance. Yela sah sie an, eine Hand in der von Vocis, die andere in die Hüfte gestemmt, und sie wirkte so entschlossen, wie kleine Mädchen nun einmal entschlossen sein konnten.

»Meine Eltern haben dafür gesorgt. Ist doch so, oder?«

Gegen ihren Willen musste Vocis nicken. Niemand kommentierte das.

Über diese Brücke wollte keiner von ihnen gehen.

Aber möglicherweise hatten sie keine Wahl.

3

Panik, Panik, Panik.

Es einmal zu sagen, hätte wahrscheinlich schon gereicht, aber Heinrichs fand, dass die Verdreifachung dieses Wortes die Gesamtstimmung so viel besser ausdrückte. Nicht an Bord der Santiago, nicht unter seiner Mannschaft, die aufgrund ihrer besonderen Mission aus Persönlichkeiten ausgewählt worden war, die eher nicht so leicht die Nerven verloren. Aber für den Rest des Imperiums, zumindest dem, der lautstark die Funkwellen belagerte, schien diese Triade des Nervenzusammenbruchs zu gelten. Man musste selbst gar nichts sagen, einfach nur zuhören.

Die Beschwichtigungsversuche der Regierung. Die Direktübertragungen aus dem Serail. Das völlige Zusammenbrechen eines jeden Versuchs der Geheimhaltung. Die panische Reaktion von Offiziellen, die jedes Vertrauen in die Beteuerungen des Generalstabs verloren hatten. Hamsterkäufe. Ticketpreise für Passagierliner, die ins Astronomische gingen – wobei niemand wusste, wo er überhaupt hinreisen sollte. Wo war es denn sicher? Welche Welt bot Zuflucht? Im Serail, den alten Welten des Imperiums, waren so viele Festungen gewesen, Flotten und so viel Selbstgefälligkeit, und alle drei hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Heinrichs wunderte sich nicht. Über gar nichts. Es war trotzdem bemerkenswert, wie vor seinen Augen die Ordnung seiner Heimat dermaßen in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Es war traurig. Ernüchternd. Ein klein wenig deprimierend. Irgendwo hatte man ja doch noch daran geglaubt, dass da irgendwo jemand war, der das Heft des Handelns in der Hand hatte und wusste, was zu tun war.

Wo auch immer diese Person war, sie schwieg. Und das war in dieser Situation wirklich keine gute Idee. Man fühlte sich alleingelassen. Das Schweigen war sozusagen ohrenbetäubend.

Shibutani stellte sich neben ihn. Die Santiago schwebte immer noch unweit der Flottenstation, wo sie Agentin Pia Trowski begegnet waren. Diese hatte ihnen von ihrem alten Bekannten, dem Agenten Vigil, erzählt und dass er »die Sache« jetzt in die Hand nehmen würde. Sie mochte ihn nicht. Dennoch vertraute sie seinen Fähigkeiten. Shibutani mochte Pia Trowski nicht und brachte ihr allerhöchstes Misstrauen entgegen und für beides hatte Heinrichs größtes Verständnis. Aber der Gedanke allein, dass da jemand war, der was tat, war tröstlich. Viel schlimmer konnte es ja nicht mehr werden.

»Captain, Sir!«

»Fang nicht so an!«

»Valentijn, wir müssen was tun.«

Heinrichs nickte, gestikulierte in Richtung seiner Kabine. Es war besser, das notwendige Gespräch unter vier Augen zu führen. Als sie beide in seinem Raum Platz genommen hatten, fiel Shibutanis Blick auf die Schachtel mit Schokoladenpralinen, die sich Heinrichs von der Station hatte liefern lassen. Eine persönliche Schwäche, der Luxus, den sich ein Kommandant leisten konnte. Er hatte sie geöffnet und so stehen lassen, nicht ein Stück fehlte. Shibutanis begehrlicher Blick aber ließ sich nicht übersehen.

»Nimm dir!«

Es gab vier herzförmige Stücke, die vier größten Pralinen. Zielsicher griff der Erste Offizier nach einem der vier Herzen und schob es sich in den Mund. Die Schokolade knackte zwischen seinen Zähnen. Shibutani kaute, als handele es sich um ein Sandwich.

Er war ein Banause. Heinrichs bereute sofort, ihn eingeladen zu haben, nahm die Schachtel, klappte sie zu und signalisierte damit das Ende jeder Großzügigkeit.

»Haben wir Befehle von der Leitstelle?«, fragte Heinrichs in das Kauen hinein.

Der Erste Offizier zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass die uns im derzeitigen Durcheinander auf dem Schirm haben. Aber höre meine Worte: Sobald die ihre Nerven in den Griff bekommen, werden sie alle Schiffe zusammenziehen, um sie in einer großen, farbenprächtigen und sinnlosen Schlacht zu opfern, weil ihnen schlicht nichts Besseres mehr einfällt.«

»Du bist ein pessimistischer Mann.«

»Ich bin ein prophetischer Mann.«

Und es war, wie es war. Heinrichs war unlängst zum gleichen Schluss gekommen und er hatte im Stillen eine Entscheidung getroffen. Sie war potenziell fatal, aber angesichts der mit Sicherheit zu erwartenden Alternative nicht fataler, als brav den Befehlen zu folgen.

Shibutani sah ihn forschend an.

»Du hast etwas vor. Ich sehe es dir an. Dieser Blick – du hast entweder die falschen Drogen genommen oder einen Plan.«

»Plan wäre zu viel gesagt. Aber du hast doch gemeint, wir müssten etwas tun. Willst du dich jetzt ernsthaft beschweren?«

»Eine bescheuerte Idee also?«

»Das kommt der Sache wohl näher.«

Shibutani war nicht beeindruckt. Er war Offizier auf einem Monitor und das war nun einmal kein Job für die Kleinherzigen.

»Wir müssen um Hilfe bitten. Das Imperium schafft das hier nicht alleine. Und ich bin mir sicher, unsere Führung ist zu stolz, um zu tun, was zu tun ist. Also müssen wir es erledigen. Ich habe als Attaché in einer Botschaft gearbeitet. Du hast drei Flottenbesuche durchgeführt, als die Zeiten noch besser waren.«

 

»Es gab mal bessere Zeiten?«

»Du hörst mir nicht zu!«

»Ich höre dir gut zu. Ich habe Flottenbesuche in der Padarischen Konföderation gemacht. Du warst Attaché in der Botschaft bei den Simmi. Du redest von den beiden mächtigsten und wichtigsten Sternenstaaten voller blutdurstiger Aliens, die uns alle nicht abkönnen.«

»Sie können uns nicht leiden, das stimmt. Und ich kann die meisten von ihnen auch nicht leiden. Aber das sollte jetzt wirklich nicht das ausschlaggebende Argument sein.«

Shibutani beugte sich nach vorne, sprach leise.

»Das könnte man als Hochverrat auslegen.«

»Wenn wir Erfolg haben, sind wir Helden. Wenn wir scheitern, wird uns allen sehr kalt. Da möchte ich die rechtlichen Fragestellungen doch eher vernachlässigen.«

»Was ist, wenn wir da auftauchen und einfach weggeballert werden? Ich meine … wir sind keine Verbündeten, nicht einmal Freunde.«

»Niemand ist unser Freund und genau das fliegt uns derzeit ins Gesicht. Zeit, dass wir das ändern.«

»Du meinst das ernst?«

Heinrichs nickte. »Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Aktionen. Bist du dabei? Ich schlage vor, dass wir es erst einmal mit den Simmi versuchen. Die sind auf ihre Art zugänglich.«

Der Erste Offizier überlegte nicht lange. »Ich kann dich bei so etwas nicht alleine lassen, du richtest zu viel Schaden an. Aber was ist mit dem Rest der Mannschaft?«

Ein berechtigter Einwand und eine potenzielle Hürde, wie Heinrichs wusste.

»Ich rede mit allen. Ich werde niemanden zwingen, aber wer dagegen ist, kommt in die Brig und macht Urlaub. Ich kann keine Plappermäuler gebrauchen.«

Shibutani zeigte nicht sofort, was er von diesem Vorgehen hielt. Er überlegte kurz. Als Erster Offizier kannte er die Besatzung der Santiago wie kein Zweiter. Dann lächelte er und sah nicht so aus, als würde er erwarten, besonders viele seiner Crew ins Gefängnis stecken zu müssen.

»Dann sind wir uns einig?«, fragte der Kommandant.

»Nehmen wir die Trowski mit? Ich glaube, sie wäre die Art von Persönlichkeit, die an derlei Gefallen finden könnte.«

Heinrichs fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits war es vielleicht nicht schlecht, eine Agentin des Geheimdienstes an der Seite zu haben, die ihre eigenen Kontakte und Ressourcen einbrachte. Andererseits war es vielleicht schlecht, eine Agentin des Geheimdienstes an der Seite zu haben, die genau das war: eine verdammte Agentin des verdammten Geheimdienstes. Heinrichs wusste nicht ganz, ob der Vergleich mit dem Teufel und dem Beelzebub hier passte, aber völlig abwegig war er gewiss nicht. Darüber hinaus war die Agentin als Person … schwierig. Mindestens anstrengend.

»Ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden wäre«, sagte er vorsichtig.

»Ihre Loyalität ist generell eher brüchig und ich finde sie sehr seltsam, aber ich glaube, sie möchte ebenfalls nicht als Gefriergut enden«, brachte Shibutani seine Menschenkenntnis ins Spiel. Ungeachtet seiner persönlichen Vorbehalte war sich Heinrichs darüber im Klaren, dass sein Erster Offizier tatsächlich ein Händchen dafür hatte, Menschen zu beurteilen, nicht zuletzt in Bezug auf ihre Nützlichkeit. Das klang auf den ersten Blick recht zynisch – aber am Ende wollte doch jeder irgendwie von Nutzen sein, selbst eine vom Leben enttäuschte Agentin wie Pia Trowski, die sich einfach nur gehen ließ.

Heinrichs überwand seinen inneren Schweinehund, nickte langsam.

»Frag sie.«

»Hab ich schon. Sie setzt in fünf Minuten über. Und dann? Zur Heimatwelt der Simmi also?«

Heinrichs sah den grinsenden Freund an, krauste die Stirn und versuchte, möglichst indigniert zu wirken, ein Versuch, der erwartungsgemäß völlig ins Leere ging.

»Du wusstest doch gar nicht, was ich vorhabe«, versuchte er, die Beweggründe Shibutanis zu verstehen. »Wie kannst du …«

»Ich bin gerne auf alles vorbereitet. Die Simmi? Soll ich den Kurs setzen?«

»Ich sollte dir einfach gleich das Kommando übergeben.«

Shibutani schüttelte den Kopf. »Das Gehalt passt nicht zur Verantwortung. Und wie ich feststellen muss, werden mir sogar die Pralinen vorenthalten.«

»So ist es. Und jetzt raus.«

Dann war er allein in seiner Kabine. Wie immer, wenn das passierte, befielen ihn sofort Selbstzweifel, vor allem nach wichtigen Entscheidungen. Erst recht nach solchen, die man als Meuterei und Insubordination, als Verrat auffassen konnte. Aber er hatte diese Brücke nun überschritten, und wie wackelig sie auch gewesen war, der Weg war der richtige.

Jetzt musste er nur noch die Crew davon überzeugen.

Er legte sich die richtigen Worte zurecht, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich die erwünschte Wirkung haben würden. Etwas Gehirnnahrung würde ihm dabei helfen. Zeit, sich selbst ebenfalls an den Pralinen gütlich zu tun.

Seine Hand schwebte für einen Moment über der Schachtel, während seine Augen das Zielobjekt suchten. Heinrichs hob verwundert die Augenbrauen. Eine Praline fehlte, wie es sich gehörte, offenbar, weil auch davon vier nebeneinander arrangiert waren, ein stilisierter Stern, gefüllt mit Mandelcreme. Zur Auswahl aber standen weiterhin die vier Herzen. Alle vier lagen sie da, völlig unberührt. Hatte nicht …

Heinrichs blinzelte, zuckte mit den Schultern, nahm eines, steckte es sich in den Mund.

Überanstrengt war er. Daran bestand nun gar kein Zweifel mehr.

Er ließ das Herz in seinem Mund schmelzen, wie es sich gehörte. Es dauerte eine Weile, aber es war die einzige echte Pause, die er auf absehbare Zeit bekommen würde.

4

»Eine Audh, ja?«

Der Offizier sah Ildaya nur mit einem Seitenblick an, seine ganze Körperhaltung eine Mischung aus Indifferenz und Verachtung. Er war von der gleichen Sorte wie der, der für die Anflugerlaubnis verantwortlich gewesen war, ein Produkt des Zentralsystems, wie ein Klon aus der exakt gleichen Geburtsreihe. Sie hätten Brüder sein können, mindestens.

Er war aber forscher, selbstbewusster.

»Ich bringe sie zum Verhör und zur weiteren Veranlassung«, erklärte Vigil mit exakt der gleichen Mimik und Gestik, eine Verhaltensschale, die er um seine Persönlichkeit zu legen imstande war, wenn es sich als notwendig erwies.

Der Offizier grinste kurz und nickte. Er wusste, was mit »weiterer Veranlassung« gemeint war. Sobald diese Drecksrebellin alles ausgespuckt hatte, was sie wusste – freiwillig oder nicht –, würde es zwei Alternativen geben: eine Prüfung, ob durch eine Gehirnwäsche das Potenzial bestand, sie umzudrehen und als Doppelagentin einzusetzen, oder, wenn sich der Aufwand nicht lohnte oder die Erfolgsaussichten zu gering waren, sie zu entsorgen. Ildaya würde nicht die Erste sein, die diesem Schicksal entgegenging, und der Offizier vor ihnen war völlig abgestumpft, was das anging. Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Serail aber konnte es sein, dass diese Praxis bald ein Ende haben würde, und wenn der Sieg der Kollapsare eine gute Konsequenz hatte, dann möglicherweise diese.

Horton Vigil wunderte sich. Wann genau waren diese leisen Anwandlungen von Illoyalität in seine Gedanken gewandert? Sie sorgten bei ihm gar nicht für Entsetzen oder Selbstzweifel! Er würde darüber reflektieren müssen, sobald er dafür Zeit hatte. Also nicht jetzt.

»Wollen Sie sie gleich in einer Zelle unterbringen?«

»Nein. Ich bringe sie ins Verhörzentrum des Flottengeheimdienstes.«

Nicht ungewöhnlich, eigentlich Standardverfahren, aber im Grunde nur bei Kandidaten, die etwas wirklich Wichtiges wussten und bei denen man keine Zeit hatte, sie erst mal durch unwürdige Haftbedingungen weichzukochen.

Der Offizier machte aus seinem Zweifel keinen Hehl.

»Eine Audh ist so wichtig? Wo die herkommt … das ist doch der letzte Kackplanet.«

Vigil hörte Ildaya zischend Luft holen und schalt sie ob dieser Reaktion nicht. Es war das, was man von ihr erwartete, und sie musste es nicht einmal spielen, sie war authentisch.

»Man wundert sich manchmal«, sagte er leichthin. »Aber dem Imperium darf nichts entgehen. Ich erledige das und wir wissen schnell, ob sich der Aufwand lohnt.«

Ein letzter, abschätzender Blick auf die Gefangene, dann bekam Vigil seinen Passierschein. Seine eigenen Dokumente, die ihn als hochrangigen Einsatzagenten auswiesen, waren natürlich tadellos. Das winzige Detail war nur, dass er nicht für den Geheimdienst der Flotte arbeitete, sondern eigentlich direkt für den Hof. Ein Detail, das sich aus den vorgelegten Legitimationen nicht ergab. Er hieß dort auch anders. Und er hatte nicht die geringste Absicht, Ildaya Schaden zuzufügen, wenn diese ihm weiterhin half.

»Alles klar«, sagte der Uniformierte und es war ihm anzusehen, dass er bereits jedes Interesse an den Neuankömmlingen verloren hatte. Er fertigte sie mit einer winkenden Handbewegung ab, die Augen auf den Schirm an der Wand gerichtet, auf dem sich die zunehmend hysterischen Nachrichtensprecher mit ihren Hiobsbotschaften überschlugen.

Vigil ignorierte das geflissentlich, nickte, griff Ildaya, immer noch gefesselt und ganz die arretierte Rebellin, am Arm und es sah hinreichend grob aus, um authentisch zu wirken.

»Hier entlang!«, knurrte er böse, bekam einen ebenso bösen Blick seiner Gefangenen und sie ließ sich widerwillig mitziehen. Ildaya machte das gut. Oder sie war tatsächlich sauer. So genau wusste er das bei ihr nie richtig.

»Wohin?«, wisperte sie, ohne den Mund zu bewegen. Sie konnte das. Eine Fähigkeit, um die er sie beneidete.

»KI-Kern.«

»Ich komme dahin mit?«

»Moment.«

Vigil kannte sich hier gut aus, er hatte diesen Ort mehr als einmal besucht, und das in verschiedenen Identitäten, aufgebaut, gelöscht, verändert, ein ebenso digitaler wie realer Schatten, der nicht fassbar war für die Systeme. Ildaya musste auch zu einem solchen Schatten werden, jetzt, wo sie ins Innere vorgedrungen waren. Siebzehn Knotenpunkte waren beim Bau des Hauptquartiers von Vigils Vorgängern in einer langen Reihe von Agenten der Juveniten zu diesem Zwecke etabliert worden, ein informelles, halblegales, aus tiefem Misstrauen geborenes Kontrollsystem, das Sicherungen umging und ermöglichte, die eigenen Leute zu unterwandern. Mattilaa hatte davon nur spärlich Gebrauch gemacht, immer darauf bedacht, die etablierten und sehr wertvollen Ressourcen mit der notwendigen Behutsamkeit einzusetzen. Vigil brach jetzt ein wenig mit dieser Tradition.

So war das, wenn irgendwie die Endzeit anbrach.

Er betrat den Raum, in dem einer der Knotenpunkte installiert war. Es war ein Freizeitbereich, zu dieser Zeit ungenutzt, mit ein paar Sesseln, einem Nahrungsautomaten und einem Projektor. Vigil stellte sich an den Automaten.

»Sie haben jetzt Hunger?«, fragte Ildaya ungläubig und, so meinte Vigil wahrzunehmen, ein wenig abfällig.

»Nicht so voreilig«, murmelte er. Er bestellte, aber er bestellte auf seine Weise, mit einem mobilen Datencoder, den er vor das schimmernde Display hielt, das ihm sorgfältig dekorierte und vorteilhaft fotografierte Nahrungsmittel anbot, die in Wahrheit weder so aussahen noch so schmeckten. Es dauerte nicht lange. Seine Legitimationen waren mächtig und er würde keine Warnungen auslösen. Er war ein loyaler Diener des Imperiums, im Auftrag der Krone unterwegs. So, wie es sein sollte.

Er bekam Zugang.

Er handelte schnell. Er war vorbereitet.

Und in diesem Moment wurde aus der Terroristin Ildaya von den Audh die geschätzte lokale Sicherheitsmitarbeiterin gleichen Namens, die den Agenten Horton Vigil als Beraterin und Ressourceperson begleitete, um ihn bei seiner segensreichen und höchst patriotischen Arbeit zu unterstützen. Vigil drehte sich um, nahm ihr mit einer fließenden Bewegung die Handschellen ab, dann nickte er ihr zu.

»Jetzt.«

Ildaya zog die Jacke aus, die sie von Vigil bekommen hatte. Sie drehte sie um, zog die Ärmel von außen nach innen. Aus der formlosen Bekleidung einer Gefangenen wurde ein uniformähnliches Sakko mit den Insignien der imperialen Armee und der Audh-Sicherheitskräfte, den lokalen Quislingen und Kollaborateuren, auf die das Imperium überall dort zurückgriff, wo es konnte. Es war eine bemerkenswerte Verwandlung, die aus einer gebrochenen Todgeweihten ein selbstbewusstes Mitglied der Okkupationsstreitkräfte machte, eine, die wusste, von wem sie sich Vorteile und Macht erhoffen konnte. Eine, die einer großartigen Karriere entgegensah, wenn sie nur die eigenen Leute verriet, wo immer ihr das möglich war.

 

Ildaya straffte ihre Körperhaltung. Sie war sehr gut darin, sich zu verstellen, und Vigil war mit der Verwandlung ausgesprochen zufrieden.

»Willkommen im Dienst des Imperiums!«

Den vernichtenden Blick der Rebellin ignorierte er. Da musste sie jetzt durch.

»Haben wir damit Zugang ins Allerheiligste?«

»Noch nicht. Aber ich kenne jemanden, der ihn hat und der uns helfen wird.«

Ildaya sah ihn prüfend an. »Erpressung?«

Die Frau hatte einen wunderbaren Instinkt und traute jedem nur das Schlechteste zu. Horton Vigil war sich sicher, dass sie eine ausgezeichnete Agentin abgeben würde, stünde sie nicht im Grunde auf der Gegenseite. War erst einmal die Gefahr durch die Kollapsare beseitigt – sollte dieser glückliche Umstand jemals eintreten! –, würde sie ihn, ohne zu zögern, umbringen, erwiese sich dies als notwendig. Darüber machte sich Vigil absolut keine Illusionen. Aber der Instinkt – ja, der war wirklich super.

»Ich würde es nicht Erpressung nennen«, erwiderte er, steckte seinen Kopf durch die Tür und sah niemanden.

»Wie dann?«

»Interessensausgleich.«

»Ich finde Sie manchmal zum Kotzen, Agent Vigil.«

Er ignorierte diese Charakterisierung, zeigte in eine Richtung.

»Hier entlang, wenn Sie mir folgen wollen. Ja, den Rücken durchdrücken. Wir sind jetzt ganz offiziell hier und gern gesehene Gäste.«

Ildaya zischte etwas, Vigil vermutete, dass es sich um ein Audh-Schimpfwort handelte, dessen Bedeutung ihn nur unnötig beunruhigen würde.

Sie schritten aus. Ihnen begegneten Passanten, in Uniform und ohne, manche warfen einen verwunderten Blick auf Ildaya, vor allem deswegen, weil man ihre Leute normalerweise eher selten im Hauptquartier zu Gesicht bekam. Aber niemand sagte etwas. Sie waren hier und unbehelligt, also waren sie im Recht, so hieß die einfache Logik. Allein schon der Gedanke, dass sich jemand einschleichen könnte, war absurd. Darüber hinaus waren alle mit dem drohenden Ende ihrer Zivilisation beschäftigt und eigentlich mit ihren Gedanken ganz woanders.

Vigil kritisierte diese Haltung nicht, denn sie machte sein Vorhaben viel einfacher.

Sie betraten einen Bürotrakt. Jede Institution bedurfte der Administration und natürlich bildete das Flottenhauptquartier hier keine Ausnahme. Wer meinte, dass man existieren könne, ohne verwaltet zu werden, lebte in einer absurden Traumwelt. Und das Imperium konnte, abgesehen vom Erobern fremder Zivilisationen und dem Aushecken intriganter Spielchen zur Selbstbeschäftigung, eines sehr gut: auf jede Schicht von Verordnungen und Gesetzen immer wieder eine neue zu legen, bis die unteren irgendwann sedimentierten und zum Rohstoff beständiger Revisionen wurden, die alles noch komplizierter und widersprüchlicher machten, ein ewiger Kreislauf, der, sollten die Kalten dies nicht vorwegnehmen, das Reich irgendwann in die Knie zwingen würde.

»Was tun all diese Menschen?«, fragte Ildaya, als sie den großen Raum betraten, unterteilt in Würfel, durchzogen von rechtwinklig anliegenden Gängen. In jedem Würfel saß jemand. Es herrschte eine beinahe schon kontemplative Stille, nur bisweilen durchbrochen vom Gemurmel eines Administrators, dem Geräusch von Fingern auf Tastaturen, dem Quietschen eines Stuhls. Über allem lag, wie ein sanfter Klangteppich, das Säuseln der Luftumwälzung. Irgendwo vernahm man, sehr leise, eine Melodie, die jemanden bei der Arbeit motivierte, nur ein Hauch an Tönen, auf dass er jene nicht störe, die Stille benötigten. Oder Andacht. Dies war wie ein Tempel, sie alle hier Gläubige oder Priester, die Zeit und Energie einem Gott opferten, der aus Regeln und Gesetzen bestand, dessen Seelenlosigkeit durch die Investition ihres Geistes gestärkt wurde. Vigil wusste, warum er den Weg gewählt hatte, der ihn nun hierherführte: Die Regeln zu ignorieren, wo sie ihn störten, und selbst welche zu machen, wo er die Autorität dazu hatte, das war stets der größte Reiz seiner Arbeit gewesen.

»Sie arbeiten«, erwiderte Vigil kurz angebunden. Er steuerte seine Schritte zielsicher durch die Gänge, bis er an einem ausgewählten Kubikel ankam. Blicke verfolgten ihn. Er war ein Fremdkörper in der permanenten Zeremonie der Selbstregulierung, die die Atmosphäre dieses Raums erfüllte, und obgleich niemand sein Recht infrage stellte, sich hier aufzuhalten, wirkte er für manche alleine schon durch seine Anwesenheit wie ein Sandkorn im Getriebe der administrativen Unausweichlichkeit. Vigil gefiel dieser Gedanke, er war gleichermaßen bescheiden, ja demütig, wie auch rebellisch.

Die ältliche Frau hinter dem schmalen Schreibtisch sah auf, als sich Vigil schweigsam vor sie stellte. Sie hatte ein ebenso schmales Gesicht, schmale Hände, einen schmalen Körper, dürr beinahe, und trug, wie alle hier, eine monotone Bürokleidung, fast schon wie eine Uniform, obgleich nach Vigils Kenntnis hier gar kein strenger Dresscode galt. Die Gesichtshaut der Frau war kalkweiß und an den Schläfen sah man die Äderchen durchscheinen, als hätte jemand mit einem feinen Stift ein komplexes Flussdelta aufgezeichnet. Die Haare waren streng zusammengebunden, bildeten einen glatten, perfekt geformten Dutt am Hinterkopf, eine altmodische Frisur, die aber gut zu ihr passte.

Sie zuckte zusammen, ihre Augen weiteten sich für einen Moment überrascht, dann wechselte der Ausdruck und verwandelte sich in Ergebenheit, eine umfassende, innere Kapitulation.

Interessensausgleich hatte Vigil gesagt. Dafür war es an der Zeit.

»Vigil«, hauchte sie. Es klang hoffnungslos und hoffnungsfroh gleichzeitig, eine seltsame Mischung. Es war eine kurze, kondensierte Kommunikation, Erwiderung auf seinen auffordernden Blick. Es bedurfte keiner langen Erklärungen, alles war schon längst gesagt worden, vor Jahren bereits.

»Es ist dann jetzt so weit, Anna«, sagte Vigil leise, beinahe schon sanft.

Anna nickte, wirkte gefasst, ein wenig niedergeschlagen dabei, wurde sie doch unvorhergesehen an Sünden erinnert und damit an Verpflichtungen, die sie mindestens zu verdrängen versucht hatte.

»Jetzt gleich?«, fragte sie zögernd.

»Wenn es dir nichts ausmacht.«

Eine leere Formel. Er hatte es nicht so gemeint. Ihm war letztlich egal, ob es ihr etwas ausmachte.

Anna erhob sich, schaute Ildaya nur beiläufig an. Das Zentrum ihres Universums war in diesem Moment Horton Vigil und alles, was er für sie bedeutete.

»Hier entlang«, wisperte sie und ging voraus.

Ihr Haar wehte lang und ungebunden den Hinterkopf hinab. Vigil starrte auf die Pracht, blinzelte kurz. Eben war da doch noch …

Sie musste den Dutt mit einer schnellen Geste gelöst haben. Eine Bewegung, die ihm entgangen war. Er sah Ildaya an, doch diese schien weder verwirrt noch beunruhigt, sondern einfach nur entschlossen, die Sache jetzt zum Ende zu bringen.

Vigil fühlte kurz die Versuchung, die Audh danach zu fragen, aber er beherrschte sich. Dies war nicht der Moment, sich lächerlich zu machen. Dafür gab es gewiss zu einem anderen Zeitpunkt eine gute Gelegenheit.

Er eilte Anna hinterher.