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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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Alle diese wunderbaren Einzelnheiten erfaßte Balsamo mit dem ersten Blicke; er hatte Alles gesehen, Alles bemerkt, von dem Augenblick, wo Fräulein von Taverney in den Speisesaal trat, bis zu dem Momente, wo er sie grüßte, und der Baron verlor seinerseits nicht einen von den Eindrücken, den dieser seltene oder vielmehr einzige Verein von Vollkommenheiten auf seinen Gast hervorbrachte.

»Sie haben Recht,« sprach mit leiser Stimme Balsamo, sich gegen seinen Wirth umwendend, »das Fräulein ist eine kostbare Schönheit.«

»Machen Sie der armen Andrée nicht zu viel Complimente, mein Herr,« versetzte mit gleichgültigem Tone der Baron; »sie kommt so eben aus dem Kloster und würde an das, was Sie ihr sagen, glauben. Nicht als befürchtete ich ihre Coquetterie, im Gegentheil, das liebe Kind ist nicht genug coquette, mein Herr, und als guter Vater bemühe ich mich, diese Eigenschaft, welche die erste Macht der Frauen bildet, bei ihr zu entwickeln.«

Andrée schlug die Augen nieder und erröthete. Mit dem besten Willen hatte sie nicht umhin können, diese seltsame Theorie ihres Vaters anzuhören.

»Sagte man dies dem Fräulein, als sie im Kloster war?« fragte lachend Joseph Balsamo, »bestand in dieser Vorschrift ein Theil des Unterrichts, den die Nonnen gaben?«

»Mein Herr,« entgegnete der Baron, »ich habe meine eigenen Ansichten, wie Sie bereits sehen konnten.«

Balsamo verbeugte sich, zum Zeichen, daß er diesem Anspruche des Barons völlig beipflichte.

»Nein,« fuhr dieser fort, »ich will die Familienväter nicht nachahmen, welche zu ihrer Tochter sagen: ,Sei klug, unbeugsam, blind; berausche Dich mit Ehre, Zartgefühl und Uneigennützigkeit!’ Die Dummköpfe! Es kommt mir vor, als sähe ich Sekundanten ihren Streiter, nachdem sie ihn von jedem Stücke entblößt und völlig entwaffnet, auf den Kampfplatz führen, um ihn gegen einen vom Scheitel bis zur Zehe bewaffneten Gegner kämpfen zu lassen. Nein, bei Gott, es wird bei meiner Tochter Andrée nicht so sein, obgleich sie in Taverney, einem Provinznest, erzogen worden ist.«

Wenn auch der Ansicht des Barons über die Bezeichnung, die er seinem Schlosse gegeben, so glaubte doch Balsamo einen Widerspruch mimisch ausdrücken zu müssen.

»Gut, gut,« versetzte der Greis, das Spiel des Gesichts von Balsamo beantwortend, »gut, ich weiß was an Taverney ist, sage ich Ihnen; doch wie es auch sein mag und so weit wir auch von der glänzenden Sonne entfernt sind, die man Versailles nennt, so wird doch meine Tochter die Welt kennen lernen, die ich einst so gut gekannt habe; sie wird in dieselbe eintreten  . . . wenn sie je eintritt, mit einem vollständigen Arsenal, das ich ihr mit Hülfe meiner Erfahrungen und meiner Erinnerungen schmiede  . . . Doch, mein Herr, ich muß Ihnen gestehen, ja, das Kloster hat Alles verdorben  . . . Meine Tochter, solche Dinge sind nur für mich gemacht, meine Tochter ist die erste Kostschülerin, die das Gute vom Unterricht genommen und den Buchstäben des Evangeliums befolgt hat! Corbleu! gestehen Sie, daß dies unglücklich spielen heißt, Baron.«

»Das Fräulein ist ein Engel,« antwortete Balsamo, »und in der That, mein Herr, was Sie mir da sagen, überrascht mich nicht.«

Andrée verbeugte sich vor dem Baron, um ihm ihren Dank und ihre Sympathie darzuthun, und setzte sich sodann, wie es ihr Vater ihr durch ein Zeichen mit den Augen befahl.

»Setzen Sie sich, Baron, und essen Sie, wenn Sie Hunger haben,« sprach Taverney. »Es ist ein abscheulicher Ragout, was dieses Thier von einem La Brie zusammengekocht hat.«

»Junge Feldhühner! Sie nennen das einen abscheulichen Ragout?« sagte lächelnd der Gast des Barons; »Sie verleumden Ihren Tisch. Junge Feldhühner im Mai! Sie sind also von Ihren Gütern?«

»Von meinen Gütern! Seit langer Zeit ist Alles, was ich besaß, und ich muß gestehen, mein guter Vater hinterließ mir eine gewisse Quantität, seit langer Zeit, sage ich, ist Alles, was ich besaß, verkauft, verzehrt, verdaut. O mein Gott! nein, ich habe keinen Zoll breit Land mehr, nein. Es kommt von dem Müssiggänger Gilbert, der nur zum Lesen und Träumen taugt, und der in seinen verlorenen Augenblicken irgendwo eine Flinte, Pulver und Blei gestohlen haben wird und dieses Geflügel schießt, indem er auf den Gütern meiner Nachbarn wildert. Er wird auf die Galeere kommen, und ich lasse ihn sicherlich gehen, denn das befreit mich von ihm. Doch Andrée liebt das Wildpret, weshalb ich Herrn Gilbert verzeihe.«

Balsamo betrachtete forschend das schöne Antlitz von Andrée, und er entdeckte darauf keine Falte, kein Beben, nicht einen Schatten von Röthe.

Er setzte sich zu Tische zwischen sie und den Baron, und sie legte ihm, ohne, wie es schien, im Geringsten über die Dürftigkeit der Tafel in Verlegenheit zu gerathen, seinen Theil von der durch Gilbert gelieferten und durch La Brie gewürzten Platte vor, welche der Baron so geringschätzend behandelte.

Der arme La Brie, der kein Wort von den Lobeserhebungen verlor, die Balsamo ihm und Gilbert ertheilte, reichte den Teller mit einer zerknirschten Miene, welche triumphirend wurde bei jedem Lobe, das der Baron der Zubereitung spenden zu müssen glaubte.

»Er hat seinen abscheulichen Ragout nicht gesalzen!« rief der Baron, nachdem er zwei Rebhühnerflügel verschlungen hatte, welche seine Tochter mitten unter eine ölige Lage Kohl auf seinen Teller legte. »Andrée, gib doch dem Herrn Baron das Salzfaß.«

Andrée gehorchte, den Arm mit vollkommener Anmuth ausstreckend.

»Ah! ich sehe, Sie bewundern abermals mein Salzfaß, Baron,« sagte Taverney.

»Diesmal täuschen Sie sich, mein Herr,« erwiederte Balsamo, »ich bewundere die Hand des Fräuleins.«

»Ah! vortrefflich, es ist ganz ein Richelieu! Doch, da Sie dieses berühmte Salzfaß, in welchem Sie sogleich das erkannten, was es ist, in der Hand haben, so schauen Sie es an; es wurde vom Regenten bei Lucas, dem Goldschmied, bestellt. Es sind Liebschaften von Satyrn und Bacchantinnen; das ist frei, aber hübsch.«

Balsamo bemerkte jetzt erst, daß die Gruppe von Figurinen, reizend, was die Arbeit betrifft, und kostbar in der Ausführung, nicht frei, sondern obscön war. Dieser Anblick veranlaßte ihn, die Ruhe und Gleichgültigkeit von Audrée zu bewundern, welche ihm auf Befehl ihres Vaters das Salzfaß gereicht hatte, ohne eine Miene zu verziehen, und fortaß, ohne zu erröthen.

Doch als hätte es sich der Baron zur Aufgabe gemacht, diesen Firniß der Unschuld abzuschuppen, der, dem jungfräulichen Rocke ähnlich, von dem die heilige Schrift spricht, die ganze Person seiner Tochter bedeckte, fuhr er fort, die Schönheiten seines Salzfasses auseinanderzusetzen, obgleich sich Balsamo die größte Mühe gab, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen.

»Essen Sie doch, Baron,« sagte Taverney; »denn ich bemerke Ihnen zum Voraus, daß nur diese Platte vorhanden ist. Vielleicht denken Sie, der Braten werde kommen und die Zwischengerichte warten; lassen Sie sich diesen Irrthum benehmen, denn Sie wären furchtbar betrogen.«

»Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte Andrée mit ihrer gewöhnlichen Kälte, »wenn Nicole mich recht verstanden hat, so muß sie einen Tôt-fait, dessen Recept ich sie lehrte, angefangen haben.«

»Das Recept! Du hast das Recept eines Gerichtes, Nicole Legay, Deiner Kammerfrau, mitgetheilt? Deine Kammerfrau besorgt die Küche? Es fehlte nur noch Eines: daß Du selbst kochen würdest. Kochten die Herzoginnen von Chateauroux oder die Marquise von Pompadour dem König? der König machte im Gegentheil ihnen Pfannkuchen. Mein Tag des Lebens! daß ich Frauen bei mir kochen sehen muß!  . . . Baron, ich bitte Sie, entschuldigen Sie meine Tochter.«

»Aber, mein Vater, man muß doch essen,« entgegnete ruhig Andrée. »Sprich, Legay,« fügte sie etwas lauter bei, »ist es gemacht?«

»Ja, mein Fräulein,« antwortete das Mädchen und brachte eine Platte, deren Geruch äußerst Appetit erregend war.

»Ich weiß wohl, wer nicht von diesem Gerichte essen wird,« rief Taverney wüthend und zerbrach seinen Teller.

»Dieser Herr ißt vielleicht davon,« sprach Andrée mit kaltem Tone.

Dann sich an ihren Vater wendend:

»Sie wissen, mein Herr, daß Sie nur noch siebzehn Teller von dem Service haben, der mir von meiner Mutter zukommt.«

Hiernach zerschnitt sie den Kuchen, den Nicole Legay, die hübsche Zofe, auf den Tisch gestellt hatte.

VI.
Andrée von Taverney

Der Beobachtungsgeist von Joseph Balsamo fand reiche Nahrung in jeder Einzelnheit dieses seltsamen, abgesonderten, in einem Winkel von Lothringen verlorenen Daseins.

Das Salzfaß allein enthüllte ihm eine ganze Seite vom Charakter des Baron von Taverney, oder vielmehr seinen Charakter unter allen seinen Seiten.

Seinen zartesten Scharfsinn zu Hülfe rufend, befragte er die Züge von Andrée in dem Augenblick, wo sie mit der Spitze ihres Messers die silbernen Figuren berührte, welche aus einem der nächtlichen Mahle des Regenten, in deren Folge Canillac die Kerzen auszulöschen beauftragt war, hervorgegangen zu sein schienen.

War es Neugierde, oder bewegte ihn ein anderes Gefühl  . . . Balsamo betrachtete Andrée mit einer solchen Beharrlichkeit, daß zwei oder dreimal in weniger als zehn Minuten die Augen der jungen Leute sich begegnen mußten. Anfangs hielt das reine, keusche Geschöpf diesen Blick ohne Verwirrung aus; endlich aber wurde er, während der Baron mit seiner Messerspitze das Meisterwerk von Nicole auszackte, so starr, daß eine fieberhafte Ungeduld, die ihr das Blut in die Wangen trieb, sich ihrer zu bemächtigen anfing. Bald versuchte sie es, als sie sich durch diesen beinahe übermenschlichen Blick beunruhigt fühlte, demselben zu trotzen, und sie war es nun, die den Baron mit ihrem großen, klaren, ausgedehnten Auge anschaute. Doch auch diesmal mußte sie nachgeben, und von dem magnetischen Fluidum, welches das glühende Auge ihres Gastes ausströmte, übergossen, senkte sich ihr Augenlied schwer und furchtsam, um sich nur mit Zögern wieder zu erheben.

 

Während sich indessen dieser stumme Kampf zwischen dem jungen Mädchen und dem geheimnißvollen Reisenden entspann, murrte, lachte und fluchte der Baron, schwur er als wahrer Landedelmann und knipp La Brie in den Arm, der sich zu seinem Unglück in dem Augenblick in seiner Nahe befand, wo ihm seine aufgereizten Nerven das Bedürfniß, etwas zu kneipen, fühlbar machten.

Er war ohne Zweifel im Begriff, dasselbe bei Nicole zu thun, als die Augen des Barons, zum ersten Male ohne Zweifel, auf die Hände der jungen Kammerfrau fielen.

Der Baron betete die schönen Hände an, für schöne Hände hatte er alle seine Jugendthorheiten begangen.

»Sieh da,« sagte er, »was für schöne Finger hat diese Weibsperson! wie der Nagel sich zuspitzt! wie er sich auf die Haut zurückbiegen würde, was eine Hauptschönheit ist, wenn das Holz, das man spaltet, wenn die Flaschen, die man schwenkt, wenn die Pfannen, die man scheuert, nicht das Horn furchtbar abnutzen würden! denn es ist Horn, was Sie am Ende Ihrer Finger haben, Mademoiselle Nicole.«

Wenig an die Complimente des Barons gewöhnt, schaute ihn Nicole mit einem Halblächeln an, an welchem das Erstaunen mehr Antheil hatte, als der Stolz.

»Ja, ja,« sagte der Baron, als er bemerkte, was in dem Herzen des gefallsüchtigen Mädchens vorging. »Schlage immerhin das Rad; das ist ganz nach meiner Ansicht. Oh! ich sage Ihnen, mein lieber Gast, die hier gegenwärtige Mademoiselle Nicole Legay ist durchaus keine Prude wie ihre Gebieterin, und ein Compliment macht ihr nicht bange.«

Die Augen von Balsamo wandten sich rasch der Tochter des Barons zu, und er sah die erhabenste Verachtung auf dem schönen Antlitz von Andrée ausgeprägt. Da fand er es für angemessen, sein Gesicht mit dem der Stolzen in Einklang zu setzen; diese bemerkte es und wußte ihm ohne Zweifel Dank dafür, denn sie schaute ihn mit weniger Härte, oder vielmehr mit weniger Unruhe an, als sie es bis dahin gethan.

»Sollten Sie wohl glauben, mein Herr,« fuhr der Baron fort, während er mit dem Rücken seiner Hand das Kinn von Nicole streichelte, welche er diesen Abend reizend zu finden entschlossen schien, »sollten Sie wohl glauben, daß diese Dirne aus dem Kloster kommt wie meine Tochter und beinahe Erziehung erhalten hat? Mademoiselle Nicole verläßt auch ihre Gebieterin nicht einen Augenblick. Es ist eine Anhänglichkeit, die bei den Herren Philosophen, welche behaupten, dergleichen Dinge haben Seelen, ein Lächeln hervorrufen würde.«

»Mein Herr.« sprach Andrée unzufrieden, »es geschieht nicht aus Anhänglichkeit, daß mich Nicole nicht verläßt, sondern weil ich ihr befehle, mich nicht zu verlassen.«

Balsamo schlug seine Augen zu Nicole auf, um zu erforschen, welche Wirkung diese Worte ihrer bis zur Beleidigung stolzen Gebieterin auf sie hervorbrächten, und er sah an dem Zusammenziehen ihrer Lippen, daß sie durchaus nicht unempfindlich gegen die Demüthigungen war, welche aus ihrem Dienstbotenverhältniß hervorgingen.

Dieser Ausdruck zog indessen wie ein Blitz über das Antlitz der Zofe hin, sie wandte sich ab, ohne Zweifel, um eine Thräne zu verbergen, und ihre Augen richteten sich nach einem Fenster des Speisesaals, das gegen den Hof ging. Alles interessirte Balsamo, der seinerseits unter diesen Personen, in deren Mitte er eingeführt worden war, etwas zu suchen schien; Alles interessirte Balsamo, sagen wir; sein Blick folgte dem Blicke von Nicole und es kam ihm vor, als bemerkte er an dem Fenster, das der Gegenstand der Aufmerksamkeiten von Nicole war, ein männliches Gesicht.

»In der That,« dachte er, »Alles ist seltsam in diesem Hause, Jedes hat sein Geheimniß, und ich hoffe, ehe eine Stunde vergeht, das von Fräulein Andrée zu kennen. Ich kenne bereits das Geheimniß des Barons und errathe das von Nicole.«

Er hatte einen Augenblick der Abwesenheit, doch so kurz dieser Augenblick war, so entging es doch dem Baron nicht.

»Sie träumen auch,« sagte er, »Sie sollten wenigstens die Nacht hiezu abwarten, mein lieber Gast. Die Träumerei ist ansteckend, und es ist eine Krankheit, die sich hier erbt, wie mir scheint. Wir wollen die Träumer zählen. Wir haben zuerst Fräulein Andrée, welche träumt, sodann haben wir Mademoiselle Nicole, welche träumt; endlich sehe ich jeden Augenblick den Taugenichts träumen, der diese jungen Feldhühner geschossen hat, welche vielleicht ebenfalls träumten, als er sie schoß.«

»Gilbert?« fragte Balsamo.

»Ja! ein Philosoph wie Herr La Brie; doch was die Philosophen betrifft, gehören Sie zufällig zu Ihren Freunden? Oh! dann sage ich Ihnen, daß Sie nicht zu den meinigen gehören werden  . . .«

»Nein, mein Herr, ich stehe weder gut, noch schlecht mit ihnen; ich kenne keinen,« antwortete Balsamo.

»Bei Gott, desto besser! es sind gemeine Thiere, noch viel giftiger, als häßlich! Sie richten die Monarchie mit ihren Maximen zu Grunde! Man lacht nicht mehr in Frankreich, man liest, und was liest man? Phrasen wie diese: Unter einer monarchischen Regierung ist es sehr schwierig für das Volk, tugendhaft zu sein;3 oder auch: Die wahre Monarchie ist nur eine eingebildete Constitution, um die Sitten der Völker zu verderben und diese in Knechtschaft zu erhalten;4 oder endlich: Wenn die Gewalt der Könige von Gott kommt, so ist es wie bei den Krankheiten und Geisseln des Menschengeschlechts.5 Wie das Alles ergötzlich ist! ein tugendhaftes Volk! wozu sollte das nützen? frage ich Sie. Ah! Alles geht schlimm, und zwar seitdem Seine Majestät mit Herrn von Voltaire gesprochen und die Bücher von Herrn Diderot gelesen hat.«

In diesem Augenblick glaubte Balsamo abermals das bleiche Gesicht hinter den Scheiben erscheinen zu sehen. Doch dieses Gesicht verschwand, sobald er seine Augen auf dasselbe heftete.

»Sollte das Fräulein Philosophin sein?« fragte Balsamo lächelnd.

»Ich weiß nicht, was Philosophie ist,« antwortete Andrée. »Ich weiß nur, daß ich das liebe, was ernst ist.«

»Ei! mein Fräulein, nichts ist meiner Ansicht nach ernster, als gut zu leben,« rief der Baron; »lieben Sie also dieses.«

»Aber mir scheint, das Fräulein haßt das Leben nicht?« fragte Balsamo.

»Je nachdem, mein Herr,« erwiederte Andrée.

»Das ist auch ein albernes Wort,« sprach der Baron. »Sollten Sie wohl glauben, mein Herr, daß diese Antwort mir schon Buchstabe für Buchstabe von meinem Sohn zu Theil geworden ist?«

»Sie haben einen Sohn, mein lieber Wirth?« fragte Balsamo.

»Oh! mein Gott, ja, ich habe dieses Unglück, einen Vicomte von Taverney, Lieutenant bei den Dauphin-Gendarmen, ein vortreffliches Subject!  . . .«

Während der Baron diese drei letzten Worte sprach, preßte er die Zähne zusammen, als wollte er jeden Buchstaben kauen.

»Ich wünsche Ihnen Glück, mein Herr,« sagte Balsamo sich verbeugend.

»Ja,« erwiederte der Greis, »auch ein Philosoph. Man kann bei meinem Ehrenwort nur die Achsel zucken. Sprach er mir nicht eines Tages von Befreiung der Neger? ,Und der Zucker?’ fragte ich, ,ich liebe meinen Kaffee stark gezuckert und der König Ludwig XV. Ebenfalls.’ ,Mein Herr,’ antwortete er mir, ,eher den Zucker entbehren, als eine Race leiden sehen  . . .’ ,Eine Race von Affen,’ rief ich; und damit that ich ihm noch viel Ehre an. Wissen Sie, was er behauptete? So wahr ich ein Edelmann bin, es muß Etwas in der Luft sein, das ihnen den Kopf verdreht; er antwortete mir, alle Menschen seien Brüder! Ich der Bruder eines Mozambique!’ «

»Oh! Oh!« rief Balsamo, »das heiße ich weit gehen.«

»Wie! was meinen Sie dazu? Nicht wahr, ich habe Glück mit meinen zwei Kindern, und man wird nicht sagen, ich lebe in meiner Nachkommenschaft wieder auf. Die Schwester ist ein Engel und der Bruder ein Apostel! Trinken Sie, mein Herr  . . . mein Wein ist abscheulich.«

»Ich finde ihn ausgezeichnet,« versetzte Balsamo, Andrée anschauend.

»Dann sind Sie auch ein Philosoph! Oh! nehmen Sie sich in Acht, ich lasse Ihnen eine Rede von meiner Tochter halten. Doch nein, die Philosophen haben keine Religion. Mein Gott! es war indessen sehr bequem, Religion zu haben. Man glaubte an Gott und an den König, und damit war Alles abgemacht. Heut zu Tage muß man, um weder an den Einen, noch an den Andern zu glauben, zu viele Dinge lernen und zu viele Bücher lesen: ich will lieber niemals zweifeln. Zu meiner Zeit lernte man wenigstens nur angenehme Dinge; man studirte gut Pharo, Biribi oder Passe-dir spielen; man zog ganz angenehm den Degen, trotz der Edicte; man richtete Herzoginnen zu Grunde, oder ruinirte sich für Tänzerinnen: das ist meine Geschichte. Ganz Taverney ist für die Oper aufgegangen, und das ist das Einzige, was ich beklage, insofern ein ruinirter Mensch kein Mensch ist. So wie Sie mich sehen, scheine ich alt zu sein, nicht wahr? Nun! das kommt davon her, daß ich ruinirt bin und in einer Höhle lebe; daß meine Perrücke abgetragen und mein Kleid gothisch ist; doch sehen Sie meinen Freund, den Marschall, an, der neue Kleider und frisch tapirte Perrücken besitzt, der in Paris wohnt und zweimal hunderttausend Livres Rente hat. Er ist noch jung, er ist noch grün, munter, zu Abenteuern geneigt! Zehn Jahre älter als ich, zehn Jahre!«

»Sprechen Sie von Herrn von Richelieu?«

»Allerdings.«

»Vom Herzog?«

»Bei Gott! ich denke, nicht vom Cardinal, ich datire nicht bis zu ihm zurück. Uebrigens hat er nicht gethan, was sein Neffe thut; er hat nicht so lange ausgehalten.«

»Ich wundere mich, mein Herr, daß Sie bei so mächtigen Freunden, wie Sie zu besitzen scheinen, den Hof verließen.«

»Oh! das ist nur ein augenblicklicher Rückzug, und ich werde eines Tages wieder an demselben erscheinen,« sprach der alte Baron, einen seltsamen Blick auf seine Tochter werfend.

Dieser Blick wurde auf dem Wege von Balsamo aufgefangen.

»Doch der Marschall läßt wenigstens Ihren Sohn avanciren?«

»Er, meinen Sohn! er haßt ihn.«

»Den Sohn seines Freundes?«

»Und er hat Recht.«

»Wie! Sie sagen das?«

»Bei Gott! einen Philosophen! er verabscheut ihn!«

»Philipp gibt es ihm übrigens zurück,« sagte Andrée mit vollkommener Ruhe. »Trage ab, Legay!«

Der aufmerksamen Beobachtung entrissen, welche sie an das Fenster fesselte, lief Nicole eiligst herbei.

»Ah!« sagte der Baron seufzend, »früher blieb man bis zwei Uhr Morgens bei Tische sitzen. Das geschah, weil man zu essen hatte und weil man noch trank, wenn man nicht mehr aß! Doch wie soll man Treberwein trinken, wenn man nicht mehr ißt?  . . . Legay, gib eine Flasche Marasquin, wenn noch da ist.«

»Hole,« sprach Andrée zu Legay, welche auf die Befehle ihrer Gebieterin zu warten schien, um denen des Barons zu gehorchen.

Der Baron hatte sich in seinem Lehnstuhle zurückgelegt und stieß mit einer grotesken Schwermuth Seufzer aus.

»Sie sprachen vom Marschall von Richelieu,« sagte Balsamo, wie es schien, entschlossen, das Gespräch nicht fallen zu lassen.

»Ja,« erwiederte Taverney, »ich sprach von ihm, das ist wahr.«

»Wenn er Ihren Sohn verabscheut, und Recht hat, ihn zu verabscheuen, weil er ein Philosoph ist,« fuhr Balsamo fort, »so mußte er seine Freundschaft für Sie bewahren, denn Sie sind keiner.«

»Ein Philosoph? Gott sei Dank, nein!«

»Ich denke, es fehlt Ihnen nicht an Titeln? Sie haben dem König gedient?«

»Fünfzehn Jahre. Ich war Adjutant des Marschalls, wir machten mit einander die Campagne von Mahon und unsere Freundschaft datirt sich, meiner Treue! warten Sie, von der berühmten Belagerung von Philippsburg, nämlich von 1742 oder 1743.«

»Ah! sehr gut,« sprach Balsamo, »Sie waren bei der Belagerung von Philippsburg  . . . und ich auch  . . .«

Der Greis richtete sich in seinem Lehnstuhle auf, schaute Balsamo mit weit aufgesperrten Augen in das Gesicht, und rief:

»Verzeihen Sie, wie alt sind Sie denn, mein lieber Gast?«

 

»Oh! ich habe kein Alter.« sprach Balsamo und bot sein Glas, damit ihm der Marasquin von der schönen Hand von Andrée eingeschenkt würde.

Der Graf legte die Antwort seines Gastes auf seine Weise aus und glaubte, Balsamo hätte eine Ursache, sein Alter nicht zu gestehen.

»Mein Herr,« sagte er, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie nicht das Alter eines Soldaten von Philippsburg zu haben scheinen. Es sind acht und zwanzig Jahre seit dieser Belagerung und Sie zählen höchstens dreißig, wenn ich mich nicht täusche.«

»Ei, mein Gott! wer zählt nicht dreißig Jahre?« sagte der Reisende mit gleichgültigem Tone.

»Ich, bei Gott!« rief der Baron, »denn ich bin gerade um dreißig Jahre älter.«

Andrée schaute den Fremden mit einer Starrheit an, welche die unwiderstehliche Anziehungskraft der Neugierde kundgab. Dieser seltsame Mensch offenbarte sich ihr in der That jeden Augenblick unter einem neuen Lichte.

»Mein Herr, Sie bringen mich in Verwirrung,« sagte der Baron, »vorausgesetzt wenigstens, daß Sie sich nicht täuschen, was wohl möglich ist, und Philippsburg mit einer andern Stadt verwechseln. Wie ich Sie sehe, sind Sie höchstens dreißig Jahre alt, nicht wahr, Andrée?«

»In der That,« antwortete diese, welche abermals den mächtigen Blick ihres Gastes auszuhalten suchte, was ihr auch diesmal nicht gelang.

»Nein, nein,« sprach der Letztere, »ich weiß, was ich sage, und sage, wie es sich verhält. Ich rede von der berühmten Belagerung von Philippsburg, wo der Herr Herzog von Richelieu im Duell seinen Vetter, den Prinzen von Liren, getödtet hat. Es geschah bei der Rückkehr vom Laufgraben, auf der Landstraße; meiner Treue, am Rande dieser Straße, linker Hand, stieß er ihm seinen Degen durch den Leib. Ich ging gerade vorüber, als ihn der Prinz von Zweibrücken im Todeskampfe in seinen Armen hielt. Er saß am Rande des Grabens, während Herr von Richelieu ruhig seinen Degen abwischte.«

»Mein Herr, Sie setzen mich bei meiner Ehre im höchsten Maaße in Erstaunen,« rief der Baron. »Es geschah genau, wie Sie sagen.«

»Sie hörten wohl die Sache erzählen?« fragte Balsamo ruhig.

»Ich war dabei, ich hatte die Ehre als Zeuge des Herrn Marschalls, der damals noch nicht Marschall war, dem Duell beizuwohnen.«

»Warten Sie doch einen Augenblick,« sprach Balsamo, den Baron fest anschauend.

»Was?«

»Trugen Sie damals nicht die Uniform eines Kapitäns?«

»Ganz richtig.«

»Sie waren bei dem Regiment der Königin-Chevaulegers, welche bei Fontenoy beinahe ganz aufgerieben wurden.«

»Waren Sie auch bei Fontenoy?« versetzte der Baron, der einen Spaß zu machen suchte.

»Nein,« antwortete ruhig Balsamo; »bei Fontenoy war ich todt.«

Der Baron riß die Augen weit auf, Andrée schauerte, Nicole machte das Zeichen des Kreuzes.

»Um auf das zurückzukommen, was ich vorhin sagte,« fuhr Balsamo fort, »Sie trugen die Uniform der Chevauxlegers, ich erinnere mich dessen jetzt vollkommen. Ich sah Sie im Vorübergehen, Sie hielten Ihr Pferd und das des Marschalls, während dieser sich schlug. Ich näherte mich Ihnen und fragte Sie nach den einzelnen Umständen, Sie nannten mir dieselben.«

»Ich?«

»Ja, bei Gott! Sie. Ich erkenne Sie nun wieder, Sie führten damals den Titel Chevalier, und man nannte Sie nur den kleinen Chevalier.«

»Mord und Tod!« rief Taverncy ganz erstaunt.

»Entschuldigen Sie mich, daß ich Sie nicht sogleich erkannte. Doch dreißig Jahre ändern einen Menschen gewaltig. Auf die Gesundheit des Marschalls von Richelieu, mein lieber Baron!«

Und Balsamo hob sein Glas in die Höhe und leerte es sodann bis auf den letzten Tropfen.

»Sie haben mich zu jener Zeit gesehen?« wiederholte der Baron. »Unmöglich!«

»Ich habe Sie gesehen,« sprach Balsamo.

»Auf der Landstraße?«

»Auf der Landstraße.«

»Die Pferde haltend?«

»Die Pferde haltend.«

»Im Augenblick des Duells?«

»Als der Prinz den letzten Seufzer von sich gab, wie ich Ihnen sagte.«

»Sie sind also fünfzig Jahre alt?«

»Ich bin so alt, als man sein muß, um Sie gesehen zu haben.«

Diesmal warf sich der Baron mit einer so unwilligen Miene in seinem Stuhle zurück, daß Nicole sich des Lachens nicht erwehren konnte.

Aber statt zu lachen, wie Nicole, begann Andrée, ihre Augen starr auf die von Balsamo gerichtet, zu träumen.

Es war, als hätte er diesen Augenblick erwartet und vorhergesehen.

Er stand plötzlich auf und warf ein paar Blitze aus seinem entflammten Augensterne auf das Mädchen, das nun bebte, als würde es von einer elektrischen Erschütterung berührt.

Die Arme von Andrée wurden steif, ihr Hals beugte sich, sie lächelte unwillkürlich dem Fremden zu und schloß dann die Augen.

Immer noch stehend berührte er ihre Arme; sie bebte abermals.

»Und Sie auch, mein Fräulein,« sprach er, »Sie denken auch, ich sei ein Lügner, weil ich behaupte, ich habe der Belagerung von Philippsburg beigewohnt?«

»Nein, mein Herr, ich glaube Ihnen,« stammelte Andrée mit einer übermenschlichen Anstrengung.

»Dann fasle ich,« sprach der alte Baron. »Ah! verzeihen Sie, wenn nicht etwa der Herr ein Geist, ein Schatten ist!«

Nicole riß die Augen ganz erschrocken auf.

»Wer weiß?« sagte Balsamo mit so gewichtigem Tone, daß er das junge Mädchen vollends fesselte.

»Sprechen Sie im Ernste, Herr Baron?« versetzte der Greis, der in der Sache auf das Klare zu kommen entschlossen zu sein schien: »Sind Sie mehr als dreißig Jahre alt? In der That, es hat nicht den Anschein.«

»Mein Herr,« sprach Balsamo, »werden Sie überzeugt sein, wenn ich Ihnen etwas wenig Glaubwürdiges sage?«

»Ich stehe Ihnen nicht dafür,« sprach der Baron mit einer verdrießlichen Miene den Kopf schüttelnd, während Andrée im Gegentheil mit aller Gewalt horchte. »Ich bin sehr ungläubig, das muß ich Ihnen zum Voraus bemerken.«

»Wozu nützt es Sie dann, eine Frage an mich zu stellen, deren Antwort Sie nicht hören werden?«

»Gut, ich will Ihnen glauben, sind Sie damit zufrieden?«

»So wiederhole ich Ihnen, was ich bereits gesagt: ich habe Sie nicht nur gesehen, sondern sogar bei der Belagerung von Philippsburg gekannt.«

»Sie waren damals ein Kind?«

»Ohne Zweifel.«

»Sie mochten höchstens vier bis fünf Jahre alt sein?«

»Nein; ich war ein und vierzig.«

»Ah! ah! ah!« rief der Baron mit einem schallenden Gelächter, während Nicole sein Echo bildete.

»Ich sagte es Ihnen, mein Herr,« sprach mit ernstem Tone Balsamo; »Sie glauben mir nicht?«

»Wie soll man das glauben!  . . . geben Sie mir einen Beweis.«

»Es ist indessen ganz klar,« versetzte Balsamo, ohne die geringste Verlegenheit zu offenbaren; »ich zählte damals ein und vierzig Jahre, das ist richtig; aber ich sage nicht, daß ich der Mensch war, der ich bin.«

»Ah! ah! doch das rührt vom Heidenthum her,« rief der Baron. »Gab es nicht einen griechischen Philosophen, – diese verfluchten Philosophen hat es zu allen Zeiten gegeben! – gab es nicht einen griechischen Philosophen, der keine Bohnen aß, weil er behauptete, sie hätten Seelen, wie mein Sohn dies von den Negern behauptet?  . . . Wer erfand dies doch? Es war  . . . wie Teufels nennen sie ihn?«

»Pythagoras,« sprach Andrée.

»Ja, Pythagoras, die Jesuiten lehrten mich das früher. Der Pater Porée ließ mich Verse hierüber im Wettstreit mit dem kleinen Arouet machen. Ich erinnere mich sogar, daß er die meinigen unendlich viel besser fand, als die seinigen. Pythagoras, so ist es.«

»Nun! wer sagt Ihnen, daß ich nicht Pythagoras gewesen bin?« entgegnete Balsamo ganz einfach.

»Ich leugne nicht, daß Sie Pythagoras gewesen sind,« versetzte der Baron, »doch Pythagoras war nicht bei der Belagerung von Philippsburg. Wenigstens habe ich ihn nicht dabei gesehen.«

»Sicherlich, doch Sie haben den Vicomte Jean des Barreaux gesehen, der bei den schwarzen Musketieren stand?«

»Ja, ja, den sah ich wohl; doch das war kein Philosoph, obgleich er einen Abscheu vor den Bohnen hatte und nur davon aß, wenn er es nicht anders machen konnte.«

»So ist es. Erinnern Sie sich, daß am andern Tage nach dem Duell von Herrn von Richelieu des Barreaux mit Ihnen im Laufgraben war?«

»Vollkommen.«

»Denn Sie entsinnen sich wohl des Umstandes, daß die schwarzen Musketiere und die Chevauxlegers alle sieben Tage mit einander den Posten bezogen?«

»Ganz richtig, und dann?«

»Die Kartätschen fielen wie Hagel an diesem Abend. Des Barreaux war traurig, er näherte sich Ihnen und bat Sie um eine Prise, die Sie ihm aus einer goldenen Dose boten.«

»Worauf das Portrait einer Frau war.«

»So ist es. Ich sehe sie noch vor mir; blond, nicht wahr?«

»Bei Gott! Sie haben Recht,« sprach der Baren ganz bestürzt. »Hernach?«

»Hernach,« fuhr Balsamo fort, »als er diese Prise schlürfte, packte ihn eine Kugel am Halse, wie einst Herrn von Berwick, und riß ihm den Kopf weg,«

»Ach! ja, der arme des Barreaux!«

»Nun, mein Herr, Sie sehen, daß ich Sie bei Philippsburg gekannt habe, denn ich war des Barreaux in Person,« sprach Balsamo.

3Montesquieu.
4Helvetius.
5Jean Jacques Rousseau.