Person und Religion

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3 Die affektiven AntwortenAntworten und die mitwirkende FreiheitFreiheit

Das Reich der AffektivitätAffektivität hat eine wesentliche Beziehung zur FreiheitFreiheit des Menschen. Wenn im letzten Punkt die nichtgeistigen von den geistigen Gefühlen unterschieden wurden, so steigen beide im Menschen ohne direkte MitwirkungMitwirkung seiner Freiheit auf. Nur während die nichtgeistigen niedriger stehen als die Freiheit reicht, liegen die geistigen Gefühle über den Willensakten, jedoch nicht über dem WillenWillen selbst.

Um dieses Übersteigen des Willens in einem angemessenen Sinne verstehen zu können, ist vorab das WesenWesen der personalen FreiheitFreiheit zu analysieren. In erster Linie ist die Freiheit gegen aussen hin von jeglicher FormForm animalischer Spontaneität abzugrenzen. In sich weist das Wesen personaler Freiheit sodann zwei verschiedene Dimensionen auf, die von HildebrandHildebrandDietrich von als die „beiden Vollkommenheiten des Willens“ oder als „die beiden Dimensionen der Freiheit“ bezeichnet.1 Diese beiden Dimensionen kommen darin zum Ausdruck, dass die PersonPerson einerseits Herr ihrer HandlungenHandlungen ist, dass sie verschiedene Tätigkeiten kommandieren kann, dass es ihr andererseits in der entscheidenderen Dimension frei steht, der auf sie „‚eindringenden‘ motivierenden Kraft der Objekte Eingang zu gewähren, zwischen ihnen zu wählen, sich ihnen teilweise oder in letzter Geöffnetheit zuzuwenden“2. Die erste Dimension der menschlichen Freiheit hat jedoch ihre prinzipiellen und akzidentellen Grenzen, so können wir „den Mond nicht herabholen, auch wenn wir es wollten, wir können fremde Menschen nicht ohne weiteres zu alledem veranlassen, was wir wollen, wir können auch in uns selbst vieles nicht einfach durch ein Kommando hervorrufen“3. Auch die zweite Freiheitsdimension hat ihre Grenzen: „Unsere LiebeLiebe, Hoffnung, Begeisterung und andere Arten der StellungnahmeStellungnahme unterstehen unserer Macht nicht ohne weiteres wie unsere Handlungen.“4

Diese letztgenannte Freiheitsdimension wirkt sich auch im Bereich dessen aus, was von HildebrandHildebrandDietrich von die mitwirkende FreiheitFreiheit nennt. Hier werden die geistigen Gefühle thematisch, die über den Willensakten, jedoch nicht über dem WillenWillen selbst stehen. Mit der mitwirkenden Freiheit berühren wir „den tiefsten Punkt der menschlichen Freiheit, d.h. das letzte ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, das unser freies Personzentrum aussprechen kann“5. Dieses letzte Ja oder Nein des freien Personzentrums gilt den geschenkhaft oder verhängnisvoll aufsteigenden affektiven AntwortenAntworten. Um affektive Antwortenaffektive Antworten handelt es sich beispielsweise bei der LiebeLiebe oder dem HassHass, bei der FreudeFreude, der Trauer usw. Ein Ja oder ein Nein, eine Sanktionierung oder eine Verwerfung, die ihre Daseinsberechtigung nur vom objektiven Massstab der WerteWerte herleiten, die sich nur „getragen von dem Logos der WerteweltLogos der Wertewelt“6 vollziehen können.

Das ausdrückliche Stellungnehmen, das vom tiefsten Punkt der PersonPerson herkommende WortWort kann ausschliesslich gegenüber affektiven Wert- bzw. UnwertantwortenUnwertantworten gesprochen werden. Diese Stellungnahmen sind allerdings klar „von anderen Typen ausgesprochener Solidarität bzw. Nichtsolidarität mit den affektiven AntwortenAntworten der eigenen Person [zu] unterscheiden“7. Wie gesehen, gehört zur ausdrücklichen Sanktion oder Verwerfung affektiver Wertantworten notwendigerweise das Getragensein vom Logos der WerteweltLogos der Wertewelt. Eine zweite Eigenheit bezieht sich nicht mehr auf die Beziehung zwischen der StellungnahmeStellungnahme und einem sie tragenden Wert, sondern auf das Verhältnis zwischen Stellungnahme und affektiver AntwortAntworttheoretische selbst. Denn das Ja oder Nein zu den geschenkhaft oder verhängnisvoll aufsteigenden affektiven Antworten ist „ein einzigartiges organisches Mitwirken mit unseren affektiven Antworten oder eine Zurücknahme, die sie von innen her verändert“8. In dieser Dimension der menschlichen FreiheitFreiheit begegnen Dinge, „die wir zwar nicht mit unserem WillenWillen kommandieren können, für deren Zustandekommen wir aber doch indirekt viel vermögen“9. Wenn die LiebeLiebe oder die Begeisterung auch nicht kraft des eigenen Willens ausgelöst werden können, so bedeutet das nicht, dass man für das Vorhanden- bzw. Nichtvorhandensein ebensowenig verantwortlich ist wie für einen physiologischen Prozess im Gehirn. Denn: „Wir können den Boden in uns bereiten, dass die richtigen emotionalen Antworten auf die WerteWerte in uns erblühen“10.

4 Ist die ReligionReligion dem Menschen ein BedürfnisBedürfnis?

In der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass MaslowMaslowAbraham zugleich mit dem BedürfnisBedürfnis nach TranszendenzTranszendenz die ReligionReligion als höchstes menschliches Bedürfnis bezeichnete. Andere, wie z.B. Rudolf OttoOttoRudolf oder Franz von SalesFranz von Sales, sprachen von einem religiösen Trieb1 bzw. einem Naturtrieb, einer natürlichen Neigung, GottGott zu lieben (inclination naturelle à aimer Dieu).2 In dem Zusammenhang wurde auch schon von einem Geborenwerden mit einer religiösen Anlage gesprochen.3 Auch von HildebrandHildebrandDietrich von spricht davon, dass in der PersonPerson konstitutivkonstitutiv eine Richtung auf das Absolute liege.4 Doch ist die Religion tatsächlich ein Bedürfnis, das mit der NaturNatur des Menschen gegeben ist? Und bezieht auch von HildebrandHildebrandDietrich von sich in der Frage der Religion tatsächlich auf eine naturalistische bzw. immanentistische Vorstellung?

Wenn von einem BedürfnisBedürfnis die Rede ist, dann ist damit ein Drang oder ein Trieb gemeint, der in der menschlichen NaturNatur begründet ist. Das Bedürfnis, das der Sache nach mit dem Drang oder dem Trieb identisch ist – von HildebrandHildebrandDietrich von spricht vorzugsweise von einem appetitusappetitus –, ist in der Natur des Menschen begründet5 und entsteht spontan.6 Der appetitus strebt das Objekt alleine deswegen an, weil er es braucht, weil es sein Bedürfnis befriedigt.7 Das zeigt sich beispielsweise beim Bedürfnis des Durstes. Solange die betreffende PersonPerson nicht durstig ist, wird sie das Wasser gleichgültig betrachten. Es bekommt aber plötzlich eine Bedeutung, sobald sie durstig ist.8 Wenn die eingangs genannten Personen also von einem Bedürfnis nach der ReligionReligion, von einem religiösen Trieb oder einer religiösen Neigung sprechen, dann ist ihnen aus der Sicht von Hildebrands immerhin dahingehend beizupflichten, dass ein Bedürfnis angeboren ist. Doch beschränkt sich die Religion tatsächlich darauf, ein angeborenes Bedürfnis zu befriedigen?

„Triebe und ‚appetitusappetitus‘ entstammen unserer NaturNatur. Ihr Auftreten setzt nicht voraus, dass man den Gegenstand oder die Tätigkeit, wodurch sie befriedigt werden, kennt.“9 Die innere Bewegung des Bedürfnisses wird nicht vom Gegenstand erzeugt. Daher haben Trieb, Drang, BedürfnisBedürfnis oder appetitus die Rolle des principiumsprincipium, des Bestimmenden; während die BedeutsamkeitBedeutsamkeit, die in der Eignung des Gegenstandes gründet, den appetitus zu befriedigen, das principiatumprincipiatum, das Bestimmte ist.10 Ganz entscheidend, nicht zuletzt auch für die Frage nach dem Weg aus der SinnlosigkeitSinnlosigkeit, ist die dienende Funktion des appetitus.11 Wird die dienende Funktion, die dem appetitus an und für sich zukommt, zu einem ZweckZweck umfunktioniert, kann das oben angesprochene existentielle Vakuum der Sinnlosigkeit schnell erreicht sein. Denn zur Sinnlosigkeit führen gerade die nicht erfüllten Bedürfnisse. Diesen wiederum kommt ihre zersetzende Bedeutung nur insofern zu, als ihre dienende Funktion nicht von einem transzendenten Standort aus erkannt wird, als die Befriedigung der Bedürfnisse zum höchsten Lebensziel erklärt wird.

Doch wie in Sachen der ReligionReligion? Kommt auch der Religion die Rolle eines principiatums zu, und dem menschlichen BedürfnisBedürfnis nach der Religion die Rolle des principiumsprincipium? Für von HildebrandHildebrandDietrich von ist in erster Linie klar, dass dem Bedürfnis keine IntentionalitätIntentionalität zukommt,12 wie mit dem Beispiel des Durstes veranschaulicht werden konnte. Zudem übersieht die appetitusappetitus-TheseThese die TranszendenzTranszendenz des Menschen.13 Ebenso falsch, wie die LiebeLiebe für einen appetitus zu halten, weil im Menschen die Sehnsucht nach Liebe vorhanden sein kann, ist es, auch den Glauben an GottGott für einen appetitus zu halten, wodurch „Gott nur die Funktion hat, dieses Verlangen zu stillen“14. Ebenso ist auch das Gebet nicht dazu da, um die religiösen Bedürfnisse zu befriedigen.15 Von HildebrandHildebrandDietrich von nennt es eine bedenkliche „pragmatische Umdeutung der letzten in sich ruhenden objektiven Forderungen“, statt „Gott AnbetungAnbetung und Preis darzubringen in erster Linie aus dem Grunde, weil er der Inbegriff aller WerteWerte ist, weil er der allmächtige, allwissende, allgütige, der absolut heilige Herr ist“, das Gebet „vom Standpunkt unserer Vervollkommnung aus“ zu betrachten.16

Wenn Abraham MaslowMaslowAbraham, Rudolf OttoOttoRudolf, Friedrich SchleiermacherSchleiermacherFriedrich, Franz von SalesFranz von Sales oder andere von einem religiösen BedürfnisBedürfnis, einem religiösen Trieb, einer religiösen Anlage oder einer natürlichen Neigung, GottGott zu lieben, sprechen, dann setzt das sachlich angemessene Verständnis voraus, dass ihre Wendungen nicht in einem immanenten, sondern in einem intentionalen und transzendenten SinnSinn verstanden werden. Ansonsten kommt es zu verhängnisvollen Verwechslungen, die die ReligionReligion ihres wahren Sinnes berauben.

 

Mit der Unterscheidung zwischen principium und principiatumprincipiatum ist die Brücke geschlagen zu den Kategorien der BedeutsamkeitBedeutsamkeit und damit zum motivationalen Aspekt des Seienden.

5 BedeutsamkeitBedeutsamkeit und MotivationMotivation

Im Nachdenken über das Sokratische Problem, dass niemand wissentlich schlecht handle, da jeder sein Bestes wolle,1 die aristotelische TheseThese, dass alle Menschen das GuteGutedas wollen2 sowie über Max Schelers Theorie, nach welcher jede schlechte Handlung in einem Bevorzugen des untergeordneten Gutes gegenüber dem übergeordneten bestehe,3 gelangt von HildebrandHildebrandDietrich von zu einer seiner überwältigendsten Einsichten, nämlich derjenigen der drei Bedeutsamkeitskategorien.4 Denn „vom ethischen Standpunkt aus wissen wir nur wenig, solange wir nur sagen, jeder Wille ist auf ein GutGutdas gerichtet. Es kommt gerade darauf an, ob die motivierende Bedeutsamkeitskategorie der Wert, das objektive GutGutdas für die PersonPerson oder das bloss subjektiv Befriedigende ist.“5 In groben Zügen wurde auf die drei grundsätzlich verschiedenen Kategorien der BedeutsamkeitBedeutsamkeit bereits aufmerksam gemacht,6 an jener Stelle allerdings primär unter dem Aspekt der Gutheit des Seienden. Hier sind die drei Kategorien der BedeutsamkeitKategorien der Bedeutsamkeit nun vor allem als motivierende Kräfte von Interesse.

Auch wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Begriffe von gut und schlecht die Eigenschaft eines Seienden bezeichnen, „die es befähigt, unseren WillenWillen zu motivieren oder eine affektive AntwortAntworttheoretische in uns hervorzurufen“7. Die motivierende Kraft wurde als BedeutsamkeitBedeutsamkeit charakterisiert, die in drei grundsätzlich verschiedenen Formen auftreten kann. Bislang wurde vornehmlich von den Werten gehandelt, denen die Bedeutsamkeit in sich und unabhängig von ihrer Beziehung auf den Menschen zukommt. Aufgrund der entscheidenden Rolle, die die MotivationMotivation durch die WerteWerte und die ihnen geltenden AntwortenAntworten nicht nur hinsichtlich der lebendigen Verbindung des Menschen mit GottGott im Allgemeinen, sondern auch der Hinbewegung auf ihn hin im Speziellen spielt, ist es angezeigt, die motivationale Kraft des in sich Bedeutsamen von den anderen beiden Motivationskategorien zu unterscheiden. Dabei werden nicht zuletzt auch die im letzten Punkte angesprochenen principium und principiatumprincipiatum zu einer differenzierenden Klarheit beitragen.

Die Charakterisierung der verschiedenen Kategorien der BedeutsamkeitBedeutsamkeit wird mit dem subjektiv Befriedigenden in den Interpretationen durch David HumeHumeDavid und John Stuart MillMillJohn Stuart begonnen. Im Anschluss wird die Bedeutsamkeitskategorie des objektiven Gutes für die PersonPerson erörtert, wie sie in der EthikEthik des AristotelesAristoteles (384–323 v. Chr.) zutage tritt. Schliesslich wird auf die motivierende Kraft des in sich Bedeutsamen anhand der Einsichten von Hildebrands eingegangen.

5.1 David HumeHumeDavid und der ethische NaturalismusNaturalismus oder Die MotivationMotivation durch das subjektiv Angenehme

Mit David HumeHumeDavid begegnet ein entschiedener Vertreter einer immanenten bzw. naturalistischen, d.h. einer metaphysikfreien WeltanschauungWeltanschauung. Dass er eine Weltanschauung vertritt, nach der alles aus der NaturNatur und diese allein aus sich selbst erklärbar ist, zeigt sich an seiner ErkenntnistheorieErkenntnistheorie ebenso wie an seiner EthikEthik. Einige wesentliche Punkte seiner Lehren seien in der Folge auseinandergesetzt. Historisch steht HumeHumeDavid in der Tradition des bereits erwähnten John LockeLockeJohn, mit dem er darin übereinstimmt, dass alle unsere IdeenIdeen entweder von der Sinneswahrnehmung oder von der inneren Erfahrung unserer eigenen Bewusstseinszustände herstammen. Den unmittelbaren Sinneseindruck, sei es der äusseren, sei es der inneren Wahrnehmung, nennt HumeHumeDavid Sinnesempfindung, die mittelbaren und reproduzierten Inhalte sind ihm Vorstellungen.1

Wie aber entstehen auf dieser Linie die allgemeinen Begriffe? Die traditionelle Erklärung war, dass Wahrnehmungen mit abstrakten allgemeinen IdeenIdeen verbunden würden. HumeHumeDavid dagegen ist der Auffassung, wir könnten mit dem aus der Erfahrung gewonnenen Material Kombinationen vornehmen, die zu einer weiteren Bereicherung führten. Dies geschehe durch die Vorstellungsassoziation, und zwar nach drei Prinzipien, „nämlich Ähnlichkeit, Berührung in Zeit oder Raum, und UrsacheUrsache und WirkungWirkung“.2 Die logische Folge hiervon ist ein vollkommener PsychologismusPsychologismus, demgemäss es nicht das WesenWesen oder die Gestalt der Dinge ist, die über die Zusammengehörigkeit der Merkmale und Elemente entscheidet, wenn ein Gegenstand definiert wird, sondern für HumeHumeDavid sind es nurmehr die psychischen Gehalte des vorstellenden Subjekts. Die abstrakten Ideen sind ihm nurmehr die Produkte der GewohnheitGewohnheit. In der reduktionistischen Sichtweise Humes ist Erfahrung nichts anderes als Gewöhnung oder Übung. In einer so verstandenen Welt gibt es konsequenterweise aber auch keine objektiv bestehenden, notwendigen Sachverhalte. So z.B. ist der SatzSatz „Jede Wirkung hat eine Ursache“ für HumeHumeDavid kontingentkontingent. Wohlgemerkt, er verneint nicht das Prinzip, dass jede Wirkung eine Ursache hat, sondern er verneint dessen NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive. Denn Verursachung sei nicht mehr als Regularität, die NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive liege nicht in einer Seinsnotwendigkeit, sondern in einer Denkgewohnheit.3 HumeHumeDavid besitzt keine andere WirklichkeitWirklichkeit mehr als die psychologistisch verstandene. Erkenntnistheoretisch bilden nur die Sinnesinformationen Brücken zur Wirklichkeit, moralphilosophisch ermöglichen dies auch die Gefühle.

Der zentrale Punkt in Humes Theorie der MotivationMotivation ist, dass die Güter lustvoll und die ÜbelÜbel schmerzlich sind,4 wobei er die Tendenz, nach den lustvollen Dingen zu streben und die schmerzlichen zu meiden, als angeboren versteht. Grundlegend auch seine Unterscheidung der Affekte in primäre und sekundäre, wobei letztere sich wiederum in direkte und indirekte differenzieren.5 Als primäre Affekte gelten ihm etwa Hunger und Elternliebe. Es sind solche Impulse, die nicht auf Vergnügen oder LustLust abzielen, obwohl deren Objekte in der Tat erfreulich sind oder zumindest sein können. Primär sind sie insofern, als sie nicht eine vorhergehende Wahrnehmung von etwas Erfreulichem voraussetzen. Die sekundären Affekte dagegen sind Bewegungen, die auf etwas hinzielen, das im Voraus als lustvoll und erfreulich erkannt wurde. Sie scheiden sich in direkte und indirekte. Die direkten Affekte bestehen aus heftigen – wie Wünschen, Abneigung, Hoffnung, Angst, Verzweiflung usw. – und ruhigen, welche nicht direkt zur Handlung antreiben. Es sind dies die Gefühle der Billigung oder der Missbilligung, zu welchen HumeHumeDavid auch die moralischen Gefühle zählt. Die indirekten sekundären Affekte schliesslich bestehen aus solchen, die auf die eigene PersonPerson gerichtet sind, wie StolzStolz und DemutDemut, sowie aus solchen, die auf Andere gerichtet sind, wie LiebeLiebe und HassHass.

Den indirekten Affekten liegen auf Beziehungen beruhende AssoziationenAssoziationen zugrunde. Hinsichtlich des Selbst sind es Qualitäten wie SchönheitSchönheit, Intelligenz usw., die stolz machen. Dies vermögen aber auch äussere Dinge wie Häuser, Gärten usw., die erstens eine hohe Qualität aufweisen und zweitens in einer Beziehung zur eigenen PersonPerson stehen. Die sekundären indirekten Affekte – wie der StolzStolz, die DemutDemut, die LiebeLiebe oder der HassHass – können durch die Sympathie, die man für sie verspürt, zu einer GewohnheitGewohnheit, zu einer Art des Selbst werden.

Doch was heisst hier Sympathie? Dem BegriffBegriff der Sympathie liegt Humes Theorie zugrunde, wie die Gefühle und die Affekte anderer Menschen verstanden werden. Zuerst werden die äusseren Zeichen der Affekte und der Gefühle am Anderen wahrgenommen. Kraft einer erlernten Assoziation zwischen solchen Zeichen und der entsprechenden Leidenschaft, des entsprechenden Gefühls, wird eine Idee der affektiven Regung gebildet. Diese Idee wird dann in etwas transformiert, das der eigenen Sinneswahrnehmung entspricht, etwas mit der Kraft und Lebendigkeit der eigenen Affekte. Wenn die andere PersonPerson mit der eigenen Person durch irgendeine Beziehung verbunden ist, z.B. durch Ähnlichkeit, Nationalität, oder Familie, dann belebt die Vorstellung die Idee der Affekte bis zu dem Punkt, an dem sie so zu motivieren vermag, wie die eigentlichen Affekte selbst.

Dies ist auch für die Bestimmung des Selbst massgebend. Als einer, der jegliche MetaphysikMetaphysik verwirft, kann HumeHumeDavid das Selbst ja nicht als eine SubstanzSubstanz verstehen, die durch die Veränderungen hindurch besteht, sondern interpretiert es als „ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen [Sinnesempfindungen]“, das aber heisst zugleich, „es gibt keine Kraft der SeeleSeele, die sich, sei es auch nur für einen Augenblick, unverändert gleich bliebe“.6 Die Qualitäten, die das eigene Sein definieren und die IndividualitätIndividualität bestimmen, werden durch die Mechanismen des Stolzes und der Sympathie Teil des Selbstverständnisses.

Da HumeHumeDavid sämtliche metaphysischen Strukturen verneint, kann die Moralität auch nicht Teil derselben sein, sondern ist relativ auf die menschlichen Ziele. Und da es keine Formen, Substanzen oder Wesenheiten gibt, die zu den TugendenTugenden hinführen könnten, noch sonstige metaphysische Gründe, die die VernunftVernunft erkennen könnte, kann die Vernunft folglich auch nicht zur Handlung anleiten. Die Aufgabe der Vernunft ist darauf beschränkt, TatsachenTatsachen auf WahrheitWahrheit oder Falschheit zu untersuchen. Konsequenterweise müssen die moralischen Urteile von den Affekten ausgehen und zwar von den ruhigen Affekten der moralischen Billigung oder Missbilligung, die sich einzig nach dem Lustvollen richten. In den menschlichen HandlungenHandlungen ist es Aufgabe der Vernunft, den Affekten, den Gefühlen zu dienen. Das heisst, die Mittel für die Zwecke zu finden, die die Gefühle bestimmen. Als tugendhaft wird von da her jenes Verhalten beurteilt, das FreudeFreude und Vergnügen hervorruft.

Die TugendenTugenden, jene Verhaltensweisen also, die lustvoll sind, die FreudeFreude und Vergnügen hervorrufen, sind nach HumeHumeDavid in künstliche und natürliche zu unterteilen. Die künstlichen Tugenden (z.B. GerechtigkeitGerechtigkeit oder Achtung vor fremdem Eigentum) sind nach einem ersten Charakteristikum von sozialen Vereinbarungen abhängig, zudem wären sie in einem goldenen Zeitalter überflüssig. Darüber hinaus erhalten sie ihre Rechtfertigung durch ihre Nützlichkeit und sind schliesslich im Interesse aller und somit ein ZweckZweck in sich selbst. Im Gegensatz dazu sind die natürlichen Tugenden (wie etwa die Grossherzigkeit) auch dann effektiv, wenn keine regulativen sozialen Vereinbarungen bestehen. Auch diese Tugenden erhalten ihre moralische Billigung – ebenso wie die künstlichen – auf der Basis des Sympathiemechanismus.

Da eine TugendTugend FreudeFreude verursacht und ein LasterLaster Schmerz, wird die Handlung eines Diebes, der ja gegen eine soziale Vereinbarung, gegen eine künstliche Tugend verstösst, als verletzend wahrgenommen, woraus das moralische GefühlGefühl der Missbilligung entspringt. Sinngemäss verursacht die Regelkonformität Freude und wird deswegen als angemessen, zumindest nicht als Unlust schaffend verstanden. So entsteht das moralische Gefühl der Billigung. Durch den allgemeinmenschlichen Mechanismus der Sympathie bildet sich letztlich eine moralische Norm. Und wohl sei eine Tugend wie die GerechtigkeitGerechtigkeit künstlich, doch sei der SinnSinn für ihre Moralität allemal natürlich.7

Weswegen aber soll der MenschMensch nach HumeHumeDavid eigentlich tugendhaft sein? In erster Linie wegen der sozialen Nützlichkeit und in zweiter Linie, weil der Mensch einen inneren SinnSinn für den Frieden und die Befriedigung hat, der aus dem rechten und guten Tun entspringt. In diesem Sinne ist es letztlich das Langzeit-Eigeninteresse (long-run self-interest), das das treue Festhalten an der TugendTugend bestimmt.8

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