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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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Der Baron warf sich von einem Anfall des Schreckens, oder vielmehr des Erstaunens ergriffen, der sogleich dem Fremden den Vortheil verlieh, in seinem Lehnstuhle zurück.

»Das ist Hexerei,« rief er; »vor hundert Jahren hätte man Sie verbrannt, mein lieber Gast. Ei, mein Gott! es kommt mir vor, als spürte man hier den Geruch eines Geistes, eines Gehenkten, eines Verbrannten.«

»Herr Baron,« entgegnete lächelnd Balsamo, »ein wahrer Zauberer wird weder gehenkt, noch verbrannt, prägen Sie sich das wohl ein; nur die Dummköpfe haben es mit dem Scheiterhaufen oder dem Stricke zu thun. Doch beliebt Ihnen, daß wir diesen Abend hier bleiben? Fräulein von Taverney schläft ein. Es scheint, die metaphysischen Discussienen und die verborgenen Wissenschaften interessiren sie nur in geringem Grade.«

Durch eine unbekannte, unwiderstehliche Kraft unterjocht, wiegte Andrée in der That sanft ihre Stirne, wie eine Blume, deren Kelch einen zu starken Thautropfen empfangen hat.

Doch bei den letzten Worten des Barons machte sie eine Anstrengung, um den beherrschenden Einfall eines Fluidums, das sie niederdrückte, zurückzutreiben; sie schüttelte kräftig den Kopf, stand auf und verließ, Anfangs wankend, dann von Nicole unterstützt, den Speisesaal

Zu gleicher Zeit, wo sie verschwand, verschwand auch das an die Scheiben gedrückte Gesicht, in welchem Balsamo längst das von Gilbert erkannt hatte.

Einen Augenblick nachher hörte man Andrée lebhaft die Tasten ihres Klaviers bearbeiten.

Balsamo war ihr mit dem Auge gefolgt, so lange sie wankend den Speisesaal durchschritt.

»Aus,« sprach er triumphirend, sobald sie verschwunden war, »ich kann wie Archimedes sagen:

»Eureka

»Wer ist Archimedes?«

»Ein braver Gelehrter, den ich vor zweitausend ein hundert und fünfzig Jahren gekannt habe.«

VII.
Eureka

Schien dem Baron die Gasconnade diesmal zu stark, hatte er sie nicht gehört, oder hatte er sie gehört, und war es ihm nicht unangenehm, das Haus von seinem seltsamen Gaste zu befreie  . . . er folgte Andrée mit den Augen, bis sie verschwunden war, und machte sodann, als ihm das Geräusch ihres Klavieres bewies, daß sie sich im anstoßenden Zimmer beschäftigte, Balsamo das Anerbieten, ihn in die nächste Stadt führen zu lassen.

»Ich habe ein schlechtes Pferd, das vielleicht dabei krepiren wird,« sagte er, »doch es wird an Ort und Stelle kommen, und Sie sind wenigstens sicher, daß Sie eine entsprechende Lagerstätte erhalten. Nicht als ob es in Taverney an einem Zimmer und an einem Bette gebräche, nein, aber ich habe meine eigenen Begriffe von der Gastfreundschaft. Gut oder nichts, das ist mein Wahlspruch.«

»Sie schicken mich also fort?« erwiederte Balsamo, seinen Aerger unter einem Lächeln verbergend, »das heißt mich als Ueberlästigen behandeln.«

»Nein, bei Gott! das heißt Sie als Freund behandeln, mein lieber Gast. Sie hier einzuquartieren hieße im Gegentheil feindselig gegen Sie verfahren. Zu meinem großen Bedauern und zur Entlastung meines Gewissens sage ich Ihnen dies; denn in der That, Sie gefallen mir ungemein.«

»Gefalle ich Ihnen, so nöthigen Sie mich nicht, aufzustehen, während ich müde bin, zu reiten, indeß ich meine Arme ausstrecken und meine Beine in einem Bette von der Erstarrung befreien könnte. Uebertreiben Sie Ihre unbemittelte Lage nicht, soll ich nicht etwa an einen bösen Willen glauben, der mich persönlich betreffen würde.«

»Oh! wenn es sich so verhält, so werden Sie im Schlosse schlafen,« sprach der Baron.

Dann schaute er umher, um La Brie zu suchen, und als er ihn erblickte, rief er ihm zu:

»Vorwärts, alter Schuft!«

La Brie machte schüchtern einige Schritte.

»Vorwärts, beim Teufel! Glaubst Du, daß das rothe Zimmer sich anbieten läßt?«

»Ganz gewiß, gnädiger Herr, denn es ist das, welches Herr Philipp bewohnt, wenn er nach Taverney kommt.«

»Es kann sehr gut für einen armen Teufel von einem Lieutenant sein, der drei Monate bei einem zu Grunde gerichteten Vater zubringen will, und sehr schlecht für einen reichen, vornehmen Herrn, der vierspännig mit Extrapost fährt.«

»Ich versichere Sie, Herr Baron, es wird ganz vortrefflich sein,« versetzte Balsamo.

Der Baron machte eine Grimasse, als wollte er sagen: »Schon gut, ich weiß was daran ist.«

Dann sprach er laut:

»Gib also dem Herrn das rothe Zimmer, da der Herr für immer von der Lust, nach Taverney zurückzukehren, geheilt sein will. Sie wollen also durchaus hier über Nacht bleiben?«

»Ja.«

»Doch warten Sie  . . . es gäbe ein Mittel.«

»Wozu?«

»Daß Sie den Weg nicht zu Pferde machen müßten.«

»Welchen Weg?«

»Den Weg, der von hier nach Bar-le-Duc führt.«

Balsamo erwartete die Entwicklung des Vorschlags.

»Nicht wahr, Postpferde haben Sie hierher gebracht?«

»Allerdings, wenn es nicht etwa Satan gewesen ist.«

»Ich dachte Anfangs, es wäre dies möglich, denn ich glaube, Sie stehen nicht ganz schlecht mit ihm.«

»Sie erweisen mir unendlich mehr Ehre, als ich verdiene.«

»Nun, die Pferde, die Ihren Wagen gebracht haben, können ihn auch wieder fortführen«

»Nein, denn es bleiben nur noch zwei von den vieren übrig. Der Wagen ist schwer, und die Postpferde müssen schlafen.«

»Abermals ein Grund. Sie legen offenbar einen Werth darauf, hier über Nacht zu bleiben.«

»Es liegt mir daran, Sie morgen wiederzusehen. Ich will Ihnen meine Dankbarkeit bezeigen.«

»Sie haben ein ganz einfaches Mittel zu diesem Behufe.«

»Welches?«

»Da Sie so gut mit dem Teufel sind, so bitten Sie ihn, mich den Stein der Weisen finden zu lassen.«

»Mein Herr Baron, wenn Ihnen so viel daran gelegen wäre  . . .«

»An dem Stein der Weisen! Bei Gott! hätte ich ihn!«

»Dann müßten Sie sich an eine Person wenden, die nicht der Teufel ist.«

»Wer ist diese Person?«

»Ich, wie Corneille, ich weiß nicht in welcher Komödie sagt, die er mir gerade vor hundert Jahren recitirte, während wir in Paris über den Pont-Neuf gingen.«

»La, Brie! alter Schuft! suche eine Kerze und leuchte dem Herrn,« rief der Baron, der das Gespräch zu einer solchen Stunde und mit einem solchen Menschen gefährlich zu finden anfing.

La Brie beeilte sich, zu gehorchen, und während er die Nachsuchung vornahm, deren Erfolg eben so zweifelhaft war, als hätte es dem Steine der Weisen gegolten, rief er Nicole, welche zuerst hinaufgehen und das rothe Zimmer auslüften sollte.

Nicole ließ Andrée allein, oder Andrée war vielmehr entzückt, diese Gelegenheit zu finden, ihre Kammerfrau zu entlassen, denn sie fühlte das Bedürfniß, nur mit ihren Gedanken zusammen zu sein.

Der Baron wünschte Balsamo gute Nacht und legte sich schlafen.

Balsamo zog seine Uhr: er erinnerte sich des Versprechens, das er Althotas geleistet hatte. Der Gelehrte schlief bereits zwei und eine halbe Stunde statt zwei Stunden. Es waren dreißig Minuten verloren. Er fragte daher La Brie, ob der Wagen immer noch an demselben Orte stehe.

La Brie antwortete, wenn er nicht allein weggegangen sei, so müsse er noch dort stehen.

Balsamo erkundigte sich, was aus Gilbert geworden.

La Brie versicherte, Gilbert sei ein Taugenichts, der wenigstens seit einer Stunde schlafen gegangen.

Balsamo entfernte sich, um Althotas zu wecken, nachdem er zuvor die Topographie des Weges, der nach dem rothen Zimmer führte, studiert hatte.

Herr von Taverney hatte hinsichtlich der Mittelmäßigkeit dieses Zimmers nicht gelogen: die Ausstattung entsprach der der übrigen Räume des Schlosses.

Eine eichene Bettstätte und darauf eine Decke von altem, grünem, gelbgewordenem Damast, der Tapete mit Blumengehängen ähnlich; ein eichener Tisch mit gedrehten Füßen; ein großer, steinerner Kamin aus der Zeit von Ludwig XIII. herstammend, dem der Winter eine gewisse Ueppigkeit verleihen konnte, während ihm die Abwesenheit des Feuers, der Mangel an Feuerböcken und anderen Geräthschaften, der Mangel an Holz und die sonderbare Ausfüllung mit alten Zeitungen das Aussehen eines höchst traurigen Sommers verliehen; dies war das Mobiliar, dessen glücklicher Eigenthümer Balsamo für eine Nacht sein sollte.

Wir fügen zwei Stühle und einen Schrank von grau angemaltem Holz mit ausgehöhlten Füllungen bei.

Während La Brie etwas Ordnung in dieses Zimmer zu bringen suchte, das von Nicole gelüftet worden war, welche sich nach dieser Operation wieder entfernt hatte, weckte Balsamo Althotas und kehrte sodann in das Haus zurück.

Vor dem Zimmer von Andrée blieb er stehen, um zu horchen. In dem Augenblick wo Andrée den Speisesaal verließ, bemerkte sie, daß sie dem geheimnißvollen Einfluß entging, den der Reisende über sie ausübte. Und um dies bis auf den Gedanken zu bekämpfen, setzte sie sich an das Klavier.

Die Töne gelangten durch die geschlossene Thüre zu Balsamo.

Balsamo war, wie gesagt, vor dieser Thüre stehen geblieben.

Nach einem Augenblick machte er mehrere abgerundete Geberden, welche man für eine Beschwörung hätte halten können, und die ohne Zweifel auch eine solche waren, denn von einem Gefühle, ähnlich dem berührt, welches sie bereits erfahren hatte, hörte Andrée sachte auf, ihre Melodie zu spielen, ließ ihre Hände an der Seite herabfallen und wandte sich mit einer langsamen, starren Bewegung nach der Thüre, wie eine Person, die einem fremden Einfluß folgt und Dinge erfüllt, welche ihr nicht durch ihren eigenen Willen geboten werden.

Balsamo lächelte im Schatten, als ob er durch die geschlossene Thüre hätte sehen können.

Es war dies ohne Zweifel Alles, was Balsamo wünschte, und er errieth, daß dieser Wunsch erfüllt wurde, denn er streckte die linke Hand aus und stieg, als er unter dieser Hand das Geländer gefunden hatte, die steile, plumpe Treppe hinauf, welche zu dem rothen Zimmer führte.

 

In demselben Maaße, in dem er sich entfernte, wandte sich Andrée mit einer langsamen, steifen Bewegung von der Thüre ab und kehrte zu dem Klaviere zurück. Als Balsamo die letzte Stufe der Treppe erreichte, konnte er die ersten Noten der unterbrochenen Melodie hören, welche Andrée wieder aufgenommen hatte

Balsamo trat in das rothe Zimmer und entließ La Brie.

La Brie war offenbar ein guter Diener und gewohnt, auf ein Zeichen zu gehorchen. Als er jedoch ein paar Schritte nach der Thüre gemacht hatte, blieb er stehen.

»Nun?« fragte Balsamo.

La Brie steckte seine Hand in seine Westentasche und schien etwas in der Tiefe dieser Tasche zu befühlen, antwortete aber nicht.

»Habt Ihr mir etwas zu sagen, mein Freund?« fragte Balsamo sich ihm nähernd.

La Brie schien eine heftige Anstrengung gegen sich selbst zu machen, zog seine Hand aus seiner Tasche und erwiederte:

»Ich will Ihnen sagen, mein Herr, daß Sie sich ohne Zweifel diesen Abend geirrt haben.«

»Ich!« versetzte Balsamo, »und worin, mein Freund?«

»Darin, daß Sie mir ein Vierundzwanzig-Sous-Stück zu geben glaubten, und ein Vierundzwanzig-Livres-Stück gaben.«

Und er öffnete seine Hand und zeigte einen neuen, funkelnden Louis d’or.

Balsamo schaute den alten Diener mit einer Bewunderung an, aus der hervorzugehen schien, daß er im Durchschnitt vor den Menschen keine große Achtung in Beziehung auf Redlichkeit hatte.

»And honest!« sagte er, wie Hamlet.

Und er griff ebenfalls in seine Tasche und legte einen zweiten Louis d’or neben den ersten. Die Freude von La Brie bei dem Anblicke dieser glänzenden Großmuth, läßt sich kaum begreifen. Seit wenigstens zwanzig Jahren hatte er kein Gold mehr gesehen.

Damit er sich für den glücklichen Eigenthümer eines solchen Schatzes hielt, mußte ihm Balsamo denselben aus der Hand nehmen und selbst in seine Tasche stecken.

Er verbeugte sich bis auf den Boden und wollte sich rückwärts entfernen, als Balsamo ihn zurückhielt.

»Was ist Morgens Gewohnheit im Schlosse?« fragte dieser.

»Herr von Taverney bleibt lange im Bette liegen, mein Herr, doch Fräulein Andrée steht frühzeitig auf.«

»Um wie viel Uhr?«

»Gegen sechs Uhr.«

»Wer schläft über diesem Zimmer?«

»Ich, mein Herr.«

»Und unter demselben?«

»Niemand. Unter diesem Zimmer ist die Hausflur.«

»Gut, ich danke, mein Freund,«

»Gute Nacht, mein Herr,«

»Gute Nacht; wacht darüber, daß mein Wagen in Sicherheit ist.«

»Oh! seien Sie unbesorgt.«

»Solltet Ihr Lärm hören oder Licht erblicken, so erschreckt nicht darüber. Der Wagen wird von einem alten, kraftlosen Diener bewohnt, den ich mitführe. Empfehlt Herrn Gilbert, ihn nicht zu stören; ich bitte, sagt ihm auch, er möge sich morgen früh nicht entfernen, ehe ich ihn gesprochen habe. Werdet Ihr dieses Alles wohl behalten, mein Freund?«

»Oh! ja, gewiß. Doch sollte uns der Herr so bald verlassen?«

»Je nachdem,« sprach Balsamo mit einem Lächeln. »Ich würde wohl daran thun, mich morgen Abend in Bar-le-Duc einzufinden.«

La Brie stieß einen Seufzer der Resignation aus, warf einen letzten Blick auf das Bett und näherte die Kerze dem Herde, um dem großen, feuchten Zimmer, in Ermanglung von Holz, durch das Verbrennen alter Papiere etwas Wärme zu geben.

Doch Balsamo hielt ihn zurück

»Nein,« sagte er, »laßt alle diese alten Zeitungen, wo sie sind; wenn ich nicht schlafe, werde ich mich damit ergötzen, daß ich sie lese.«

La Brie verbeugte sich und ging hinaus.

Balsamo näherte sich der Thüre und horchte auf die Tritte des alten Dieners, welche die Treppe krachen machten. Bald erschollen diese Tritte über seinem Kopfe; La Brie war in seine Stube zurückgekehrt.

Dann ging der Baron an das Fenster.

Seinem Fenster gegenüber, im andern Flügel des Pavillon, war eine Mansarde mit schlecht geschlossenen Vorhängen beleuchtet. Es war die von Legay. Die Zofe legte langsam ihr Kleid und ihr Halstuch ab. Wiederholt öffnete sie das Fenster und neigte sich in den Hof, um hinauszusehen.

Balsamo betrachtete sie mit einer Aufmerksamkeit, die er ihr ohne Zweifel bei dem Abendbrod nicht hatte zugestehen wollen.

»Seltsame Aehnlichkeit,« murmelte er.

In diesem Augenblick erlosch das Licht der Mansarde, obgleich die Bewohnerin derselben noch nicht zu Bette gegangen war. Balsamo blieb auf die Mauer gelehnt.

Das Klavier erklang immer noch.

Der Baron schien zu horchen, ob sich kein anderes Geräusch mit dem des Instrumentes vermische  . . . Als er sich überzeugt hatte, daß die Harmonie allein unter dem allgemeinen Stillschweigen wachte, öffnete er wieder seine Thüre, welche La Brie geschlossen hatte, stieg behutsam die Treppe hinab und machte sachte die Thüre des Salon auf, welche sich geräuschlos auf ihren Angeln drehte.

Andrée hörte nichts.

Sie ließ ihre schönen, mattweißen Hände auf dem vergelbten Elfenbein hingehen; ihr gegenüber befand sich ein Spiegel in einem geschnitzten Parquet, dessen geschuppte Vergoldung unter einer Lage grauer Farbe verschwanden war.

Die Melodie, welche Andrée spielte, hatte einen schwermüthigen Ausdruck. Uebrigens waren es mehr einfache Accorde, als eine Melodie. Sie improvisirte ohne Zweifel und wiederholte auf dem Klavier die Erinnerungen ihres Geistes oder die Träume ihrer Einbildungskraft. Ihr durch den Aufenthalt in Taverney so traurig gestimmter Geist verließ vielleicht für den Augenblick das Schloß, um sich in den ganz mit lustigen Kostschülerinnen bevölkerten ungeheuren, schattigen Gärten des Annonciaden-Klosters von Nancy zu verirren. Wo er auch für den Augenblick sein mochte, ihr umherschweifender, halb verschleierter Blick verlor sich in dem vor ihr angebrachten düsteren Spiegel, der die Finsterniß wiedergab, die in diesem großen Zimmer das Licht der auf dem Klaviere stehenden, einzigen Kerze, welche die Tonkünstlerin beleuchtete, nicht zu zerstreuen vermochte.

Zuweilen hielt sie plötzlich an, dann erinnerte sie sich der seltsamen Vision des Abends und der unbekannten Eindrücke in Folge davon. Denn ehe ihr Geist etwas in dieser Hinsicht genau ermittelt und festgestellt, hatte ihr Herz geschlagen, hatte ein Schauer ihre Glieder durchlaufen. Sie bebte, als ob sie, obgleich in diesem Augenblick vereinzelt, die Berührung eines belebten Wesens gestreift und durch dieses Streifen in Unruhe versetzt hätte.

Plötzlich, während sie sich von diesen seltsamen Eindrücken Rechenschaft zu geben suchte, fühlte sie dieselben abermals. Ihre ganze Person schauerte, als würde sie von einem elektrischen Schlage berührt. Ihre Blicke bekamen Bestimmtheit, ihr Geist stellte sich gleichsam fest, und sie sah etwas wie eine Bewegung im Spiegel.

Es war die Thüre des Salon, die sich geräuschlos öffnete.

Hinter dieser Thüre erschien ein Schatten.

Andrée bebte, ihre Finger verirrten sich auf den Tasten.

Nichts war indessen natürlicher, als diese Erscheinung.

Konnte der Schatten, der sich, noch in die Finsterniß getaucht, unmöglich erkennen ließ, nicht der von Herrn von Taverney, oder der von Nicole sein? Hatte nicht La Brie, ehe er sich schlafen legte, wegen irgend eines Geschäftes in den Zimmern umherzugehen und in den Salon einzutreten? Das kam häufig bei ihm vor, und bei solchen Runden machte der bescheidene, treue Diener nie Lärmen.

Doch das Mädchen sah mit den Augen der Seele, daß es weder die eine, noch die andere der drei Personen war.

Der Schatten näherte sich mit lautlosem Tritte und machte sich in der Finsternis immer mehr unterscheidbar. Als er in dem Kreise anlangte, den das Licht umfaßte, erkannte Andrée den mit seinem bleichen Gesichte und seinem schwarzen Sammetrocke so beängstigenden Fremden.

Er hatte ohne Zweifel aus einem geheimnißvollen Beweggrunde das seidene Kleid, das er trug, abgelegt.6

Sie wollte sich umwenden, schreien.

Doch Balsamo streckte seine Arme aus, und sie rührte sich nicht.

Sie sprach mit einer Anstrengung:

»Mein Herr, mein Herr! im Namen des Himmels, was wollen Sie?«

Balsamo lächelte, der Spiegel wiederholte diesen Ausdruck seiner Physiognomie, und Andrée zog ihn gierig ein.

Doch er antwortete nicht.

Andrée versuchte es noch einmal, sich zu erheben, aber es gelang ihr nicht; eine unüberwindliche Kraft, eine Erstarrung, welche nicht ohne Reiz war, fesselten sie an ihren Stuhl, während ihr Blick gleichsam auf den magischen Spiegel genietet blieb.

Die neue Empfindung erschreckte sie, denn sie fühlte sich gänzlich in die Gewalt dieses Menschen gegeben, und dieser Mensch war ein Unbekannter.

Sie machte eine übermenschliche Anstrengung und wollte um Hülfe rufen; ihr Mund öffnete sich; aber Balsamo streckte seine beiden Hände über dem Haupte des jungen Mädchens aus, und kein Ton kam aus diesem Munde hervor.

Andrée blieb stumm; ihre Brust füllte sich mit einer gewissen wunderbaren Wärme, welche langsam bis zu ihrem Gehirne aufstieg und sich wie ein Dunst mit bewältigenden Wirbeln entrollte.

Das Mädchen hatte weder mehr Kraft, noch Willen; es ließ seinen Kopf auf seine Schulter zurückfallen.

In diesem Augenblick kam es Balsamo vor, als hörte er ein leichtes Geräusch in der Gegend des Fensters; er wandte sich rasch um und glaubte außerhalb das Gesicht eines Menschen sich von der Scheibe entfernen zu sehen.

Balsamo runzelte die Stirne, und sonderbarer Weise schien derselbe Eindruck sich auf dem Antlitz des Mädchens wiederzugeben.

Dann wandte er sich abermals gegen Andrée, senkte seine beiden Hände, die er beständig über ihrem Haupte gehalten hatte, erhob sie wieder mit einer salbungsreichen Geberde, senkte sie auf’s Neue, häufte einige Secunden lang fortwährend niederdrückende electrische Säulen auf das Mädchen und sprach:

»Schlafen Sie.«

Als sie sich noch unter diesem Zauber sträubte, wiederholte er mit dem Tone der Herrschaft:

»Schlafen Sie! schlafen Sie, ich will es haben.«

Von da an wich Alles diesem mächtigen Willen. Andrée stützte den Ellbogen auf das Klavier, legte den Kopf auf ihre Hand und entschlummerte.

Dann ging Balsamo rückwärts hinaus, zog die Thüre an sich, und man konnte ihn die Treppe hinaufsteigen und in sein Zimmer zurückkehren hören.

Sobald die Thüre des Salon sich hinter ihm geschlossen hatte, erschien das Gesicht, das Balsamo zu sehen geglaubt, wieder an den Scheiben.

Es war das Gesicht von Gilbert.

VIII.
Anziehungskraft

Durch seine untergeordnete Stellung im Schlosse Taverney aus dem Salon ausgeschlossen, hatte Gilbert den ganzen Abend die Personen, denen ihr Rang sich darin zu bewegen gestattete, beobachtet.

Während des Abendbrods sah er Balsamo lächeln und sich geberden. Er gewahrte die Aufmerksamkeit, mit der ihn Andrée beehrte, die unerhörte Freundlichkeit des Barons gegen ihn, den ehrfurchtsvollen Eifer von La Brie.

Später, als man vom Tische aufstand, verbarg er sich in einem von den Gesträuchen, welche in der Nähe des Schlosses spanischer Flieder und Schneeballen bildeten, aus Furcht, Nicole könnte ihn, wenn sie die Läden schlöße oder in ihr Zimmer zurückkehrte, bemerken und in seiner Nachforschung, oder vielmehr in seiner Späherei stören.

Nicole machte wirklich ihre Runde, doch sie mußte einen von den Läden des Salon offen lassen, weil die halb losen Scharniere demselben sich nicht auf seinen Angeln zu drehen gestatteten.

Gilbert kannte diesen Umstand ganz wohl, und verließ auch, wie wir gesehen, seinen Posten nicht, sicher, daß er seine Beobachtungen, wenn Legay weggegangen war, fortsetzen konnte.

Beobachtungen haben wir gesagt; dieses Wort wird dem Leser vielleicht unbestimmt vorkommen. Welche Beobachtungen konnte Gilbert anstellen? Kannte er nicht das Schloß Taverney in allen seinen Einzelnheiten, da er hier erzogen worden war; die Personen, die es bewohnten, unter allen ihren Seiten, da er sie seit siebenzehn bis achtzehn Jahren jeden Tag sah?

An diesem Abend hatte Gilbert andere Absichten, als zu beobachten; er lauerte nicht nur, er wartete. Als Nicole den Salon, in welchem Andrée zurückblieb, verlassen, als sie, nachdem sie langsam und nachlässig die Thüren und Fenster geschlossen, auf dem Rasenstücke, wie es schien in Erwartung von irgend Jemand, umhergegangen war, als sie nach allen Seiten verstohlene Blicke geworfen, als sie endlich das gethan, was Gilbert gethan hatte und noch ferner thun wollte, entschloß sie sich zum Rückzuge und ging in ihr Zimmer.

 

Unbeweglich an den Stamm eines halbgebogenen Baumes angelehnt, kaum athmend, hatte Gilbert, wie man leicht begreift, keine von den Geberden von Nicole verloren; als sie verschwunden war, als er sah, wie sich das Fenster der Mansarden beleuchtete, durchschritt er den leeren Raum auf den Fußspitzen, gelangte zum Fenster, kauerte sich hier im Schatten, wartete, vielleicht ohne zu wissen, auf was er wartete, und verschlang dabei Andrée, welche nachläßig an ihrem Klavier saß, mit den Augen.

In dieser Minute geschah es, daß Joseph Balsamo in den Salon eintrat.

Gilbert bebte, als er ihn gewahrte, und sein glühender Blick drängte sich auf den zwei Personen der von uns erzählten Scene zusammen.

Er glaubte zu sehen, daß Balsamo Andrée Complimente über ihr Talent machte, daß diese ihm mit ihrer gewöhnlichen Kälte antwortete, daß er mit einem Lächeln auf seinen Artigkeiten beharrte, und daß sie ihr Studium unterbrach, um ihrem Gast zu antworten und ihn zu verabschieden. Er bewunderte die Anmuth, mit der sich dieser zurückzog. Von der ganzen Scene, die er zu begreifen geglaubt, hatte er durchaus nichts begriffen, denn die Wirklichkeit dieser Scene war das Stillschweigen.

Gilbert hatte nichts hören können, er hatte nur Lippen sich rühren und Arme sich bewegen sehen. Wie hatte er, ein so guter Beobachter er auch war, ein Geheimniß da erkennen sollen, wo Alles scheinbar so natürlich zuging?

Als Balsamo sich entfernt hatte, verharrte Gilbert nicht mehr in Beobachtung, sondern in Betrachtung vor Andrée, die so schön war in ihrer nachläßigen Haltung; bald aber bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß sie schlief. Er blieb noch einige Minuten in derselben Stellung, um sich bestimmt zu versichern, daß ihre Unbeweglichkeit Schlaf war. Sobald er sich überzeugt hatte, erhob er sich, seinen Kopf in seinen beiden Händen haltend, wie ein Mensch, der befürchtet, seine Hirnschale könnte unter der Woge der zufließenden Gedanken zerspringen; dann in einem Augenblicke des Willens, der einem Ausbruche der Wuth glich, sprach er:

»Oh! ihre Hand, nur meine Lippen ihrer Hand nähern; vorwärts, Gilbert, ich will es!«

Und als er so gesprochen, stürzte er, sich selbst gehorchend, in das Vorzimmer und erreichte die Thüre des Salon, die sich geräuschlos für ihn öffnete, wie sie sich für Balsamo geöffnet hatte.

Doch kaum war diese Thüre offen, kaum befand er sich dem Mädchen gegenüber, ohne daß ihn irgend Etwas mehr von derselben trennte, als er das ganze Gewicht der Handlung begriff, die er begehen wollte; er, Gilbert, der Sohn eines Meiers und einer Bäuerin, er, der schüchterne, wenn nicht ehrfurchtsvolle junge Mensch, der es kaum gewagt, aus seiner Dunkelheit die Augen zu dem stolzen, hochmüthigen Fräulein aufzuschlagen, er wollte mit seinen Lippen den Saum des Kleides, oder die Spitze der Finger dieser entschlummerten Majestät berühren, die ihn erwachend mit ihrem Blicke niederschmettern konnte! Bei diesem Gedanken zerstreuten sich alle die Wolken des Rausches, die seinen Geist verwirrt und sein Hirn verkehrt hatten. Er blieb stehen und hielt sich am Thürgesimse, denn seine Beine zitterten dergestalt, daß es ihm vorkam, als müßte er fallen.

Doch das Nachsinnen oder der Schlaf von Andrée war so tief, (Gilbert wußte noch nicht genau, ob sie schlief oder nachsann), daß sie nicht die geringste Bewegung machte, obgleich sie die Schläge des Herzens von Gilbert, die dieser vergebens in seiner Brust zurückzudrängen suchte, hätte hören können. Sanft auf ihre Hand gestützt, war sie mit ihren langen, ungepuderten Haaren, welche zerstreut auf ihren Hals und ihre Schultern herabfielen, so schön, daß die durch den Schrecken gedämpfte, aber nicht erloschene Flamme wieder erwachte. Ein neuer Schwindel erfaßte ihn; es war wie ein berauschender Wahnsinn; es war wie ein verzehrendes Bedürfniß, irgend Etwas zu berühren, was wiederum sie berührte; er machte abermals einen Schritt gegen sie.

Der Boden krachte unter seinem unsichern Fuße; bei diesem Geräusch perlte ein kalter Schweiß auf der Stirne des jungen Mannes, doch Andrée schien ihn nicht gehört zu haben.

»Sie schläft,« murmelte Gilbert. »Welch ein Glück! sie schläft.«

Doch nach drei Schritten blieb Gilbert abermals stehen; es schien ihn etwas zu erschrecken; dies war der ungewöhnliche Glanz der Lampe, welche, dem Erlöschen nahe, ihren letzten blitzartigen, der Finsterniß vorhergehenden Schimmer von sich gab.

Außerdem kein Geräusch, kein Hauch im ganzen Hause; der alte La Brie hatte sich niedergelegt und schlief ohne Zweifel. Das Licht von Nicole war erloschen.

»Vorwärts,« sagte er.

Und er schritt abermals weiter.

Seltsamer Weise krachte der Boden wieder und Andrée rührte sich ebenso wenig, als zuvor.

Gilbert staunte über diesen sonderbaren Schlaf.

»Sie schläft,« wiederholte er mit der Beweglichkeit des Gedankens, welche zwanzigmal in einer Minute den Entschluß eines Liebenden oder eines Feigen wanken macht. (Jeder wird feig, der nicht mehr Herr seines Herzens ist). »Sie schläft, o mein Gott! mein Gott!«

Doch mitten unter diesen fieberhaften Schwankungen zwischen Furcht und Hoffnung ging Gilbert immer weiter und fand sich am Ende nur noch zwei Schritte von Andrée entfernt. Von da an war es wie ein Zauber, die Flucht wäre ihm unmöglich gewesen, hätte er fliehen wollen; einmal in den Anziehungskreis getreten, dessen Mittelpunkt das Mädchen war, fühlte er sich gebunden, geknebelt, besiegt und sank auf seine Kniee.

Andrée blieb unbeweglich, stumm; man hätte glauben sollen, es wäre eine Bildsäule. Gilbert faßte den Saum ihres Kleides mit beiden Händen und küßte ihn.

Dann erhob er das Haupt langsam, ohne Athem, mit einer gleichmäßigen Bewegung; seine Augen suchten die Augen von Andrée.

Sie waren weit geöffnet, und dennoch sah Andrée nicht.

Gilbert wußte nicht, was er denken sollte, er war wie vernichtet unter dem Gewichte des Erstaunens. Einen Augenblick hatte er den furchtbaren Gedanken, sie sei todt. Um sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, wagte er es, ihre Hand zu ergreifen; sie war lau und die Pulsader schlug sachte. Doch die Hand von Andrée blieb unbeweglich in der Hand von Gilbert. Ohne Zweifel berauscht durch diesen wollüstigen Druck, bildete sich Gilbert ein, Andrée sehe, sie fühle, sie habe seine wahnsinnige Liebe errathen; mit seinem armen, geblendeten Herzen glaubte er, sie habe seinen Besuch erwartet, ihr Stillschweigen sei Einwilligung, ihre Unbeweglichkeit eine Gunst.

Da erhob er die Hand von Andrée bis zu seinen Lippen und drückte einen langen, fieberhaften Kuß darauf.

Plötzlich schauerte Andrée und Gilbert fühlte, daß sie ihn zurückstieß.

»Oh! ich bin verloren,« murmelte er, während er die Hand des Mädchens losließ und mit seiner Stirne auf den Boden stieß.

Andrée erhob sich, als ob sie eine Feder auf die Füße gestellt hätte, ihre Augen senkten sich nicht einmal auf den Boden, wo Gilbert halb niedergeschmettert vor Scham und Schrecken lag, Gilbert, der nicht mehr die Kraft hatte, eine Verzeihung zu erflehen, auf die er nicht rechnete.

Aber den Kopf hoch, den Hals gestreckt, als würde sie durch eine geheime Gewalt zu einem unsichtbaren Ziele fortgezogen, streifte Andrée die Schulter von Gilbert, ging vorbei und fing an mit einem gezwungenen, mühsamen Gange nach der Thüre zuzuschreiten.

Als Gilbert fühlte, daß sie sich entfernte, erhob er sich auf eine Hand, wandte sich langsam um und folgte ihr mit einem erstaunten Blicke.

Andrée setzte ihren Weg nach der Thüre fort, öffnete sie, durchschritt das Vorzimmer und gelangte an den Fuß der Treppe,

Bleich und voll Angst schleppte sich ihr Gilbert auf den Knieen nach.

»Oh!« dachte er, »sie ist sehr entrüstet, daß sie sich nicht einmal herabgelassen hat, mir einen Vorwurf zu machen; sie wird den Baron aufsuchen, sie wird ihm meine schmähliche Thorheit erzählen, und man wird mich wie einen Lackei fortjagen,«

Der Kopf des jungen Mannes verwirrte sich bei dem Gedanken, er würde Taverney verlassen, er würde aufhören, diejenige zu sehen, welche sein Licht, sein Leben, seine Seele war. Die Verzweiflung verlieh ihm Muth, er erhob sich wieder auf seine Füße und lief Andrée nach.

»Oh! Verzeihung, mein Fräulein, im Namen des Himmels, Verzeihung!« murmelte er.

Andrée schien nicht gehört zu haben; aber sie ging weiter und trat nicht bei ihrem Vater ein.

Gilbert athmete.

Andrée setzte den Fuß auf die erste Stufe der Treppe und dann auf die zweite.

»Oh! mein Gott! mein Gott!« murmelte Gilbert, »wohin kann sie denn gehen? diese Treppe führt nur zu dem rothen Zimmer, das der Fremde bewohnt, und zu der Mansarde von La Brie. Gälte es La Brie, so würde sie rufen, läuten. Sie ginge also  . . . Oh! das ist unmöglich!«

6Bekanntlich ist die Seide eine schlechte Leiterin und stößt die Electricät zurück. Es ist beinahe unmöglich, eine Person, welche Seide an sich trägt, zu magnetisiren.