Person und Religion

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Ciril Rütsche

Person und Religion

Eine Darstellung der Religionsphilosophie Dietrich von Hildebrands

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0025-6

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Inhalt

  Vorwort

  EINLEITUNG

  1 Die immanente Weltanschauung und der Szientismus

  2 Sinn und Transzendenz

  3 Die verschiedenen Bedeutungen von „Transzendenz“

  4 Das Thema der Arbeit

  5 Forschungsziel und Methode

  6 Was ist „Realistische Phänomenologie“? 6.1 Die Vorboten des phänomenologischen Realismus 6.2 Husserls Beiträge zur Beantwortung der „Kardinalfrage der Erkenntnistheorie, die Objektivität der Erkenntnis betreffend“ 6.3 Die Grenzen der husserlschen Phänomenologie als Ausgangspunkt des phänomenologischen Realismus

  7 Von Hildebrands „Was ist Philosophie?“ als grundlegende Schrift zur Methode der Realistischen Phänomenologie und die Frage nach der Originalität seines Beitrags 7.1 Welche Art von Erfahrungsunabhängigkeit bedingt das apriorische Erkennen? 7.2 Die Differenzierung der Seienden in drei grundsätzlich verschiedene Arten als Wegbahnung zum apriorischen Erkennen

  8 Stand der Forschung

  9 Zusammenfassung

  I DAS WISSEN UM DAS TRANSZENDENTE

  1 Immanuel Kant und der Schritt von der Transzendenz zum transzendentalen Immanentismus 1.1 Humes Kritik am Kausalprinzip und Kants kopernikanische Wende 1.2 Von den Unterschieden zwischen analytischen und synthetischen Urteilen und Erkenntnissen a priori und a posteriori 1.3 Was also versteht Kant unter „synthetischen Urteilen a priori“, und wie steht es mit der Möglichkeit derselben?

 2 Dietrich von Hildebrands Kritik an Kants transzendentalem Immanentismus und seine Begründung der Transzendenz in der Erkenntnis2.1 Die Äquivokation des Begriffs der Erfahrung2.2 Die verschiedenen Arten des Soseins und der Unterschied zwischen empirischer und apriorischer Erkenntnis2.2.1 Das epistemologische Apriori als absolut gewisse Erkenntnis höchst intelligibler und wesensnotwendiger Sachverhalte2.2.2 Sind die apriorischen Erkenntnisse blosse Tautologien?2.3 Absolute Gewissheit bei der Erkenntnis eines individuellen Sachverhalts?2.4 Die Frage nach dem Gewissheitskriterium, die Seinsweise der notwendigen Wesenheiten und ihr metaphysischer Ort2.5 Das überaktuelle Wissen und die Religion

  3 Die Frage nach der Erkennbarkeit der Aussenwelt und ihr Botschaftscharakter

  4 Zusammenfassung

  II DIE ERKENNTNIS GOTTES

  1 Der kosmologische Gottesbeweis und das apriorische Erkennen

  2 Die Ursache des Person-Seins

  3 Gott als Inbegriff aller Werte 3.1 Das Seiende und der Wert 3.2 Die Wertfamilien 3.3 Die Werterkenntnis 3.4 Die Werte als Hinweis auf den Inbegriff aller Werte

  4 Warum hielt von Hildebrand das ontologische Argument für ungültig? 4.1 Das Argument in der Darlegung durch Anselm von Canterbury 4.2 Gaunilo und die erste Kritik am ontologischen Argument 4.3 Die Einwände gegen das ontologische Argument durch Thomas von Aquin und Immanuel Kant 4.4 Die reinen Vollkommenheiten als Gültigkeitsgrund des ontologischen Arguments 4.5 Dietrich von Hildebrands implizite Bejahung des ontologischen Arguments 4.6 Was spricht eigentlich dafür, dass die Werte in Gott gründen, ja brauchen die Werte überhaupt einen Seinsgrund? – Einige Gedanken zum werttheoretischen Gottesbeweis

 5 Die Probe aufs Exempel: Prüfung der (Un-)Vernünftigkeit dreier moderner bzw. postmoderner Kritiken an der Religion5.1 Der Mensch als Seinsgrund Gottes in Ludwig Feuerbachs anthropologischer Theologie5.1.1 Feuerbachs Thesen5.1.2 Feuerbachs erkenntnistheoretische Prinzipien5.1.3 Die Zurückweisung des ontologischen Gottesbeweises5.1.4 Die Begründung seiner Behauptungen5.1.5 Kritik an Feuerbachs Religionskritik5.2 Ludwig Wittgensteins Behauptung der Unsinnigkeit religiöser Aussagen5.2.1 Sprache und Wahrheit5.2.2 Sind die religiösen Aussagen tatsächlich unsinnig?5.2.3 Das Ineinander von Philosophie und Religion5.3 Richard Dawkins und der „Neue Atheismus“5.3.1 Thesen und Begründung5.3.2 „Omne vivum ex vivo“5.3.3 Bewusstsein als Evolutionsemergent?

  6 Zusammenfassung

  III DER MENSCH UND SEIN ANGELEGTSEIN AUF DIE RELIGION IN DENKEN, FÜHLEN UND WOLLEN

  1 Augustinus, Boethius, Locke, die Annäherung an das Wesen der Person und die Frage nach der unübersteigbaren Vollkommenheit des Personseins

  2 Das Zusammenwirken und gegenseitige Befruchten von Vernunft, Wille und Herz und das geistig-intentionale affektive Leben der Person

  3 Die affektiven Antworten und die mitwirkende Freiheit

  4 Ist die Religion dem Menschen ein Bedürfnis?

 5 Bedeutsamkeit und Motivation5.1 David Hume und der ethische Naturalismus oder Die Motivation durch das subjektiv Angenehme5.2 John Stuart Mill und der qualitative Utilitarismus oder Die Motivation durch das modifiziert subjektiv Angenehme5.3 Aristoteles und die Motivation durch das objektive Gut für die Person5.4 Dietrich von Hildebrand und die Motivation durch den Wert5.4.1 Der Wert und das subjektiv Befriedigende im Vergleich5.4.2 Das objektive Gut für die Person5.4.3 Warum ist der Wertethik der Vorzug zu geben vor der eudaimonistischen, der hedonistischen und der utilitaristischen Ethik?

  6 Die objektive Gebührensbeziehung, die sittlich bedeutsamen Werte und der Unterschied zwischen Wert und Gut

 

  7 Die Wertantwort

  8 Peripherie und Tiefe

  9 Die verschiedenen Bereiche der Träger sittlicher Werte 9.1 Die Grundstellung und die moralischen Zentren 9.2 Die Sphäre der Antworten auf individuelle Güter 9.3 Die Sphäre der Handlungen 9.4 Die Sphäre der Grundhaltungen 9.5 Die Grundintention, die Grundhaltung und die sittliche Identität der Person

  10 Daniel Dennett und die Bedingungen der Personalität

  11 Wert und Glück

  12 Zusammenfassung

  IV DIE LEBENDIGE VERBINDUNG DES MENSCHEN MIT GOTT

 1 Die Bewegungsumkehr der Liebe oder Gott als Initiator des Dialogs1.1 Die Forderungen der sittlich bedeutsamen Werte und das Gewissen1.2 Die reduktionistische Erklärung des Sigmund Freud1.2.1 Dostojewskis Starez Sossima im Lichte der Theorie Freuds1.2.2 Die Forderung des Gewissens, die angemessene Antwort und das Glück1.3 Der „ordo amoris“ und das Phänomen der Wertblindheit1.3.1 Die Grundstellung und die totale konstitutive Wertblindheit1.3.2 Die Antworten auf individuelle Güter und die Subsumptionsblindheit1.3.3 Die Handlungen und die Abstumpfungsblindheit1.3.4 Die kategorialen Grundhaltungen und die partielle Wertblindheit1.4 Hat Feuerbachs Nichterkennen der Existenz Gottes moralische Gründe?1.5 Sossimas Wandel1.6 Intersubjektiver Konsens in ethischen Fragen? Kants „kategorischer Imperativ“ im Vergleich mit einigen der einschlägigen Prinzipien der phänomenologischen Wertethik1.6.1 Kants kategorischer Imperativ in der Kritik durch Dietrich von Hildebrand1.6.2 Änderte Kant seine philosophische Grundrichtung?1.6.3 Schelers Kritik am allgemeingültigen Sollen1.7 Erstreckte sich Schelers und von Hildebrands Übereinstimmung in der Zurückweisung der Kant’schen Ethik auch auf die Religionsphilosophie?1.7.1 Schelers werttheoretische Begründung der Religionsphilosophie1.7.2 Pantheismus und Selbstdeifikation

 2 Die Antwort des Menschen2.1 Die Ehrfurcht als Grundlage und Anfang der „religio“ und die Wachheit als allgemeine Resonanzfähigkeit des Geistes2.1.1 Die Ehrfurcht2.1.2 Die Wachheit2.2 Die übernatürliche oder die christliche Sittlichkeit2.3 Einige spezifisch religiöse Akte und Haltungen2.3.1 Die Reue2.3.2 Die Demut2.3.3 Die Dankbarkeit2.4 Die Gottesliebe als höchste Wertantwort2.4.1 Die Bestimmung des menschlichen Glücks bei Thomas von Aquin2.4.2 Die Gottesliebe im Verständnis von Dietrich von Hildebrand und seine Kritik an der Deutung der Gottesliebe bei Thomas von Aquin2.5 Die beiden Vollkommenheiten der Wahrnehmung – das Notionsthema und das kontemplative Thema2.6 Die religiöse Kontemplation2.7 Die weitere Entwicklung des Dialogs2.7.1 Das Verhältnis von sittlichem Sein und ethischer Werterkenntnis2.7.2 Die geschenkhafte Umwandlung der Person2.7.3 Die Nächstenliebe

  3 Die Kirche als vollkommenste Gemeinschaft und als höchstes objektives Gut für die Person

 4 Über die in die Ewigkeit verlaufenden Sinnlinien menschlicher Existenz4.1 Unsterblichkeit und ewiges Leben4.2 Die metaphysische Gebührensbeziehung

  5 Zusammenfassung

  V SCHLUSS

 LiteraturverzeichnisVerwendete Werke Dietrich von HildebrandsEine Auswahl an Schriften über Leben und Werk Dietrich von HildebrandsQuellen- und Literaturverzeichnis zur EinleitungQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt I: Das Wissen um das TranszendenteQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt II: Die Erkenntnis GottesQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt III: Der Mensch und sein Angelegtsein auf die Religion in Denken, Fühlen und WollenQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt IV: Die lebendige Verbindung des Menschen mit Gott

  Register

Vorwort

Das Werk Person und Religion. Eine Darstellung der Religionsphilosophie Dietrich von Hildebrands von Dr. Dr. Ciril Rütsche ist meines Wissens das erste über dieses Thema. In der Einleitung wird der Forschungsgegenstand nicht rein historisch als Darstellung der Religionsphilosophie Hildebrands und deren Hintergründe aus anderen Gebieten der Philosophie, sondern im Sinne eines echten „symphilosopheins,“ eines Mit-Philosophierens mit Hildebrand, bestimmt. So etwa schreibt der Autor gleich zu Beginn der Einleitung:

Da die absolute Wahrheit in von Hildebrands Weltanschauung einen archimedischen Punkt einnahm und er ihre Erkennbarkeit auch zu begründen wusste, wird in dieser Arbeit zugesehen, ob und wenn ja, inwiefern die Religion Gegenstand philosophischen Erkennens ist und damit als vernünftig erwiesen werden kann.“ Oder, etwas später in der Einleitung; „Bietet die Relation zwischen Mensch und Gott die epistemologische Möglichkeit, gewisse Züge mit absoluter Gewissheit erkennen zu können? Das muss sich erweisen … Wobei dies freilich, wie bereits an dieser Stelle festgehalten werden kann, in erster Linie davon abhängt, ob der Mensch die objektive Wahrheit erkennen und sich und seine Welt transzendieren kann, wie auch, ob Gottes objektive Existenz sich überhaupt begründen lässt.

Und wiederum, noch deutlicher:

Das Forschungsziel besteht in diesem Rahmen schliesslich im Aufweis der Religion als einem Dialog zwischen Mensch und Gott. Kann von diesem Dialog erwartet werden, dass er die entscheidenden Fragen des Menschen zu beantworten, sein Bedürfnis nach Transzendenz zu befriedigen und sein Leben sinnvoll zu gestalten vermag? Um diese Frage beantworten zu können, ist es angezeigt, dass in einem ersten Schritt die Möglichkeit der Erlangung transzendenter Erkenntnisse begründet wird. Eine Aufgabe, die in wesentlichen Stücken in der Überwindung des Immanentismus und Subjektivismus Kantscher Prägung besteht, wobei auch der Erfahrung Rechnung zu tragen sein wird (vgl. Abschnitt I). Im Anschluss sei geprüft, wie es um die Erkenntnis Gottes und die dagegen erhobenen Einwände bestellt ist (vgl. Abschnitt II), um sodann das Wesen und die Gottfähigkeit des Menschen zu besprechen (Abschnitt III), sie daraufhin als mit Leben gefüllte Realität zu untersuchen und schliesslich die religiösen Aussagen und Überzeugungen betreffend den Zustand nach dem irdischen Tod kognitiv zu deuten und auf ihre Vernünftigkeit hin zu erörtern (Abschnitt IV). Was alles, wie gesagt, auf der Grundlage der philosophischen Einsichten Dietrich von Hildebrands unternommen wird. In die Diskussion werden dabei solch namhafte Denker einbezogen wie Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Ludwig Feuerbach, Friedrich Nietzsche oder Max Scheler, um hier nur einige zu nennen.

Nach einer Darstellung der Grundzüge der „realistischen Phänomenologie“ und ihrer Loslösung von Husserls 1913 vollzogenen transzendentalen Wende und der Absichtserklärung des Autors, auf dem methodologischen Fundament der realistischen Phänomenologie im Sinne Hildebrands die systematischen, von ihm aufgeworfenen Fragen zu behandeln, bestimmt Rütsche den näheren Gegenstand seiner Arbeit noch einmal in einem doppelten, historischen und systematischen Sinn:

1 Er will die Forschungslücke schließen, die auf dem Gebiet der Erforschung der Religionsphilosophie Hildebrands besteht. Diese wurde von Hildebrand selber nie in der Religionsphilosophie gewidmeten systematischen Publikationen, sondern nur in verschiedenen handgeschriebenen Vorlesungsmanuskripten aus dem Nachlass relativ systematisch dargestellt.

2 Zugleich will er jedoch Hildebrands sich vom Autor selber weitgehend zu eigen gemachte Philosophie auf eine Kritik der Religionskritik anwenden: „Ausstehend ist auch eine unterscheidende Inblicknahme der gegenwärtig gleichsam in der Luft liegenden Kritiken an der Religion im Lichte der philosophischen Beiträge von Hildebrands. Zur Behebung dieser und weiterer Mängel will die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten.“

Der erste Abschnitt, „Das Wissen um das Transzendente“, behandelt den allgemeinen phänomenologischen Realismus Hildebrands, der dessen Erkenntnistheorie kennzeichnet, die von Dietrich von Hildebrand selber in seinen Schriften Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens, What is Philosophy?, aber auch in den Prolegomena zu Ethik, zu Das Wesen der Liebe, sowie in „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt“ und anderen Werken ausführlich dargelegt wurde.

Rütsche faßt die Hauptinhalte der Erkenntnistheorie Hildebrands nicht nur sehr treffend zusammen, sondern stellt ihren Grundriß, wiederum im Sinne eines Mit-Philosophierens, synthetisch, aber sehr präzise dar. Im Mittelpunkt von Rütsches sehr gründlicher Darstellung der Kritik Hildebrands am Erfahrungsbegriff Humes und Kants und seiner Begründung eines philosophischen Realismus steht die Frage, wie – auf Grund der Hildebrand’schen Unterscheidung dreier verschiedener Arten von Wesenheiten – eine Einsicht in das transzendente Fundament synthetischer Urteile a priori möglich ist. Rütsche teilt die der Kantischen konträre Position Hildebrands, daß die sogenannte „Erkenntnis a priori“ in dem Geist transzendenten notwendigen Wesenheiten, die dem erkennenden Subjekt zugänglich sind, den Grund ihrer Möglichkeit besitzt, nicht in subjektiven Strukturen oder Denknotwendigkeiten des Subjekts. Damit ereignet sich bei Hildebrand eine radikale und scharsinnig rational durchdachte Abkehr von dem Subjektivismus der Kantischen, Hume’schen, sowie dem Großteil nachfolgender Philosophien.

Auch die an Hildebrands Darlegung des realistisch verstandenen Cogito-Arguments1 anschließenden Darlegungen des Autors zu einer dem erkennenden Subjekt transzendent existierenden realen Welt – der eigenen Person, der „Außenwelt“ und anderer Personen – nehmen in diesem Abschnitt der Arbeit Rütsches eine wichtige Rolle ein.

Der zweite Abschnitt, „Die Erkenntnis Gottes“, faßt die von Hildebrand nirgends gesamtheitlich dargelegten Beiträge zusammen, die in verschiedensten Werken verstreut vorliegen, nun aber von Rütsche in ihrer systematischen Einheit dargestellt und in einen Dialog mit verschiedenen Formen des Atheismus und der Religionskritik im 19. Und 20. Jahrhundert von Feuerbach bis Richard Dawkins gebracht werden.

Dabei erörtert Rütsche im Kontext der in Hildebrands Philosophie steckenden Schlüssel zu Widerlegung des dem „neuen Atheismus“ zugrundeliegenden radikalen Materialismus auch wesentliche Analysen Hildebrands zur philosophischen Anthropologie und entwickelt insbesondere seine Einsichten in die Geistigkeit der Person und der menschlichen Seele, sowie seine Kritik des Materialismus, noch weiter als sie von Hildebrand selber formuliert wurden. Er betont die besondere Rolle der Werte und ihrer „Frohen Botschaft“, die Hildebrand mehr als Hinweise auf Gottes Existenz, denn als Beweise auffaßt. Rütsche versucht nachzuweisen, wie auf dem Boden der auf Anselm und Duns Scotus entwickelten Lehre der „reinen Vollkommenheiten“ Hildebrands philosophische Theologie echte Gottesbeweise hätte bieten können und auch dem ontologischen Gottesbeweis hätte zustimmen müssen, und wie dieser sich gleichsam logisch aus Hildebrands Position ergibt, obwohl Hildebrand selber ihn in seinen Schriften abgelehnt hat.2

 

Im dritten Abschnitt, „Der Mensch und sein Angelegtsein auf die Religion in Denken, Fühlen und Wollen“ behandelt Rütsche zunächst den metaphysischen Personalismus Hildebrands, der auf der „unübersteigbaren Vollkommenheit des Personseins“ beruht. Dabei ergänzt Rütsche Hildebrand durch die von Anselm und Scotus entwickelte Lehre der reinen Vollkommenheiten und deren Weiterentwicklung in der nachhildebrand’schen realistischen und metaphysischen Phänomenologie und überwindet einige Einwände gegen den Charakter des Personseins als unübertreffliche Vollkommenheit. Diese erkennen zu können stellt die Bedingung für die Wahrheit der These Hildebrands über Gott als absolute Person und für die christliche trinitarische Gotteslehre dar.

Um die Beziehung der menschlichen Person zu Gott, um die es in diesem Abschnitt geht, darzustellen, geht Rütsche ausführlich auf Hildebrands ethische Grundthese der „Wertantwort“ als Rückgrat des moralischen Lebens der Person ein. Deren Anwendung auf die Religionsphilosophie führt dazu, in erster Linie nicht von einem menschlichen Religionsbedürfnis zu sprechen, wie dies viele immanentistische Religionspsychologien und Religionsphilosophien tun, sondern den tiefsten religiösen Akt der Gottesliebe, der Anbetung und des Lobpreises Gottes als Antwort des Menschen auf Gott um seiner selbst willen zu sehen, weil Gott Liebe und Lobpreis gebühren.3 Nur in der Hingabe an das in sich Wertvolle und an Gott als dessen Inbegriff um seiner selbst willen kann es auch zum wahren Glück und der höchsten Selbstverwirklichung der menschlichen Person kommen.

In seiner Analyse des Wesens der Person stützt Rütsche sich im Sinne einer echten Aneignung der philosophischen Einsichten Hildebrands insbesondere auf dessen ethische Untersuchungen und seine sehr originellen und wesentlichen, wenn nicht revolutionären, Beiträge zum „Herzen“ als Sitz menschlicher Affektivität und als drittes, dem Intellekt und Willen nicht unterlegenes, geistiges Zentrum der Person.

Der vierte Abschnitt, „Die lebendige Verbindung des Menschen mit Gott“, erörtert ein weites Spektrum der Beiträge Hildebrands zur Religionsphilosophie und zur Erkenntnis des Wesens verschiedener religiöser Akte und Haltungen wie der Demut, der Reue, der Gottes- und Nächstenliebe, und insbesondere der Hildebrand’schen These, daß wir in der Caritas und anderen christlichen Tugenden eine zutiefst neue moralische Vollkommenheit finden, welche die Tugenden, die nicht auf die von der Christlichen Offenbarung offenbarte Schau Gottes und des Menschen antworten, überragen. Diese Haltungen und Tugenden werden zwar vom Glauben an die Mysterien der christlichen Religion motiviert, besitzen jedoch echte, philosophischer Einsicht zugängliche Wesenheiten, welche es auch einem Nichtchristen, wie Bergson, erlaubten, eine überlegene moralische Qualität und Sublimität der christlichen Mystiker und Heiligen anzuerkennen.4 Diese sich an einige Analysen Schelers anlehnenden, aber nach Umfang und Qualität weit über dieselben hinausgehenden Untersuchungen Hildebrands ermöglichen es dem Christen, eine innige Verbindung zwischen seiner Vernunft und seinem Glauben wahrzunehmen.

Ein Schlußteil faßt die wesentlichsten Ergebnisse der Arbeit zusammen.

Dem Autor gelingt eine sehr gute und umfassende Darstellung verschiedener Grundinhalte der Philosophie Hildebrands und deren Anwendung auf die Religionsphilosophie, sowohl auf die philosophische Gotteserkenntnis als auch auf die Erforschung der Beziehung des Menschen zu Gott. Das Werk Rütsches holt so weit aus, und behandelt so viele erkenntnistheoretische, ethische, anthropologische, ästhetische und andere Aspekte der Philosophie Hildebrands, daß man es geradezu als eine Summa Philosophiae Hildebrandianae bezeichnen darf.

Als besonderes Verdienst des Buches erweist sich der Nachweis der inneren notwendigen Zusammengehörigkeit der erkenntnistheoretischen, anthropologischen und ethischen Beiträge Hildebrands, die erst die Personhaftigkeit Gottes, und damit das Fundament der göttlichen Akte gegenüber dem Menschen (aus christlicher Sicht Inkarnation, Erlösung, Auferstehung, Gericht) und der Antwort des Menschen auf Gott aufklären können. Zugleich ist eine so weit ausholende Studie Rütsches notwendig, um Hildebrands transzendente Interpretation der religiösen Akte des Menschen als Antwort auf Gott um seiner selbst willen verständlich zu machen.

Das ganze Werk zeichnet sich insbesondere durch seinen echt philosophischen Gehalt aus und ist weit entfernt von einer bloßen Wiedergabe der Gedanken eines anderen Autors. Damit bricht die Arbeit die in modernen akademischen Kreisen herrschende Unsitte, die Philosophie weitgehend bloß historisch abzuhandeln oder sie als wenig mehr als eine Analyse der Sprache zu betreiben, ohne die Sachen selbst, um die es geht, zu erforschen.

Die außerordentlich gründliche und sachlich korrekte Darstellung der Religionsphilosophie Hildebrands und deren erkenntnistheoretischer, ethischer und anthropologischer Fundamente besticht insbesondere dadurch, daß sie, unter Berücksichtigung des gesamten umfangreichen und einschlägigen publizierten Werkes Hildebrands auf vier Gebieten der Philosophie, die ethischen Hintergründe von Hildebrands Religionsphilosophie einbezieht.

Die gründliche Berücksichtigung und sorgfältige Zitierung verschiedener Texte aus den 503 Mappen unveröffentlichter und (nicht leicht lesbarer) überwiegend handgeschriebener deutscher und englischer Schriften, die sich im Nachlaß Hildebrands befinden, erhöht den Wert des vorliegenden Werkes ebenso wie die gründliche Berücksichtigung einschlägiger Teile der Sekundärliteratur über Hildebrand.

So schließt Rütsche eine wesentliche Forschungslücke durch synthetische und systematische Darstellung eines Teiles der Philosophie Hildebrands, der hauptsächlich nur in Nachlaßschriften (insbesondere Vorlesungen über Religionsphilosophie) vorliegt und der hier zum ersten Mal zusammenhängend dargelegt wird.

Weitere Vorzüge des Werkes sind eine gelungene Verbindung historischer und systematischer Analysen im geschilderten symphilosophein mit Hildebrand selbst, sowie ihr in der angegebenen freundlich-kritischen Weise über Hildebrands Beiträge Hinausweisen.

Ihre gute Gliederung und ausgezeichnete, hilfreiche Zusammenfassungen jedes Abschnittes machen das Werk auch als Lehrbuch höchst geeignet.

Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Seifert