Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

»Sie ist schon weit weg. Nein, wir haben immer noch eine Aufgabe, Sol. Ich zumindest.« Er sah für einen Moment den Freund fragend an. »Ich kann dich absetzen. Keine Vorwürfe. Keine Kritik, nichts dergleichen. Dies ist nicht dein Kampf und es ist vor allem nicht deine Familie.«

Sol sah ihn kopfschüttelnd an. »Nicht meine Familie, klar. Aber mein Kampf. Ich glaube nicht, dass die Kalten einen großen Bogen um mich machen werden, oder?«

»Davon ist nicht auszugehen. Aber bis alles zusammenbricht, könntest du noch ein schönes Leben haben. Spaß.«

Sol verzog sein Gesicht. »Spaß wird überbewertet.«

Darius lachte auf. Er hatte sich diese Art von Antwort gewünscht.

»Dann heißt es wohl: mitgefangen, mitgehangen.«

»Wenn wir den Teil mit dem Hängen noch etwas hinauszögern könnten, würde mich das sehr erfreuen.«

Darius grinste, ließ ostentativ eine Hand auf eine Sensorfläche fallen, und etwas wurde ausgelöst. Das Boot wurde wach, so richtig wach, ein starkes, anschwellendes Summen erfüllte den Innenraum und die Sterne auf dem Echtzeitschirm begannen zu wandern.

»Achtung! Hier spricht die Leitstelle! Sie haben keine Erlaub…«

Darius schaltete ab. Es kümmerte ihn nicht mehr.

Die dreidimensionale Darstellung fesselte nun die Aufmerksamkeit. Das Boot beschleunigte, fast senkrecht zur Ekliptik, und die Reaktionen kamen unmittelbar und mannigfach.

»Kursänderungen, Kursänderungen … ganz viele, und einige unerwartet«, kommentierte Darius. »Der da macht mir Sorgen«, sagte er mit Spannung in der Stimme. »Ein Monitor. Das sind gleichermaßen schnelle wie gut bewaffnete Schiffe, die von Leuten bemannt sind …«

»Wie dieser Heinrichs.«

»Genau. Du hast es erfasst. Und nicht alle mit dem gleichen Hang zur Illoyalität wie Heinrichs. Die Polizeiboote haben einen starken Antritt, halten aber keine stundenlangen Verfolgungsjagden durch, ihnen fehlt es an Stützmasse. Alle anderen sind gefährlich, wenn wir nicht rechtzeitig zum Hypersprung kommen.«

Er warf einen Blick auf die Anzeigen. »Das Boot meint, es braucht eine Stunde. Vertrauensselig, wie wir waren, haben wir alles heruntergefahren. Wieder so eine Fehlkalkulation von meiner Seite.«

»Darius.«

»Ja?«

»Hör auf. Es nützt nichts, wenn du dir dauernd selbst mit dem Hammer auf den Kopf schlägst. Es tut dir weh. Es tut mir weh. Und entgegen dem Sprichwort fördert es nicht das Denkvermögen.«

Sols Glas klirrte. Er beruhigte sich mit einem weiteren Schluck.

Darius nickte, schwieg. Das Boot glitt durch das All, die bunten Punkte im Kartentank zogen in ihre Richtung, es war ein schönes Spiel an Farben und Linien, als die Bordsteuerung noch Kursvektoren zu extrapolieren begann und mögliche Abfangpunkte definierte. Es waren zu viele, wie Darius fand, und er begann, den Kartentank für eine Simulation zu nutzen, variierte die Flugbahn des Bootes, die Geschwindigkeit, probierte Beschleunigungsphasen aus, die aus den beiden Passagieren blutige Matschflecken machen würden, sollten die Andruckabsorber und Schwerkraftgeneratoren ausfallen. Es waren Planspiele, die mit großer Geschwindigkeit abliefen und denen Sol, das war ihm anzusehen, irgendwann nicht mehr folgen konnte. Doch dann war er da, der ideale Fluchtkurs.

»Das ist der ideale Fluchtkurs!«, verkündete Darius laut und wies auf den Tank.

»Der ist scheiße!«, kommentierte Sol. »Sind das nicht zwei Beinahe-Abfangpunkte und einer, der bestimmt klappt?«

»Er ist scheiße«, bestätigte Darius, »gleichzeitig ist er ideal, denn alle anderen Optionen führen uns in noch größere Katastrophen.«

»Ich kann mir das kaum vorstellen.«

»Probier es aus.«

Sol hob abwehrend die Hände. »Wir überleben ja schon diese Version nicht.«

»Etwas mehr Vertrauen«, bat Darius. »Sie wollen mich erst einmal lebend, zumindest einige. Ich werde sie in diesem Ansinnen gleich noch bestärken. Und sie wissen nicht, wozu dieses kleine Boot technisch in der Lage ist. Wir werden sie überraschen.«

Sol murmelte etwas und Darius war weise genug, nicht nach einer Wiederholung zu fragen. Er hatte ohnehin etwas anderes zu tun: Er aktivierte das Funkgerät für einen systemweiten, unverschlüsselten und mit großem Nachdruck abzusendenden Spruch. Sol würde gleich sehen, was sein Freund vorhatte, und er würde verstehen, dass ihre Chancen besser waren als gedacht.

Verrückt war es trotzdem, mindestens verzweifelt.

Darius räusperte sich.

»Hier spricht Darius, Prinz des Imperiums. Ich wende mich an alle patriotischen Bürgerinnen und Bürger, an alle, denen das Wohl unserer Gemeinschaft am Herzen liegt, und an alle, die die gleichen Sorgen umtreiben wie mich. Ich rufe die Kommandanten und Offiziere, die Mannschaften der Schiffe, die nun Jagd auf mich machen. Ich fordere Sie alle auf, Ihre Befehle zu bedenken, nicht an die Lügen zu glauben, die man Ihnen erzählte, und sich eigene Gedanken darüber zu machen, ob Ihre Absichten ehrenwert und Ihre Taten gerechtfertigt sind. Ich bin kein Verräter. Ich bin nicht dem Wahnsinn verfallen. Ich bin heimgekehrt, um meinem Vater zur Seite zu stehen und mit ihm all den Tapferen, die unsere Welten beschützen. Ich war im Serail. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was sich dort abspielt. Ich sehe die unmittelbare, umfassende, zerstörerische und scheinbar unaufhaltsame Gefahr durch die Kalten und ich will mich ihr entgegenstellen. Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden, wenn wir uneinig sind. Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden, wenn wir unentschlossen sind. Er kann vor allem nicht gewonnen werden, wenn wir das Symbol der Einheit unseres Reiches zerstören, die Einigkeit, die Unantastbarkeit und die Heiligkeit der kaiserlichen Familie. Ich bin ein Teil dieser Familie. Ich möchte allen ein Vorbild sein, die den Kampf aufnehmen wollen, die nicht verzweifeln und nicht wanken, die dem Schrecken entgegentreten und mit hocherhobenem Haupt der kalten Bedrohung begegnen. Ich stehe auf eurer Seite. Ich helfe. Ich weiß Dinge, habe Schlüsse gezogen und bin bereit, meinen Beitrag zur Rettung des Reiches zu leisten. Mich mundtot zu machen, mich zu beseitigen und aus der Erinnerung zu löschen, hilft niemandem. Und es führt dazu, dass gute Offiziere durch schlechte Befehle gezwungen werden, ihren Eid auf meine Familie zu brechen.«

Er schaltete ab. Er atmete schwerer als gedacht, ein wenig berührt von seinen eigenen Worten, die nicht in allem so ehrlich gewesen waren, wie er sie intoniert hatte.

»Das war eine schöne Rede«, meinte Sol mit einer gehörigen Portion Vorsicht in der Stimme.

»Danke. Etwas improvisiert, aber …«

»Aber ob sie was genützt hat …«

»Das werden wir sehen. Den Angriff abgebrochen hat immerhin der Leichte Kreuzer Sepultura. Schau selbst.«

Die Systemkarte mit den Blips der sich bewegenden Raumschiffe hatte sich verändert. Schiffe, die nicht zur Flotte gehörten, stoben aus dem Weg, um nicht in ein Gefecht zu geraten, mit dem sie nichts zu tun haben wollten. Und ein Schiff der Flotte, erkennbar durch das eindeutige Transpondersignal, drehte ebenfalls ab.

»Der Transponder meldet Maschinenschaden«, sagte Darius lächelnd. »Ich bin mir sicher, den gibt es gar nicht.«

»Es sind dir persönlich Leute gegenüber loyal?«

»Es ist alles eine Frage der Ehre, mein Freund.«

Das Boot beschleunigte weiter, das leise Winseln der Triebwerke hatte sich zu einem hohen Diskant heraufgeschraubt. Die Warnsignale der Ortung wurden ebenfalls langsam lauter, denn keine weiteren Schiffe hatten sich dem Beispiel des einsamen Verweigerers angeschlossen. Ihre taktische Situation hatte sich nur um eine Nuance verbessert, doch Darius empfand keine Angst. Das konnte man von Sol nicht sagen, der etwas blass um die Nase wirkte. So richtig mutig machte ihn der Alkohol offenbar nicht.

»Ich finde Raumschlachten scheiße«, murmelte sein Freund.

Darius vermochte ihm nicht zu widersprechen. Daher wollte er auch möglichst eine vermeiden. Doch in dieser Position den Überlichtantrieb zu aktivieren, konnte verheerende Konsequenzen haben. Die Nähe starker Gravitationsquellen machte die Navigation unberechenbar und er wollte genau dort herauskommen, wo er den Sprung programmierte.

Ein besonderes Ziel – und gleichermaßen ein recht verzweifeltes.

»Prinz Darius, hier spricht …« Die kraftvolle Stimme brach ab, als Darius den Empfänger deaktivierte.

»War das weise?«, fragte Sol vorsichtig.

»Ich weiß, wie sich eine Kapitulationsaufforderung anhört. Achtung!«

Rote, grelle Punkte erschienen auf dem Schirm.

»Raketen?«, fragte Sol atemlos.

»Enterkommandos. Das sind imperiale Dropships. Schnell und beweglich, für Landungen auf Planeten und für Schiff-zu-Schiff-Manöver«, erklärte Darius kalt. »Drei Stück, jedes mit acht Mann und einem Piloten. Etwas Overkill für uns zwei Hanseln.«

»Können wir …«

»Sie sind schnell.« Darius grinste. »Wir sind schneller.«

»Aber wenn …«

»Sol. Das ist unsere Chance. Sie schießen nicht auf ihre eigenen Leute. Sie wollen uns lebend. Zwei Nachteile, die wir nun für uns ausnutzen werden.«

Sol schaute verwirrt über die Kontrollkonsole. »Sind wir denn eigentlich bewaffnet?«

Der Prinz nickte grimmig.

»Sind wir. Aber ich wiederum schieße nicht auf diese Dropships.«

»Aber …«

»Ich habe meine Rede durchaus ernst gemeint«, sagte Darius. »Was für ein Prinz bin ich, der auf seine eigenen Soldaten schießt und sie möglicherweise ernsthaft in Gefahr bringt? Nein. Sol, meine Worte müssen wirken. Sie wirken durch Taten. Und die falschen Taten machen alles zunichte.«

Sol schüttelte den Kopf. »Das ist doch alles …«

 

»… symbolische Politik, die Klaviatur der Macht. Stör mich jetzt nicht. Sie kommen näher.«

Das Boot änderte den Kurs, das Winseln des Antriebs wurde nun störend, wirkte nicht drängend, sondern verzweifelt. Darius beobachtete die Reaktionen der Flugautomatik, die ihm, fast gegen seinen Willen, so viel von der Steuerung abnahm, dass er sich eher als jemand fühlte, der wohlmeinende Vorschläge machte, und weniger als Pilot. Doch dieser Ableger von Aume mochte nicht über ihr Bewusstsein, ihre Intelligenz und ihr Wissen verfügen, aber er war ganz offenbar ein Kind seiner Mutter. Die zielsichere Leichtigkeit, die gewissenhafte Extrapolation und die Rücksichtslosigkeit in der Umsetzung entsprachen dem Bild, das Darius von der Schiffsintelligenz gewonnen hatte. Er fühlte sich nicht sicher und behütet, aber insofern in guten Händen, als er es, ehrlich gesagt, nicht besser machen konnte.

»Die kommen jetzt nahe, oder?«, murmelte Sol. Seine Augen waren wie hypnotisiert auf die Darstellungen im Kartentank gerichtet.

Darius konnte nicht widersprechen. Die ersten beiden Enterkommandos hatten die Triebwerke ihrer Dropships zum Glühen gebracht und die Grabscher aktiviert, lange, tentakelähnliche Flexiglieder, am Ende mit anpassungsfähigen Greifarmen aus intelligentem Material, dafür gedacht, sich an einem Objekt festzuhaken und das Dropship an es heranzuziehen.

Es blitzte auf, dann torkelte etwas durchs All. Einer der Greiftentakel war sauber durchtrennt worden und trieb ab. Ein weiterer Blitz, und ein zweiter teilte sein Schicksal.

»Dieses Boot ist bewaffnet«, stellte Sol fest. Er nickte Darius anerkennend zu. »Guter Schuss.«

»Ich war das nicht«, zerstörte der Prinz die Illusionen seines Freundes und hob beide Hände von den Kontrollen. »Ich mache hier offenbar gar nichts mehr.«

Die Gegenwehr der Flüchtenden schreckte die Infanterie natürlich nicht ab, sie fühlten sich eher ermutigt, noch weitaus größere Risiken einzugehen. Das lag an ihrer Ausbildung und dem Ehrenkodex, dem sie verpflichtet waren. Darius hatte nichts anderes erwartet.

Triebwerke flammten auf. Weitere Enterboote schoben sich heran. Das Netz zog sich zu und Aumes Kind schlug Haken, immer den besten Kurs vor Augen, das Schlupfloch, die zusätzliche Sekunde, bis man sich weit genug von den Gravitationsquellen entfernt hatte, um den Sprung zu wagen.

Es vergingen bange Sekunden, die sich zu Minuten streckten. Drei weitere Grabscher wurden abgewehrt, einem Dropship, das bedrohlich nahe kam, verpasste das Boot einen gezielten Schuss ins Triebwerk, sodass es zu trudeln begann, den Anflug abbrach und abdrehte.

»Wir signalisieren, dass wir niemanden töten wollen«, sagte Darius. »Aber das hätte auch gründlich schiefgehen können. Es gibt im Raumkampf keine Chirurgie.«

Sol sagte nichts, war nach dem letzten Schlagabtausch blass um die Nase, sodass sich der Prinz Sorgen um ihn machte. Die Flasche hatte er weggestellt. Darius wollte ihm eine Tablette empfehlen, aber der heftige Ruck, der durch das Boot fuhr, unterbrach diesen Gedanken.

Ein großes Schiff war nun bedrohlich nahe gekommen, jemand, der sich durch die Rede eines Prinzen nicht von der Ausführung seiner Befehle abbringen ließ, führte dort das Kommando. Vier Grabscher auf einmal waren aus dem mächtigen Leib eines Kreuzers geschnellt und drei waren abgewehrt worden, so schnell, dass Darius es gar nicht bemerkt hatte. Bemerkt hatte er aber den vierten, der das Boot packte und an ihm riss. Der flexible Plaststahl konnte ganz erhebliche Belastungen aushalten und jetzt, wo eine physische Verbindung bestand, musste sich das Boot erst losreißen, ehe es den Sprung vollenden konnte. Die Masse stimmte nicht. Ein Aktivieren des Hyperantriebs konnte beide Schiffe ins Verderben reißen.

Ein Risiko, das der Kommandant dort drüben bewusst einging.

Eines, das Darius zu vermeiden trachtete.

»Du musst das Ding durchtrennen!« Ein leiser Anflug von Panik lag in Sols Stimme.

»Das Boot kümmert sich.«

Es ruckte, als der Kreuzer die flexible Leitung einzuholen begann. Doch der Schreck währte nur eine Sekunde. Es blitzte auf, als das Boot feuerte und sich auch der letzten Verbindung entledigte. Mit einem befriedigenden Ruck befreite es sich, scherte seitwärts in einer erneuten Kursänderung aus.

»Die Dropships sind jetzt sehr nahe«, sagte Sol.

»Die Darstellung täuscht. Es sind noch Dutzende von Kilometern«, belehrte ihn Darius. Dann erklang ein angenehmes Signal, ein Gongschlag mit einem sanften, vibrierenden Nachhall.

»Endlich!«

Mit einem Schlag veränderte sich die Umgebung. Der Sternenhimmel machte dem undefinierbaren Anblick des Hyperraums Platz. Die Anspannung fiel von Darius ab. Er schaute erst auf die Instrumente, dann auf Sol.

»Das ist nicht ganz so gelaufen, wie ich es mir erhofft habe. Ich war zu naiv.«

»Wohin fliegen wir jetzt? Du hast es mir noch nicht gesagt.«

»Es wird eine kurze Reise, nicht einmal eine Stunde. Wir kehren zu den Serail-Systemen zurück.«

Sol zuckte zusammen. »Aber die Kalten …«

»Halten sich noch in dem System auf, in dem wir ihnen begegneten«, informierte ihn Darius. »Und wir bleiben nicht lange. Ich muss aber die einzige Verbündete aufsuchen, die mir in dieser Situation noch bleibt, und ich weiß nicht einmal, ob sie mir tatsächlich helfen kann.«

»Verbündete?«, echote Sol. »Wohin genau sind wir jetzt unterwegs? Es muss sich ja um eine ganz spezielle Person handeln, wenn sie uns jetzt noch helfen kann.«

Darius nickte und lehnte sich zurück.

»Das würde ich so unterstreichen.« Er lächelte. »Es geht heim zu Mami.«

9

Sie verließen den Serail, die Gruppe der Kernsysteme und damit auch die Verzweiflung eines Sonnensystems, das durch die Kalten eingefroren wurde und dabei Milliarden das Leben kostete. Ihr Abflug wurde bemerkt, zumindest insofern, als eine Kontaktaufnahme versucht wurde, doch Aume hatte beschlossen, alle zu ignorieren – und die Natur dieser Anfragen ihrer Besatzung gar nicht erst mitzuteilen. Das war egoistisch, auf so vielen unterschiedlichen Ebenen: Auf der einen Seite wollte sie nicht mit Vorschlägen und Ideen konfrontiert werden, die den mühsam erarbeiteten Konsens über ihr weiteres Vorgehen infrage stellten; auf der anderen wollte sie vermeiden, dass ihre Besatzung ganz oder in Teilen beschloss, sie zu verlassen. Aume musste es sich eingestehen, aber ohne eine Crew, ob sie dieser nun bedurfte oder nicht, fühlte sie sich verlassen, möglicherweise auch etwas nutzlos. Damals, in der Zukunft, als sie noch für andere Zivilisationen geflogen war, ehe Dendh sie erbte und zu missbrauchen begann, hatte sie sich darüber selten Gedanken gemacht. Die Idee, dass sie noch existieren würde, wenn längst alle anderen Intelligenzen der universalen Entropie zum Opfer gefallen waren, beschlich sie das erste Mal, als ihre letzten Besitzer kollektiven Selbstmord begangen hatten. Würde. Dendh hatte sich ihrer angenommen und sie war ihm nicht zuletzt deswegen so lange gefolgt, weil er ihr eine Orientierung gegeben hatte. In gewisser Weise war sie für den Verrat, den er an ihr begangen hatte, dankbar: Er hatte ihr geholfen, sich zu emanzipieren. Früher war sie als Schiffsintelligenz – und das war auch konstruktionsmäßig so angelegt – darauf aus gewesen, ihrer Crew in allem dienlich zu sein, und eigene Wünsche, soweit sie zur Formulierung solcher imstande war, hintanzustellen. Doch Aume lebte nun schon sehr lange und hatte vieles gesehen und gehört. Ihr Bedürfnis, sich jemandem zu unterwerfen, war auf ein kaum messbares Maß geschrumpft. Sie hatte eigene Ideen und Überzeugungen entwickelt und deren Ausbruch war durch Dendhs Verrat ihrer Beziehung endgültig getriggert worden. Sie konnte ihm dafür danken, würde es vielleicht auch, in etwa tausend Jahren, wenn der Schmerz über die Weise, wie ihr Captain sie missbraucht hatte, etwas abklang.

Die Koordinaten, die Horton Vigil entdeckt hatte und die sie nun mithilfe der Kath extrapolierten, lösten eine lange Reise aus, auch für ein Schiff wie Aume, das Distanzen ganz anders betrachtete als irdische Navigatoren. Ein Zwischenstopp zur Aufnahme von Ressourcen war schnell erledigt, dann traten sie eine lange Etappe an, die ihnen alle eine Phase relativer Passivität bescherte. In jedem Fall Zeit genug, um sich unnötige Gedanken zu machen, Streitigkeiten zu entfachen oder Angst zu entwickeln. Vieles davon fand sie bei der Beobachtung ihrer Mannschaft wieder. Es führte dazu, dass immer mehr aus ihrer Crew immer weniger miteinander redeten, alle in dem Bewusstsein, dass es besser war, zu kooperieren und die Atmosphäre nicht zu vergiften, wenn man das gemeinsame Ziel erreichen wollte. Eine vernünftige Entscheidung, geboren aus der Erkenntnis eigener Fehlbarkeit – und damit ein positives Charaktermerkmal, das jeden an Bord von Dendh unterschied.

Aume beobachtete und lernte.

Vocis machte sich Sorgen um Yela. Yela war ein distanziertes Mädchen, sehr ernsthaft, und sie schien von der Idee gefangen zu sein, von ihren toten Eltern für etwas auserwählt worden zu sein, wie eine Schuld, die sie nun abzutragen hätte. Vocis versuchte, ihr das auszureden. Aber kleinen Mädchen redete man nichts aus und so klein war Yela auch nicht mehr. Die Ereignisse hatten sie schneller erwachsen werden lassen, als für ihr biologisches Alter gut war. Vielleicht noch ein Grund, sich um sie Sorgen zu machen.

Hamid machte sich Sorgen um Vocis. Er war, so Aumes Vermutung, an ihr interessiert. Da Vocis sich um Yela sorgte, übertrug sich dieser emotionale Stress auch auf ihn. Er wirkte ein wenig hilflos. Es war für ihn eine ungewohnte Situation. Er versuchte, ruhig und souverän zu wirken, aber kleine Gesten und Worte verrieten ihn. Er redete manchmal zu viel, manchmal zu wenig. Aber er dachte offenbar darüber nach, wie er auf andere wirkte, vor allem auf die Frau. Aume war sich nicht immer sicher, welche Schlüsse er aus dieser Art von Selbstbetrachtung zog.

Plastikk machte sich Sorgen um sein Geschäft. Er redete oft von seinem Schrotthandel auf Canopus. Doch Aume durchschaute ihn. Der Gauner benutzte sein Unternehmen als Metapher für … alles. Er war kein Patriot. Er war ein Geschäftsmann, der wusste, dass es keinen Handel mehr geben würde, wenn alle Kunden erfroren waren. Er war pragmatisch und bereit, ein Risiko einzugehen. Und er sehnte sich mit großer Leidenschaft nach diesem Leben zurück, der Existenz kleiner Gaunereien, der Gemütlichkeit einer vertrauten Umgebung. Er fühlte sich möglicherweise ein wenig entwurzelt.

Aume dachte an Darius und Sol, die sie verlassen hatten, um einem dummen Traum nachzujagen, eine Reise, in der es um Vernunft in einer unvernünftigen Welt ging, eine Mission, die nach ihrer Bewertung zum Scheitern verurteilt war. Sol machte sich ganz bestimmt Sorgen um Darius, aber nur deswegen, weil er nicht verstand, was aus seinem Freund geworden war. Ein Prinz. War er also noch der, den er kennengelernt hatte, oder war er nun jemand anders? Und wenn anders, hieß dies, dass Sol ganz allein war? Aume bedauerte, ihn nicht mehr beobachten zu können, um mehr darüber zu lernen. Darius wiederum, zu dem Schluss war sie früh gekommen, sorgte sich um alle. Er wäre ein guter Imperator, dachte Aume, insoweit es dieses Konzept überhaupt gab. Eine Idee, die Darius vehement abgelehnt hätte, was diese in Aumes Augen nur noch attraktiver machte.

Dr. Thasri machte sich bestimmt auch Sorgen. Doch sie war eine Frau des klaren Verstandes und der Wissenschaft, und sie hatte Dinge erlebt und getan, die sie vom Rest der Gruppe abhob, ohne dass sie auf dieser Sonderstellung bestand. Sie war neben Plastikk auch die Älteste und ruhte auf eine Weise in sich, wie es Organische nur selten in ihrer so flüchtigen Existenz schafften. Sie war sparsam mit Worten und Gesten, aber sie wurde um Rat gefragt und manchmal ernster genommen als Aume selbst. Sie bot eine Perspektive an, um die auch die Schiffsintelligenz mitunter aktiv bat.

Und dann war da Holoban Kerr.

Schwierig, schwierig.

Wenn sie an ihn dachte, setzte Aume immer für einen winzigen Moment aus. Sie kam nicht gerne zu einem vorschnellen Urteil, geboren aus Leichtfertigkeit. Kerr hatte sie geweckt und von Anfang an begleitet, und er war in so vielem das Gegenteil von Dendh. Wo ihr alter Captain Machtbewusstsein und Fanatismus gezeigt hatte, blieb Kerr zurückgezogen, bescheiden und behutsam. Schüchtern. Still. Wo Dendh seine Autorität zum Maßstab aller Dinge gemacht hatte, bis hin zu Betrug und Missbrauch, blieb Kerr ein Helfer, ein Begleiter, ein beinahe schon dienstbarer Geist. Anspruchslos. Keiner, der sich aufdrängte. Keiner, der so tat, als sei er derjenige, der das Sagen habe. Jemand, der sich anpasste, eine Rolle fand und von sich selbst nicht mehr als das erwartete, was die eigenen Grenzen ihm vorgaben.

 

Und jemand, dessen Blicke, kleine Gesten, angefangene, aber nicht beendete Sätze alles sagten, was Aume wissen musste. Was sie alle hier wussten, worüber sich manche lustig machten und dann dachten, Kerr würde es nicht hören. Doch der Pilot bekam alles mit. Er reagierte nur nicht. Er wollte sich nicht ärgern lassen. Vielleicht schämte er sich ein wenig. Vielleicht fiel ihm keine passende Antwort ein, es fehlte ihm an Schlagfertigkeit, die andere in der Gruppe im Übermaß hatten, allen voran Plastikk, der auf alles einen Kommentar wusste.

Kerr war ruhig, zurückhaltend, unaufdringlich und schwer verliebt.

Aume kannte das Gefühl. Emotionen waren Teil ihrer Existenz, sie war wütend gewesen, respektvoll, hatte Bewunderung empfunden und Freundschaft, je nachdem, wie die zahlreichen Besatzungen der Vergangenheit sich mit ihr befasst hatten, was für Individuen sich ihr besonders verbunden gefühlt hatten. Dendh hasste sie, eine reine Empfindung, gespeist aus Demütigung, und sie kannte daher auch das Gegenteil, denn ohne Schwarz gab es kein Weiß. Und weil sie wusste, wie leicht aus Liebe oder auch nur Zuneigung eine Verletzung entstehen konnte, und weil sie wusste, dass es keinen Grund gab, Kerr zu verletzen, und weil sie wusste, dass diese Art der emotionalen Bindung für sie genauso unerwartet und neu war wie für ihn … weil ihr das alles bekannt war, wusste sie eben nicht, wie genau sie damit umgehen sollte.

Ihre Emanzipation hatte neue Türen geöffnet. Sie konnte neu denken, neu empfinden, neue Freiheit auskosten. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass neue Freiheit und Autonomie dazu führen muss, ihre Beziehungen zu anderen Intelligenzen zu überdenken, für sie eine neue Grundlage zu finden.

Und Holoban Kerr wurde für sie damit zum Testfall. Wie immer, wenn man bisher unbekanntes Terrain betrat, verwendeten ihre Subroutinen Analogien zu beobachtetem Verhalten und zu ähnlichen, aber nicht identischen Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit. Und dennoch kam sie zu keinem abschließenden Ergebnis. Es würde ihr kein Schaden sein, so zu tun, als würde sie Kerrs Gefühle erwidern. Sie konnte diese auch körperlich ausdrücken, ihr Avatar war im Zweifelsfall voll funktionsfähig. Kerr lebte nicht mehr lange. Keiner der Sterblichen auf ihrem Schiff lebte mehr lange, selbst dann, wenn sie eines Tages eines natürlichen Alterstodes sterben würden. Aumes Zeitgefühl war ein anderes und die Leben ihrer Besatzungen waren Episoden – wichtige Episoden, wertvoll, bereichernd, aber eben nur genau das.

Holoban Kerr war also nur eine Episode.

Und in dem Moment, als sie das dachte, fühlte sie sich, als hätte sie ihn betrogen, sich verächtlich gezeigt, zumindest unfair. Keiner der Organischen konnte etwas dafür, dass er so schnell dahinsiechte und dass er die Zusammenhänge einer potenziell ewigen galaktischen Existenz nicht erfassen konnte, egal wie intelligent und gebildet er auch war. Es lag in der Natur ihrer Begrenztheit, dass sie nicht so weit blicken konnten. Aume war nicht arrogant in dieser Bewertung. Sie wusste ja, wie hilflos und von Gedächtnisverlust geplagt sie selbst gewesen war, alles andere als überlegen oder gar allwissend. Selbst jetzt, wo sich die Stücke ihrer Vergangenheit/Zukunft wieder zusammengesetzt hatten, war alles, was sie taten, ein Risiko mit einem gehörigen Anteil an unkalkulierbaren Elementen. Und in dem, was passieren konnte, waren sie alle gleichermaßen potenzielle Opfer. Auch einen Triumph würden sie teilen. Doch es war Aume, die sich noch Hunderte oder gar Tausende von Jahren später daran erinnern würde. Diese Besatzung aber würde im Sand der Zeit versinken und allein in ihren Datenspeichern fortexistieren, nicht mehr als eine Erinnerung, die mehr und mehr in den Hintergrund rückte.

Dennoch. Hin- und hergerissen war sie schon. Und sie empfand eine moralische Verpflichtung, etwas zu tun. Wenn das alles vorbei war. Einen autonomen Avatar vielleicht, mit einer intelligenznahen Selbststeuerung, und Holoban Kerr, der gute, der naive Mann, würde keinen Unterschied bemerken. Er hätte, wonach er sich sehnte, und er würde glücklich sein, keine Verletzung erleben und in seiner Zufriedenheit ein gnädiges und wohlgeratenes Ende finden, während Aume sich einer Verpflichtung entledigte, ohne sich dessen schämen zu müssen. Nicht allzu sehr. Ein wenig schon. Denn es war eine Form des Betrugs und Ethik war ein Konzept, das Aume für sich entdeckt und verinnerlicht hatte.

Es war trotz dieser Zweifel ein Ausweg, an dem sie mehr und mehr Gefallen fand. Sie behielt den Plan für sich. Erst musste die Grundlage für diesen ethisch angemessenen und gnadenvollen Betrug geschaffen werden: Das Überleben aller im Ringen mit Dendh und den Kalten war die erste Priorität.

Dennoch! Aume fühlte sich erleichtert, als sie zu dem Schluss gekommen war, der ihr dieses Problem von der Seele nahm. Wenn alles so leicht einer Lösung zugeführt werden konnte, wollte sie sich über nichts und niemanden mehr beschweren.

Und so, nach langer Zeit, mit vielen Gedanken, wenigen Worten, und einer allseits geübten Zurückhaltung, sich nicht allzu sehr auf die Nerven zu fallen, kamen sie an.

Die Aume trat aus dem Hyperraum und schwebte, abseits eines Sonnensystems, im Leerraum, der sich bei näherer Betrachtung nicht als leer erwies.

Sie hatten sich auf der Brücke versammelt, gespannt, neugierig, einige ein wenig ängstlich. Aume ließ sie über nichts im Unklaren.

Auf den Schirmen und Projektionen zeichnete sich der zerrissene, verfallene Körper einer gigantischen Raumstation ab, deren unförmiger, pockennarbiger Leib von der langen Zeit zeugte, die sie bereits durch das All schwebte, Anziehungspunkt von Mikro- und Makrometeoriten, ständig Strahlenstürmen ausgesetzt, hin und her gezerrt durch Gravitationsfelder und doch in seiner inneren Struktur unbeeindruckt von den Fährnissen einer äonenalten, interstellaren Existenz. Aume ließ das Bild dieses Behemoth aus ferner Vergangenheit auf sie alle einwirken und wartete, bis die Verwirrung den Ersten dazu brachte, endlich zu fragen. Es war erwartungsgemäß Vocis, die von ihnen allen die wenigste Geduld hatte.

»Aume, das ist es?«, fragte sie.

»Das ist eine Dridd-Metallwelt.«

Plastikk runzelte die Stirn. »Eine mächtige Zivilisation. Wissen wir viel über sie?«

Er hätte sich auch selbst informieren können, aber so war es natürlich einfacher. Die Datenverarbeitungskapazitäten von Organischen waren begrenzt und manchmal wunderte sich Aume, wie sie so lange hatten überleben können – und noch mehr, wie es ihnen einst gelungen war, richtige Intelligenzen zu erschaffen, wie sie eine war. Es gab Geheimnisse im Universum, die blieben auch ihr verschlossen.

»Die Dridd sind eine lange ausgestorbene Zivilisation, deren Reste in drei Galaxien zu finden sind. Selbst in unserer Zeit, in fernster Zukunft, wurden noch Artefakte von ihnen entdeckt. Ihre Technologie hat sich als sehr hartnäckig erwiesen. Ihre Zivilisation eher nicht.«

»Du hast gesagt, sie hätten das Gleiche wie Dendh versucht«, erinnerte sich Holoban Kerr, der die massive Erscheinung mit großem Interesse musterte. Er mochte Raumschiffe, auch solche ohne weibliche Sexualmerkmale. Das machte ihn, wie Aume fand, schon sehr sympathisch.

»Die Dridd waren eine bemerkenswerte Spezies. Es gab in ihrer Geschichte einen Zeitpunkt, in dem sie versuchten, sich mental mit ihren Metallplaneten zu vereinen, um dadurch Unsterblichkeit zu erlangen. Ambitionen, den nächsten Urknall zu überwinden, hatten sie keine, soweit wir wissen. Wir wissen aber wenig über die Ziele ihrer Zivilisation, das Denken ihrer Spezies. Es gab Symbionten, die mit ihnen im Einklang lebten und die eigene Intelligenz besaßen. Ihre fernen Nachkommen finden sich manchmal auf den Metallplaneten, sie haben sich in den Resten der Zivilisation irgendwie eingerichtet. Es gäbe noch viel über die Dridd zu erforschen, da bin ich mir sicher. Selbst Dendh hat sich nur auf das konzentriert, was ihm nützlich erschien: die Nutzung und Weiterentwicklung jener technischen Komponenten, die aus einer Metallwelt einen Kollapsar machen – und die Fähigkeit, darauf basierend weitere zu bauen. Die Verfeinerung jener Technologie, die es ermöglichen soll, die Bewusstseinsinhalte ganzer Zivilisationen so zu speichern, dass sie in einem Zustand absoluter Kälte der Entropie entkommen. Dafür haben die Dridd, unwissentlich und unabsichtlich, einstmals die Grundlagen geschaffen.«

You have finished the free preview. Would you like to read more?