Person und Religion

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3 Die verschiedenen Bedeutungen von „TranszendenzTranszendenz“

Das angemessene Befassen mit der ReligionReligion setzt die Klärung des Begriffs der TranszendenzTranszendenz voraus. Die NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive dieses Unterfangens zeigte sich alleine schon an der äquivoken Verwendung dieses Terminus. Denn ob von einem BedürfnisBedürfnis nach der Transzendenz oder von der SelbsttranszendenzSelbsttranszendenz die Rede ist, beide Male bedeutet Transzendenz offensichtlich nicht dasselbe. Und nicht als hätte es mit diesen zwei – noch zu klärenden – Bedeutungen sein Bewenden, Transzendenz kann auch noch anderes bedeuten. Das WortWort „Transzendenz“ kommt aus dem Lateinischen (transcendere) und weist seinem Wortsinne nach auf ein Hinübersteigen, Übersteigen oder Übertreten hin. Damit verweist es auf eine Grenze, die überstiegen wird, um in eine jenseits liegende WirklichkeitWirklichkeit zu gelangen. Dann kann es aber auch den personalen Akt des Übersteigens selbst bedeuten, mit dem eine Grenze bewusst überschritten wird. In seinem HöhlengleichnisHöhlengleichnis hat PlatonPlaton ein solches Übersteigen anschaulich beschrieben als ein Übersteigen der Grenze, die das Sinnliche vom Intelligiblen und das Meinen vom ErkennenErkennen trennt.1 Im Sinne eines bewussten Aktes der PersonPerson kann das Übersteigen einer Grenze in den verschiedensten Weisen zur Realität werden. Beispielsweise durch das Übersteigen der in der eigenen Person errichteten Grenzmauern des HedonismusHedonismus durch das Erteilen einer AntwortAntworttheoretische, wie sie dem Gegenüber um seiner selbst willen gebührt.2 Schliesslich kommt der Transzendenz noch eine weitere Bedeutung zu. Nicht mehr bedeutet es das personale Übersteigen einer Grenze, sondern nun kommt ihm die Bedeutung der objektiven Tatsache zu, dass jenseits der Grenze eine andere Wirklichkeit ist. In diesem Sinne kann etwa davon gesprochen werden, dass GottGott der Welt transzendent ist. Als transzendent kann aber auch all das bezeichnet werden, was dem Menschen in seiner Erfahrungswelt prinzipiell nicht gegeben ist.3

Aufgrund dieser Klärungen des Begriffs der TranszendenzTranszendenz lässt sich nun auch ermessen, in welchem Sinne HusserlHusserlEdmund, MaslowMaslowAbraham und FranklFranklViktor E. sich auf die Transzendenz beziehen. Während HusserlHusserlEdmund die Fragen nach der ErkenntnisErkenntnis, den Werten, der ethischen HandlungEthische Handlung, der FreiheitFreiheit, der UnsterblichkeitUnsterblichkeit und nach GottGott thematisiert, zu deren Beantwortung die Grenze des Hier und Jetzt in einem personalen Akt transzendiert werden muss, so bedeutet die Transzendenz im Sinne von Maslows höchstem menschlichen BedürfnisBedürfnis ein Verlangen nach einer WirklichkeitWirklichkeit, die jenseits dieser Welt liegt.4 FranklFranklViktor E. verwendet den Terminus Transzendenz wieder im Sinne eines personalen Aktes, demgemäss ihm Transzendenz das Übersteigen der Intention nach Selbstverwirklichung durch die Hingabe des eigenen Selbst bedeutet.

In welcher Bedeutung wird nun von der TranszendenzTranszendenz in Sachen der ReligionReligion gesprochen? Im Sinne einer gelebten Beziehung des Menschen zu einem transzendenten GottGott, einer Beziehung über die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits hinweg? Doch geht die Initiative vom Menschen aus, ist er es, der sich transzendiert, oder transzendiert sich das Transzendente in die Welt des Menschen? Oder steht die Religion letztlich für einen wechselseitigen Prozess über die Grenze der Transzendenz hinweg? Die AntwortenAntworten auf diese Fragen stehen verständlicherweise nicht am Beginn der Arbeit. Ob sie zu verneinen oder zu bejahen sind, und wenn zu bejahen, in welchem Sinne, hat der Untersuchungsverlauf zu erweisen.

4 Das Thema der Arbeit

Sich mit allen, ja nur schon mit mehreren religiösen Richtungen und Phänomenen auseinanderzusetzen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Deswegen ist die Konzentrierung auf eine bestimmte ReligionReligion angezeigt. Wenn der Entscheid zugunsten der christlichen Religion ausfällt, dann deswegen, weil die in ihr vertretenen religiösen ÜberzeugungenÜberzeugungenreligiöse von Anfang an auf die philosophische Waagschale gelegt wurden und sich mit dem BegriffBegriff des TheismusTheismus eine philosophisch handhabbare Position herausgebildet hat. Mit Theismus ist die Position bezeichnet, nach der ein GottGott (gr. θεός, lat. deus) existiert, der PersonPerson ist, der allmächtig, allwissend, allgütig, allgegenwärtig und dieser Welt transzendent ist und dennoch am Geschehen in dieser Welt Anteil und auf geheimnisvolle Weise Einfluss darauf nimmt.

Aufgabe der ReligionsphilosophieReligionsphilosophie ist dabei die Herausarbeitung der (Un-)Vernünftigkeit der ReligionReligion. Der Bewältigung dieser Aufgabe werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die einschlägigen Werke des Philosophen Dietrich von HildebrandHildebrandDietrich von1 (1889–1977) zugrunde gelegt, von dem in punkto Religion Bedeutendes erwartet werden darf. Denn bereits sein im Jahre 1919 verfasster Aufsatz über Die neue Welt des Christentums2 – sein erster Artikel nach seiner Habilitation – enthält im Kerne alle seine grossen religiösen Einsichten, die sich in entfalteter FormForm auch in seinen späteren Werken finden. Wie religiös er war,3 zeigt sich quer durch sein Oeuvre. Fast jede Schrift hat einen expliziten, zumindest aber einen impliziten Zug zur religiösen Sphäre. Religion bzw. religioreligio versteht er „als Inbegriff der uns von dem persönlichen GottGott positiv geoffenbarten Wahrheiten und als das auf einer solchen positiven OffenbarungOffenbarung beruhende Verhältnis des Menschen zu Gott“4. Zudem spricht er von der „lebendigen Verbindung mit eben diesem Gott“5 oder schlicht von der „Bindung an Gott“6. Überdies sogar vom „Dialog mit GottDialog mit Gott“7 oder vom „Mysterium des Zwiegesprächs zwischen Geschöpf und Schöpfer“8.

Was darunter verstanden sein will, muss aus seinen Schriften im Einzelnen herausgearbeitet und zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Die Problematik zeigt sich alleine schon an der Bindung an GottGott: Wie stellt sich diese Bindung dar? Wie ist die Bindung des endlichen und unvollkommenen Menschen an Gott überhaupt zu denken? Ja, wie ist Gott eigentlich seinem WesenWesen nach, und vor allem, kommt Gott überhaupt eine objektive Seinsweise zu oder ist Ludwig FeuerbachFeuerbachLudwig beizupflichten, der behauptete, der MenschMensch selbst sei der SeinsgrundSeinsgrund Gottes? Über alle diese Fragen kann allerdings nur unter der Voraussetzung ernsthaft diskutiert werden, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, den Bereich des Empirischen zu transzendieren und Erkenntnisse zu erlangen, deren objektive KorrelateKorrelateobjektive dem Bereich des Transempirischen oder Metaphysischen zugehören. Nur unter dieser Voraussetzung kann im Sinne einer streng wissenschaftlichen Philosophie von Gott wie auch von einer Bindung des Menschen an ihn gesprochen werden.

5 ForschungszielForschungsziel und MethodeMethode

Da die absolute WahrheitWahrheit in von Hildebrands WeltanschauungWeltanschauung einen archimedischen PunktArchimedischer Punkt einnahm und er ihre Erkennbarkeit auch zu begründen wusste, wird in dieser Arbeit zugesehen, ob und wenn ja, inwiefern die ReligionReligion Gegenstand philosophischen Erkennens ist und damit als vernünftig erwiesen werden kann. Damit unterscheidet sich die ReligionsphilosophieReligionsphilosophie von der ReligionspsychologieReligionspsychologie, die in einem empirischen Verfahren nur die religiösen Akte im Menschen betrachtet und dabei von ihrem Objekt und dessen Wahrheit absieht. Ist von HildebrandHildebrandDietrich von mit einem SachverhaltSachverhalt aus dem Bereich der Religion konfrontiert, der dem ersten Anschein nach philosophisch nicht erkannt werden kann, so wählt er, falls der Sachverhalt nicht widersprüchlich, sondern sinnvoll ist, die MethodeMethode Anselms von CanterburyAnselm von Canterbury: er glaubt, um zu verstehen (fides quaerens intellectumfides quaerens intellectum).1 Diese MaximeMaxime ist allerdings nicht im Sinne des FideismusFideismus zu verstehen, demgemäss ein rational nicht begründbarer GlaubeGlaube als Ausgangspunkt des Philosophierens zu wählen und als letzte Instanz für philosophisches ErkennenErkennen zu befürworten ist. Denn der religiöse Glaube beruht bereits selbst auf philosophischen Voraussetzungen und Erkenntnissen, die dem religiösen Glauben vorgeordnet und – trotz vieler gegenseitiger Beziehungen2 – von ihm unabhängig sind. Der Glaube wird in dieser Untersuchung jedenfalls nicht im Sinne eines heuristischen PrinzipsHeuristisches Prinzips zu einem Hilfsmittel reduziert, um gewisse Sachverhalte besser verstehen zu können. Dies muss bei der Analyse des Denkens von Hildebrands genauso beachtet werden wie bei einem AugustinusAugustinus, der sagte, „dass Philosophie, das heisst Weisheitsstreben, und Religion nicht voneinander verschieden sind“3. Ähnliche Stellen finden sich auch bei einem BonaventuraBonaventura, einem Thomas von AquinThomas von Aquin und bei vielen anderen. Unter der Voraussetzung der AntwortAntworttheoretische des Glaubens an den sich offenbarenden GottGott sucht von HildebrandHildebrandDietrich von die den Menschen geoffenbarten Wahrheiten nach Möglichkeit zu verstehen und gewisse in ihnen gründende Sachverhalte philosophisch zu erkennen. Immer aber bleibt zu beachten, dass die EinsichtEinsicht in das Verhalten einer gegebenen Sache, nach der die Philosophie letztlich strebt, eines Beweises weder fähig noch bedürftig ist. Von HildebrandHildebrandDietrich von bezeichnet es im Übrigen selbst als „höchst ‚unwissenschaftlich‘“, „ein Buch für unphilosophisch zu halten, weil in ihm der Name Christi genannt wird, statt unbefangen zu fragen, was in dem Buch an echt philosophischer Einsicht enthalten sei, und darauf zu merken, in welchem SinnSinn auf das ÜbernatürlicheÜbernatürlicheDas Bezug genommen wird“.4

 

Unter Zugrundelegung der realistisch phänomenologischen MethodeMethode, wie von HildebrandHildebrandDietrich von sie vor allem im vierten Kapitel seiner epistemologischen Hauptschrift Was ist Philosophie? schriftlich fixiert hat, kann insofern ein absolut gewisses ErkennenErkennen eines gegebenen Sachverhalts erwartet werden, als es sich um einen SachverhaltSachverhalt handelt, der in notwendigen Gegenständen oder Wesenheiten fundiert ist.5 Wie aber liegen die Dinge beim Relationssachverhalt6 des Verhaltens des Menschen zu GottGott oder Gottes zum Menschen? Bietet die Relation zwischen MenschMensch und Gott die epistemologische Möglichkeit, gewisse Züge mit absoluter GewissheitGewissheit erkennen zu können? Das muss sich erweisen … Wobei dies freilich, wie bereits an dieser Stelle festgehalten werden kann, in erster Linie davon abhängt, ob der Mensch die objektive WahrheitWahrheit erkennen und sich und seine Welt transzendieren kann, wie auch, ob Gottes objektive ExistenzExistenz sich überhaupt begründen lässt.

Was sodann die Auffassung betrifft, dass die ReligionReligion sich von der MetaphysikMetaphysik und der MoralMoral lösen müsse, so wird dieser Arbeit grundgelegt, dass Metaphysik und Moral der Religion nicht untergeordnet sind, wie Friedrich SchleiermacherSchleiermacherFriedrich behauptete,7 sondern mit dem Gottesbegriff so wesentlich verbunden sind, dass GottGott, wenn überhaupt, nur durch sie in philosophischer Weise verstanden werden kann.8 Analoges gilt von der Religion als Bindung an Gott, auch sie – wie gezeigt werden wird – kann nur auf dem Fundament von Metaphysik und Moral als vernünftig ausgewiesen werden. Dazu kommt, dass Metaphysik und Moral die Gegenstandsbereiche zweier Geistesvermögen des Menschen bezeichnen, nämlich des Intellekts und des Willens. Wenn sie zugunsten des Gefühls von der Religion ausgeschlossen werden, wie SchleiermacherSchleiermacherFriedrich dies tut, dann betrifft sie den Menschen nicht als Ganzen. Desgleichen, wenn Immanuel KantKantImmanuel die Religion gänzlich auf der VernunftVernunft gründen lässt9 und die Religion als „ErkenntnisErkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“10 definiert. Auch dann ist der MenschMensch nicht als ganzer betroffen.

Doch was ist die Grundlage der ReligionReligion im Menschen? Von HildebrandHildebrandDietrich von leitet der augustinische Gedanke von der Komplexität des menschlichen Geistes, der eine EinheitEinheit bildet aus VernunftVernunft, Wille und GedächtnisGedächtnis, bzw. LiebeLiebe. AugustinusAugustinus vollbrachte auf dieser Grundlage einen bedeutenden religionsphilosophischen Beitrag, indem er die religiöse Überzeugung von der Trinität Gottes auf der Basis des Menschen als trinitarisch strukturiertem Abbild Gottes als vernünftig auszuweisen suchte. Wenn in diesem Sinne von der Vernünftigkeit gesprochen wird, dann sind auch die übrigen Geistesvermögen mitgemeint. Denn „vernünftig“ wird der MenschMensch nicht alleine durch seinen IntellektIntellekt, sondern vernünftig ist er als ganzer, unter Einbezug aller seiner geistigen Vermögen.

Gegenüber KantKantImmanuel und SchleiermacherSchleiermacherFriedrich nimmt John Henry NewmanNewmanJohn Henry mit seinem Sowohl-als-Auch eine Mittelstellung ein. Nach ihm ist die ReligionReligion weder eine blosse Frage der VernunftVernunft noch der Gefühle. Am Beispiel der ZustimmungZustimmung zur objektiven ExistenzExistenz Gottes zeigt er den Unterschied auf zwischen der begrifflichen und der realen Zustimmung. Wenn ein theistischer Theologe beispielsweise von GottGott spricht, dann handelt es sich bei seiner Zustimmung zu dieser WahrheitWahrheit um eine begriffliche.11 Um eine Zustimmung also, die die Folge bestimmter Folgerungen und intellektueller Überlegungen ist. NewmanNewmanJohn Henry ist es aber vor allem um die Frage zu tun, ob es nicht noch eine lebhaftere Zustimmung zum Sein Gottes gibt, als die mit Begriffen operierende: „Kann ich glauben, als ob ich sähe?“12 Eine solche Zustimmung, darüber ist er sich im Klaren, bedingt „eine gegenwärtige Erfahrung oder eine Erinnerung an das Faktum“13. Doch da niemand in diesem Leben Gott sehen kann, bleibt die Frage: Ist eine reale Zustimmung überhaupt möglich? NewmanNewmanJohn Henry selbst erachtet die Erfahrbarkeit Gottes als möglich, und zwar durch das GewissenGewissen. Denn das GefühlGefühl des Gewissens ist ein doppeltes, es ist einerseits ein sittliches Gefühl (moral sense), andererseits ein Gefühl der Pflicht (sense of duty). Und gerade dieses Gefühl der Pflicht impliziert einen höchsten Richter, „dem wir verantwortlich sind“14. Da die Ursachen der Gemütsbewegungen des Phänomens des Gewissens nicht dieser sichtbaren Welt angehören, muss der Gegenstand, auf den die Wahrnehmung gerichtet ist, übernatürlichübernatürlich und göttlich sein.15

Damit hat NewmanNewmanJohn Henry nicht nur ein ArgumentArgument für die Erfahrbarkeit Gottes beigebracht, mit der Unterscheidung zwischen der begrifflichen und der realen ZustimmungZustimmung hat er überdies den Unterschied zwischen der Theologie und der ReligionReligion begründet. Während die Theologie als WissenschaftWissenschaft es nämlich mit den Begriffen zu tun hat, gründet die Religion auf Erfahrungen. Weswegen die Theologie prinzipiell auch ohne die Religion bestehen kann, nicht aber die Religion ohne die Theologie, denn wenn die entsprechenden Erfahrungen fehlen, wird auf den IntellektIntellekt und die gesunde und bewährte Lehre zurückgegriffen.16 Die religiösen ÜberzeugungenÜberzeugungenreligiöse, die aufgrund bestimmter Erfahrungen oder im Zuge des Rückgriffs auf die überlieferte Lehre entstehen, auf ihre Vernünftigkeit hin zu prüfen, ist Aufgabe der ReligionsphilosophieReligionsphilosophie.

Das ForschungszielForschungsziel besteht in diesem Rahmen schliesslich im Aufweis der ReligionReligion als einem Dialog zwischen MenschMensch und GottGott. Kann von diesem Dialog erwartet werden, dass er die entscheidenden Fragen des Menschen zu beantworten, sein BedürfnisBedürfnis nach TranszendenzTranszendenz zu befriedigen und sein Leben sinnvoll zu gestalten vermag? Um diese Frage beantworten zu können, ist es angezeigt, dass in einem ersten Schritt die Möglichkeit der Erlangung transzendenter Erkenntnisse begründet wird. Eine Aufgabe, die in wesentlichen Stücken in der Überwindung des ImmanentismusImmanentismus und SubjektivismusSubjektivismus Kantscher Prägung besteht, wobei auch der Erfahrung Rechnung zu tragen sein wird (vgl. Abschnitt I). Im Anschluss sei geprüft, wie es um die ErkenntnisErkenntnis Gottes und die dagegen erhobenen Einwände bestellt ist (vgl. Abschnitt II), um sodann das WesenWesen und die Gottfähigkeit des Menschen zu besprechen (Abschnitt III), sie daraufhin als mit Leben gefüllte Realität zu untersuchen und schliesslich die religiösen Aussagen und Überzeugungen betreffend den Zustand nach dem irdischen TodTod kognitiv zu deuten und auf ihre Vernünftigkeit hin zu erörtern (Abschnitt IV). Was alles, wie gesagt, auf der Grundlage der philosophischen Einsichten Dietrich von Hildebrands unternommen wird. In die Diskussion werden dabei solch namhafte Denker einbezogen wie Thomas von AquinThomas von Aquin, Immanuel KantKantImmanuel, Ludwig FeuerbachFeuerbachLudwig, Friedrich NietzscheNietzscheFriedrich oder Max SchelerSchelerMax, um hier nur einige zu nennen.

Bezüglich der Gliederung der vorliegenden Untersuchung und des praktischen Umgangs mit ihr sei an dieser Stelle noch vermerkt, dass am Ende eines jeden Abschnitts die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden, was den Zugang zu den interessierenden Argumentationsgängen erleichtern soll. Die verwendeten Werke Dietrich von Hildebrands werden zu Beginn des Literaturverzeichnisses angeführt. Im Hauptteil der Bibliographie finden sich – nach den einzelnen Abschnitten gegliedert – die Quellen und die verwendete Literatur verzeichnet.

6 Was ist „Realistische PhänomenologiePhänomenologie“?

Der im letzten Punkt eingebrachte BegriffBegriff der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie bedarf ebenso einer Klärung wie von Hildebrands Schrift Was ist Philosophie? einer Offenlegung des intendierten Ziels und der Mittel, mit dessen Hilfe das ZielZiel erreicht werden soll. Der Begriff der Realistischen Phänomenologie wird in diesem, von Hildebrands Was ist Philosophie? im nächsten Punkt thematisiert werden. Bei der Besprechung der epistemologischen Hauptschrift von Hildebrands bleibt abschliessend zu prüfen, ob, und wenn ja, inwiefern er das gesteckte Ziel auch tatsächlich erreicht hat.

Die Verwendung des Begriffs „PhänomenologiePhänomenologie“ reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. „Das Adjektiv ‚phänomenologisch‘ taucht nachweislich schon 1762 bei dem schwäbischen Theosophen Friedrich Chr. Oetinger (1701–1782) auf. Als Substantiv wird das WortWort zur selben Zeit von Johann Heinr. Lambert (1728–1777) verwendet.“1 Dem Wortsinn nach (gr. φαινόμενον – ErscheinungErscheinung; λόγος – Wort, Lehre) steht „Phänomenologie“ für die Lehre von den Erscheinungen bzw. von den Erfahrungen. Und da die Erfahrungen ihren Ursprung in dem erfahrenden BewusstseinBewusstsein haben, lag es nahe, die Philosophie mit Franz BrentanoBrentanoFranz2 (1838–1917) als deskriptive Psychologie zu definieren.3 Durch die Vermittlung seines Wiener Lehrers BrentanoBrentanoFranz, kam das Verständnis der Philosophie als deskriptiver Psychologie schliesslich auch auf Edmund HusserlHusserlEdmund, der es ohne Vorbehalte übernahm.4

6.1 Die Vorboten des phänomenologischen Realismus

Wenngleich Edmund HusserlHusserlEdmund als Begründer der phänomenologischen Bewegung gilt,1 so dürfen die vorhusserlianischen Wurzeln dieser Bewegung dennoch nicht übersehen werden. Auf dem von PlatonPlaton, AristotelesAristoteles und AugustinusAugustinus gelegten Fundament ist auch Johann Wolfgang von GoetheGoetheJohann Wolfgang von mit seinem Ausdruck „UrphänomenUrphänomen“ zu den Vorläufern der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie zu rechnen. In seinen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann eröffnet er ihm am 18. Februar 1829 das Verständnis dieses Begriffs:

Das Höchste, wozu der MenschMensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn das UrphänomenUrphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.2

HusserlHusserlEdmund hatte aber auch noch andere bedeutende Vorläufer. So den Prager Philosophen Bernard BolzanoBolzanoBernard3 (1781–1848), dessen logischer Objektivismus einen grossen Einfluss auf Husserls Logische Untersuchungen ausgeübt hat, und vor allem den bereits erwähnten Franz BrentanoBrentanoFranz.4 Noch vor HusserlHusserlEdmund entwickelte auch Max SchelerSchelerMax in seiner 1899 erschienenen Habilitationsschrift Die transzendentale und die psychologische MethodeMethode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik ganz ähnliche Gedanken.5 Mit ihm kommt auch Alexander PfänderPfänderAlexander (1870–1941) mit seiner 1900 erstmals erschienenen PhänomenologiePhänomenologie des Wollens. Motive und MotivationMotivation als gleichzeitiger Mitbegründer der Phänomenologie in Betracht. Nicht zu verschweigen ist auch der Einfluss von Adolf ReinachReinachAdolf (1883–1917), der, obzwar zu der Zeit Husserls Schüler, als eigentlicher Begründer des phänomenologischen Objektivismus angesehen werden muss.6 ReinachReinachAdolf hatte einen grossen Einfluss auf die jüngeren Phänomenologen, zu denen neben Alexandre KoiréKoiréAlexandre (1892–1964) und Edith SteinSteinEdith (1891–1942) u.a. auch Dietrich von HildebrandHildebrandDietrich von gehörte.

Nach der Publikation von Husserls IdeenIdeen zu einer reinen PhänomenologiePhänomenologie und phänomenologischen Philosophie im Jahre 1913 nahmen verschiedene Phänomenologen allerdings eine kritische Haltung zu Husserls neuen Theorien und seiner Wende zum transzendentalen IdealismusTranszendentaler Idealismus ein. Eine Gruppe von Phänomenologen blieb Husserls Frühwerk und seinen Logischen Untersuchungen verbunden. Nachdem diese Richtung einst als Kreis der Göttinger und Münchener Phänomenologen bezeichnet wurde,7 hatte Josef SeifertSeifertJosef den Terminus Realistische PhänomenologieRealistische Phänomenologie eingeführt, um die historischen Bezeichnungen, die irreführend sein können, und die esoterischen Bezeichnungen Chreontologie und chreontische Philosophie8 mit einem sachlich angemesseneren Ausdruck zu überholen.9 Der phänomenologische Realismus ist nicht eine Philosophie, deren Gegenstände sich aus einer Setzung oder KonstruktionKonstruktion ergeben. Sie versteht die WirklichkeitWirklichkeit vielmehr so, dass ihre Gegenstände sich in ihrer eigenen objektiven NaturNatur und ihrer eigenen idealen oder realen ExistenzExistenz zu erkennen geben. Auch will sie keine neue Schulrichtung sein, sondern auf der „ewigen Philosophie“ (philosophia perennis) aufbauen, wie sie bei PlatonPlaton, AristotelesAristoteles, AugustinusAugustinus, AnselmAnselmvon Canterbury von Canterbury, Thomas von AquinThomas von Aquin, René DescartesDescartesRené und bei vielen anderen grundgelegt wurde.10