Nur ein Wunder ist genug

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Nur ein Wunder ist genug
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Winfried Paarmann

Nur ein Wunder ist genug

Die Geschichte einer Entführung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Reisevideo

Tag X

Der gebändigte Puma

Dozent A.D.

Patricia

Das weiße „Teufelspulver“

Der bekiffte Keyboardspieler

Der Gerichtstermin

Die „Cellowaldfee“

Die Gartenparty

Die rumänischen Freunde

Der unumkehrbare Beschluss

Der Autotausch

Fahrt nach Fâgâras

Der Weg zu den Gräbern

Die aufgebrochenen Särge

Der schützende Teppich

Der Junge Alexandru

Mit roher Gewalt

Flucht

Der Viehtransporter

Schokoladeneier aus der Luft

Das ganz natürliche Wunder

Impressum

Das Reisevideo

Lukas hatte sich unter die Gäste gemischt, die die Gartenparty für eine halbe Stunde unterbrachen, um im großen Empfangsraum der Villa ein Reisevideo anzuschauen. Ein älteres Ehepaar hatte es von einer kürzlich unternommenen Autofahrt durch Osteuropa mitgebracht. Der „Eiserne Vorhang“ war vor wenigen Jahren gefallen, es ging durch Ungarn, durch das nördliche Jugoslawien, dann durch Rumänien.

Der Film näherte sich dem Marktplatz einer rumänischen Kleinstadt, man sah einen Dorfbrunnen und davor einen Feuerschlucker, der kurz darauf mit bunten Ringen jonglierte, die Kamera wanderte zu einer alten Kirche, dann zurück auf den Marktplatz, vor einem Marktstand mit aufgehängten Blusen, Seidentüchern und Schuhen streifte sie zwei Kindergesichter, das eines dunkelhaarigen Jungen, etwa zehn Jahre alt, das eines dunkelblonden Mädchens, etwa zwei Jahre jünger.

Lukas riss es von seinem Stuhl, wie elektrisiert. „Halt! Halt!

Noch einmal zurück - die Stelle von eben!“

Er sprang zu dem älteren Ehepaar, das den Ablauf des Films über den Videoprojektor überwachte. Der Film lief zurück.

Wieder der Markplatz, die Kindergesichter.

Anhalten! Anhalten!“ rief Lukas. Er trat ganz nah an die Leinwand.

Er stammelte. „Sie sind es. Meine Kinder.

Sie sind es…

Dieser Marktplatz – wo ist es gewesen? Wie ist der Name der Stadt?“

Weder der Mann noch die Frau konnten ihm eine sichere Antwort geben. Es war ein kurzer Zwischenstopp auf ihrer Reise zwischen Brasov und den südlichen Karpaten. Doch sie versprachen, es herauszufinden.

Lukas blickte sich entschuldigend zu den versammelten Zuschauern um. „Ich habe an ihren Särgen gestanden. Jetzt vor eineinhalb Jahren…“, murmelte er.

Dies war geschehen:

Seine rumänische Frau war ohne sein Wissen mit dem Auto nach Rumänien aufgebrochen. Er selbst befand sich zu einer einwöchigen Gastdozentur in Kanada. Nie hätte er zu dieser Reise sein Einverständnis gegeben, schon gar nicht wenn sie diese Reise mit den Kindern allein unternahm. Doch ihre Sehnsucht, ihre Eltern in Rumänien wiederzusehen, vor allem den kranken Vater, war zuletzt unwiderstehlich geworden.

Er telefonierte täglich mit ihr, auch während sie schon auf Reisen war. Sie verriet es mit keinem Wort.

Dann blieben alle Versuche, sie zu erreichen, vergeblich.

Er telefonierte mit den Nachbarn. Die sagten, sie sei vor drei Tagen mit den Kindern im Auto aufgebrochen und seitdem nicht zurückgekehrt.

Es befiel ihn eine erste dunkle Ahnung.

Er versuchte, eine telefonische Verbindung in das rumänische Fâgâras zu den Eltern Catalinas, seiner Frau, herzustellen. Auch dies vergeblich.

Schließlich setzte er sich in den Flieger und kehrte nach Deutschland zurück. Er lieh sich das Auto eines befreundeten Kollegen aus und fuhr nach Rumänien.

Die Mutter Catalinas begrüßte ihn weinend.

Der tödliche Unfall lag bereits vier Tage zurück.

Die Särge der Kinder waren schon zugenagelt. Seine tote Frau konnte er noch einmal im Sarg liegen sehen.

Vor neun Jahren war sie vor ihrem prügelnden Ehemann mit ihrem damals einjährigen Sohn nach Deutschland geflohen.

Lukas hatte sie als Angestellte eines Hotels in Rumänien kennen gelernt. Es war „Liebe auf den ersten Blick“, wie man es nennt, auf beiden Seiten, doch jede Umarmung oder gar ein Kuss waren für die verheiratete Frau tabu.

Jetzt stand sie mit ihrem Sohn Alexandru bei ihm vor der Tür.

Lukas schloss sie sofort heftig in die Arme.

Ein Jahr nach der Hochzeit wurde die Tochter Adina geboren.

Es folgten glückliche Jahre. Keinen Tag davon hätte er hergeben wollen.

Dieser tödliche Unfall riss ihn in einen Strudel bodenloser Verzweiflung.

Zuletzt betäubte er den maßlosen Schmerz und die wachsende Leere mit kleinen Dosen Cannabis, bis die Rationen doch bald größere wurden.

Einmal, dann ein zweites Mal stand er leicht benommen und etwas lallend vor der Gruppe der versammelten Studenten seines Seminars. Er hatte jede Selbsteinschätzung verloren.

Sein Zustand war offensichtlich. Für einen Dozenten mit Vorbildfunktion ein unverzeihlicher Fehltritt. Es folgte die Suspendierung.

Nochmals ein Sturz ins Bodenlose.

Und eine Gerichtsverhandlung stand an.

Er, von dem man über alle Jahre seines bisherigen Lebens hätte sagen können, er sei „in einer Glückshaut geboren“ – attraktiv, schlank, dynamisch, verwöhnt von Erfolg - war endgültig ein gebrochener Mann.

Er hatte am Sarg seiner toten Frau und an den Särgen seiner toten Kinder gestanden und für immer Abschied von ihnen genommen.

Und jetzt geschah etwas, das ihn wie mit der Wucht eines Blitzes traf, der ihn innerlich fast versengte.

Seine Kinder lebten.

Irgendwo in Rumänien.

Was war geschehen?

Der Unfall ein inszeniertes Manöver?

Hatte der damals verlassene rumänische Ehemann grausam Rache genommen?

Der Tod Catalinas ein Mord?

Er musste aufbrechen. Aufbrechen in ein fremdes Land, in dem ein altes Clandenken und das Denken in archaischen Ehrbegriffen noch weit verbreitet waren.

Sein Leben sollte sich von diesem Moment an für immer verändern.

x x x x

Ich, der ich Lukas schon seit meiner Studienzeit zu meinen besten Freunden zähle, berichte es Schritt für Schritt.

Tag X

Lukas hatte endlich die Tabletten zusammen, die den friedlichen endgültigen Schlaf herbeiführen konnten.

Er trat hinaus auf den Balkon, es war Mitte Mai, die Luft vibrierte von Vogelstimmen, die parkenden Autos spiegelten im Licht der Frühlingssonne, die von einem klaren Himmel herabfunkelte, für Lukas doch blieb alles ohne Glanz. Nichts berührte ihn mehr. Die maßlose Trauer, die jetzt über Monate dauerte, hatte ihn von Innen zerfressen. Sein Entschluss stand fest.

Er kehrte in die Wohnung zurück, durchwanderte noch einmal die Zimmer: das Kinderzimmer mit den bunt bemalten Laken an den Wänden, den aufgehängten Kasperlepuppen, den zwei schmalen Betten mit dem Tigerentenüberzug am Fenster; das Zimmer seiner Frau mit dem Flügelspiegel und dem Frisiertischchen, der Vitrine, in der Vasen, Steine und Muscheln gesammelt waren. Schließlich suchte er wieder sein Wohnzimmer auf, wo er seit Monaten auf einer Matratze hauste und ein verwahrloster Schreibtisch mit ungeöffneten Papieren stand.

 

Alles was sein Interesse hier noch einmal anziehen konnte, war die Wand mit den Fotos. Sie standen auf einem schmalen Brett über den zwei übereinander montierten Synthesizern. Auf diesen Instrumenten hatte er, oben und unten zugleich spielend und improvisierend, häufig ein ganzes Orchester zum Klingen gebracht, Geigen, Oboen, Trommeln, Trompeten und Triangeln. Nicht einmal das reizte ihn noch in den letzten Wochen.

Das eine der Fotos zeigte eine junge dunkelhaarige auffallend schöne Frau, lachend an seiner Seite. Auf einem zweiten Foto blickte sie ernst, was ihre Schönheit fast noch mehr hervorstechen ließ. Das dritte Foto zeigte zwei lachende Kinder, einen Jungen, ein Mädchen, der Junge acht Jahre alt, das Mädchen sechs.

Er hatte alles gut vorbereitet. Das Wasserglas, in dem er die Tabletten gelöst hatte, stand auf dem kleinen Nachttischschrank neben seiner Schlafmatratze. Er musste es jetzt nur trinken, sich dann nach hinten lehnen und er würde nichts spüren, als dass er friedlich einzuschlafen begann.

In diesem Moment läutete das Netztelefon auf dem Schreibtisch.

Es läutete vier- fünf Mal.

Lukas biss in Abwehr die Zähne zusammen. Niemand durfte es wagen, ihn in diesem Moment noch einmal zu stören.

Endlich war Stille. Er griff nach dem Glas.

Da setzte das Läuten wieder ein. Dieser Anrufer war hartnäckig.

Es läutete viermal, fünfmal, ein sechstes Mal.

Lukas stellte das Glas zurück und sprang auf. Dabei verfing er sich in der Schnur der Lampe auf seinem Nachttischschrank, die stürzte und damit rollte auch das Glas, es wanderte an den Rand des Schränkchens, jetzt schlug es klirrend am Boden auf.

Durch Lukas fuhr ein wilder heftiger Fluch. Im selben Moment nahm er den Hörer ab.

„Hallo?“

„Lukas am Apparat?“

Es sprach eine markante Männerstimme, die Vitalität und gute Laune spüren ließ.

„Wen bitte spreche ich?“

„Lukas – altes Haus! Ich erkenne dich doch, deine Stimme.

Wie geht’s dir?“

„Wer bitte ist dort?“

„Keine Ahnung?“

Der Mann stimmte den Beatlesong „Yesterday“ an.

„Noch eine Hilfe: Baseballkappe mit blauen Strei-fen... Dämmert was?“

„Gerd -?“

Der alte Schulfreund. Auch Lukas erkannte jetzt klar die Stimme.

Gerd antwortete mit dem Unterton des Strahlemanns: „Richtig - Gerd! Volle Punktzahl für den Kandidaten! Deinen Spickzettel, den du mir bei der Abi- Klausur in Bio hast rüberwandern lassen, besitze ich noch. Hat einen Ehrenplatz in einer Schublade.“ Er lachte heftig. „Wie geht’s dir, altes Haus?“

Lukas musste sich sammeln. Nichts konnte er als so störend und deplaziert empfinden wie diesen Anruf von Gerd. Und dieser betrachtete ihn offenbar noch immer als Freund, obwohl sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten.

„Bin für zwei Tage hier in der Stadt,“ sagte Gerd. „Aus meinem Notebook sprang mir eben deine Adresse und deine Telefonnummer entgegen…“

Eine Stille.

Gerd sprach jetzt mit etwas gedämpfter Stimme: „Sag mal – hattest du da eben geflucht? Gerade als du den Hörer abgehoben hattest…“

„Möglich.

Ein kleines Malheur. Etwas ist umgestürzt.“

Er blickte erneut nach dem Glas. Scherben, zahllose kleinere Splitter. Die Flüssigkeit war als große Pfütze über den Boden verteilt, der größere Teil über den an die Matratze angrenzenden beigefarbenen Teppich, der ihn längst aufzusaugen begann.

„Mein Anruf war schuld?“

„War er.

Nicht mehr zu ändern.

Also, zwei Tage bist du hier in der Stadt...“

„Bis morgen Mittag.

Wie wär’s? Hast Zeit für mich heute Abend?“

„Heute Abend?“

„Schon anders verplant?

Bin im Adlon.

Kannst einfach herkommen.

Eine schnieke Hotelbar. Ich lade dich ein.“

„Im Adlon?“ Das Nobelhotel. Das klang nach einer glatten gut gelaufenen Karriere.

Lukas sah ihn vor sich: schon als Schuljunge etwas übergewichtig, ein leicht schwammiges Gesicht, das er wie mit einer Gute-Laune-Aufschrift herumtrug, heitere Laune als Dauereinrichtung.

„Exzellenter Zimmerservice…“ Er schnalzte „und bezaubernd weiblich...“ Er lachte wieder, in dieser etwas übertriebenen rundbäuchigen Art, wie Lukas ihn kannte. „Also, wir sehn uns?“

Schweigen.

Gerd nahm es als Zusage. „Irgendwann nach acht. Habe eben noch ein Geschäftsessen.

Dann aber ist Zeit - für alte Paukergeschichten...“ Wieder lachte er. „Lukas! altes Haus!

Was eigentlich hast du selbst so gemacht in den letzten fünfzehn Jahren?“

Wieder kam keine Antwort.

„Also – das packen wir später aus.

Adlon. Nach acht.“

Gerd sah die Abmachung als geregelt.

„Muss jetzt ins Taxi.

Also: War toll, dich wieder mal so zu sprechen, alter Junge. Bis bald!“

Das Gespräch war beendet.

Lukas starrte auf den Hörer.

Er kroch zum zersplitterten Glas und fuhr mit den Fingern durch die Scherben.

Unglaublich. Dieses so kostbare Nass.

Es hatte Wochen gebraucht, bis er ein solches Getränk herzustellen konnte.

Es würde wieder Wochen kosten, noch einmal genau diese Art wirksamer Tabletten aufzutreiben.

In ihm kämpften maßlose Wut und Ratlosigkeit.

Sollte er das verbliebene Nass vom Boden auflecken? Oder absammeln mit einem Schwamm? Nur ein dummer Gedanke. Der größere Teil war versickert im Teppich.

Es gab andere Arten der Selbsttötung: sich vom Balkon stürzen; mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler rasen; sich die Pulsadern aufschneiden – längst dem Adernverlauf und dabei in der Wanne sitzen und langsam verbluten.

Er hatte sie alle durchgespielt.

Alle hatten sie das Risiko, nicht zum Erfolg zu führen. Und außerdem zu einer lebenslangen Verkrüppelung oder Querschnittslähmung. In allen gab es einen Akt der Gewalt.

Er hatte für sich die Art des friedlichen Einschlafens gewählt. Eine Art der Selbsttötung, die viele als zu leicht und feige betrachteten.

Er trat wieder auf den Balkon.

Die Sonne glitzerte auf den Autodächern wie zuvor. Sie glitzerte auf Häuserdächern und Fensterscheiben. Durch die Luft schwirrten Vogelstimmen. Aus einer offenen Kneipentür schwappte jetzt auch eine Welle heißer rhythmischer Klänge und dazu ein heftiges Lachen.

Die Welt, so schien es, vibrierte in Freude.

Wusste er selbst noch, was Freude war?

x x x x

Zur gleichen Zeit saß in einer kleineren Kirche eine Cellospielerin auf der Empore neben der Orgel und begleitete das Largo aus „Xerxes“ von Händel. Eine Trauung fand statt.

Die dunkelhaarige attraktive Frau musizierte auf ihrem Cello mit sattem Klang. Ein hinreißender Vortrag, eine Vollblutmusikerin.

Die Feier in der Kirche war beendet.

Die junge Cellospielerin trat aus dem Kirchenportal, dort empfing sie ein junger Mann. Beide tauschten einen flüchtigen Kuss.

Der junge Mann hatte einen missmutigen Ausdruck auf dem Gesicht. Er blickte auf die Uhr. „Gleich halb drei.“ Der Vorwurf in seiner Stimme war unüberhörbar.

Die junge Frau zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du hättest hereinkommen können.“

Der junge Mann warf einen abfälligen Blick in Richtung der Kirche. „In diesen Laden -?

Dem Herrn Pfarrer die Hand schütteln...

Ich könnte all diese Kirchen in die Luft sprengen.“ Seine Stimme sparte nicht mit Verächtlichkeit.

„War ein sehr freundlicher älterer Herr,“ sagte sie

„Sind sie alle. Wölfe im Schafspelz,“ sagte der junge Mann

Egal!“ Mit einem Blick auf ihr Cello fügte er an: „Solange sie zahlen.“

Beide liefen zum geparkten Auto. Die junge Frau verstaute ihr Cello auf dem Rücksitz. Plötzlich fand sie etwas auf dem Boden zwischen den Sitzen. Sie hob es auf. Eine angerauchte Zigarette, schmal, selbstgedreht. Sie wusste, womit sie es da zu tun hatte: ein Haschischzigarette.

Nun war sie es, die sichtbar verstimmt reagierte.

Der junge Mann lachte lässig und winkte ab. „Mach kein Drama draus.“

„Hast mir gesagt, das wäre kein Thema mehr.“

„Ein kleiner Joint - dein guter Freund.

Ist doch nur Hasch!“

Sie hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen.

Der junge Mann fuhr los.

Sie kurbelte das Fenster herunter. Die Haschischzigarette flog in hohem Bogen auf die Straße.

Der gebändigte Puma

Lukas ging an den großen Flurschrank. Er holte einen Anzug heraus. Denn noch einen zweiten. Verglich sie. Wählte.

Wenig später stand er im gut sitzenden Anzug vor dem Spiegel.

Er blickte auf die Uhr: Es war sechs.

Er begann seine Haare zu kämmen.

Er rasierte sich.

Wieder trat er vor den Spiegel. Der verwahrloste Typ der letzten Wochen war eine elegante Erscheinung geworden. Er sah sich an. Seine Blicke sagten ihm, dass er sich selbst gefiel.

Er wechselte nochmals die Anzugjacke.

Auch mit diesem Outfit machte er gute Figur.

Lukas drehte sich, besah sich von rechts, von links: Doch – er gefiel sich.

Lukas hatte das Adlon erreicht.

Am Eingang musste er telefonisch bestätigen lassen, dass er eine Einladung hatte, bei einem Gast des Hauses. Gerd wartete bereits seit zehn Minuten.

Als Lukas die Bar betrat, schallten ihm Tangoklänge entgegen.

Am anderen Ende des Raums saßen zwei Musiker: eine junge Frau, die auf einem Cello spielte; ein jüngerer Mann, der ein Keyboard bediente.

Vor allem die dunkelhaarige attraktive Cellospielerin musizierte virtuos, mit hinreißendem Elan – feurige Tangorhythmen.

Lukas weckte ein Ruf von einem der Seitentische. „Lukas!“

Gerd. Fast noch immer das bekannte fröhlich grinsende Jungengesicht mit Igelfrisur. Er erhob sich, in hoch elegantem offenbar maßgeschneidertem dunklem Anzug, dem noch etwas dicker gewordenen Bauch angepasst.

Er drückte Lukas die Hand, schüttelte sie mit demonstrativer Herzlichkeit.

„Wie ist das Verhältnis von roten und weißen Blutkörperchen im Arteriensystem und wie in den Venen?“

Lukas begriff nicht.

„Unser Fragezettel beim Abi, Bio!“

Er lachte.

Beide nahmen Platz.

Gerd machte eine kreisende Fingerbewegung um sein Gesicht. „Noch zu erkennen?“ Er zeigte auf seine Hüften, seinen Bauch. „Etwas gewichtiger bin ich geworden...“

Er musterte Lukas. „Gertenschlank bist du – wie ich dich eben hereinkommen sah.“ In seiner Stimme nistete hörbar ein Stückchen Neid, er musste es wieder abwerten. „Ein bisschen wie nach einer Diät. Auch dein Gesicht. Als ob du zum Vergnügen ein paar Wochen gehungert hättest...“

Er betrachtete diese Bemerkung als Witz, wieder lachte er los.

„Sechzehn Jahre! Jedenfalls leben wir noch.“

Er lachte aufs Neue.

Die Blicke von Lukas schweiften zur Cellospielerin. Auch ihr Cello wippte mit den präzise und hinreißend musizierten Rhythmen. Jetzt merkte er, dass die junge Frau gleichfalls in seine Richtung blickte. Nicht nur einmal, sie blickte erneut. Dann wandte sie sich rasch wieder ihrem Notenblatt zu, ernst, konzentriert.

Gerd reichte ihm die Speisekarte. „Bist eingeladen, wie schon gesagt.

Was mich betrifft: Ich bin eigentlich abgefüllt. Zwei Geschäftstreffen. Zweimal ein kaltes Büffet.

Trotzdem: Dir zuliebe greife ich noch einmal zu.“ Er klopfte sich auf den Bauch. „Schlank werde ich sowieso nicht mehr.“

Lukas studierte die Speisekarte. Diese Preise hatten es in sich, jedes Speiseangebot mit einem Luxusaufschlag. Ihm hätte eine würzige Hühnerbrühe genügt, die suchte er hier freilich vergeblich.

„Ich empfehle den Kaviarsalat,“ sagte Gerd. „Ein Freund und Kollege von mir hat ihn hier vor zwei Wochen gegessen.

 

Also, was hast du die letzten Jahre gemacht, altes Haus?“

Etwas irritierte ihn. Lukas schien nicht in der Laune zu reden.

„Wenn du selbst nicht anfangen willst…“

„Hast Karriere gemacht, wie es aussieht,“ sagte Lukas. Sein erster vollständiger Satz.

„Mein Vater hat mir seine Großfiliale überlassen,“ sagte Gerd. „Hatte praktisch keine andere Wahl, als Karriere zu machen.“

„Welche Sparte?“ fragte Lukas.

„Sport- und Taucherartikel.“ Gerd winkte fast gleichzeitig ab. „Ich hätte ebenso gut Kücheneinrichtungen oder Kräne verkaufen können.

Vom Tauchen verstehe ich nichts. Und Sport -“ Er zeigte wieder auf seinen Bauch. „Nun, etwas Sport könnte ich wahrscheinlich vertragen…

Doch meine Leidenschaft wäre es nicht.“

„Also auch keine Leidenschaft fürs Geschäft?“ fragte Lukas.

„Für meine Sport- und Taucherware?“ Er lachte. „Meine Leidenschaft ist mein Bankkonto...“

Noch immer ließ Lukas sich von seiner guten Laune nicht anstecken. Gerd kräuselte die Stirn. Machte er etwas verkehrt?

„Erzähl endlich du!

Was ist es geworden? Professor für Mathematik? für Naturwissenschaften?

Da warst du immer das Ass.“

Lukas schüttelte den Kopf.

„Könnte auch etwas wie Philosophie oder Germanistik geworden sein. Warst eigentlich in allen Fächern ein Ass. Jedenfalls warst du immer mehr von der Fraktion der Idealisten.“

„Musik,“ sagte Lukas.

„Musik? Kann man davon leben?“

„Schon. Jedenfalls als Dozent.“

„Dozent für Musik?“

Lukas nickte. „Es war meine Leidenschaft - Musik. Stärker als die für Naturwissenschaften und Mathematik.“

Wieder traf sein Blick mit dem der Cellospielerin zusammen. Sie erlaubte sich plötzlich ein flüchtiges Lächeln dabei.

Der Kellner trat an den Tisch.

Gerd bestellte für sie beide einen Aperitif.

Dann den Kaviarsalat. Auch diese Sache sah er bereits als geregelt.

„Also – Musikdozent bist du. Und mit Leidenschaft. Ich erinnere mich jetzt. Du hast im Schulorchester die Posaune gespielt.

Hättest auch eine Karriere als Posaunist machen können?“

„Nein. Es blieb nur ein Hobby.“

„Hochschuldozent, Musik.“ Gerd wiegte den Kopf. „Jedenfalls ein sicherer Posten.“

Die Ungesprächigkeit von Lukas bereitete ihm weiter Unbehagen. Schließlich holte er seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einige Fotos.

Er schob ein erstes davon Lukas zu: zwei kleine Mädchen, beide mit völlig identischen Gesichtern, beide artig lächelnd, beide im gleichen Sommerkleidchen mit brav geknoteten Zöpfen.

„Zwillinge?“ fragte Lukas.

„Eineiig!“

Gerd schob Lukas ein paar weitere Fotos zu – wieder mit seinen Zwillingstöchtern, dann eins mit seiner Frau. Schließlich das Foto einer modernen Villa mit Gartengrundstück. Davor ein parkender BMW.

Die Villa hatte Stil. Lukas nickte anerkennend.

„Selbst gebaut… Also – jedenfalls war es mein Entwurf.

Ja, in mir schlummerte einmal ein Architekt. Habe ihn sträflich verkümmern lassen.

Macht nichts. Man kann nicht alles haben.

Und Du? auch Familie? auch schon eigenes kleines Krabbelvolk?“

Er lachte. Er wartete.

Wieder kam von Lukas keine Antwort.

Machte er etwas verkehrt?

Der Blick von Lukas blieb auf die Tischplatte gesenkt. Schweigen. Gerd sammelte die Fotos wieder ein, zunehmend irritiert.

Plötzlich bewegte sich etwas durch die Tür, schwarz, von der Größe einer ausgewachsenen Bulldogge, es war ein Puma, er zog eine Halsleine hinter sich her, leicht fauchend trabte er auf die Tische zu.

Einige Damen schrien erschreckt auf und zogen die Beine ein.

Der Puma schnüffelte, trottete weiter von Tisch zu Tisch. Jetzt war er beim Musikerduo angelangt. Die zwei unterbrachen ihr Spiel, der junge Mann rückte schützend sein Keyboard in den Weg, die Cellospielerin ihr Cello. Dann flüchtete sie sich gleichfalls hinter das Keyboard. Der Puma stand still, fauchte.

Lukas war aufgestanden. Er ging geradewegs auf den Puma zu.

Er näherte sich von hinten, dann hatte er das Tier am Halsband gegriffen.

Der Puma bemerkte es. Er begann, heftig den Nacken zu schütteln.

Lukas hatte vorgesorgt. Er hatte sich einen Schaschlikspieß von einem der Tische gegriffen. Den streckte er nun dem Puma entgegen.

Der schnappte nach dem Fleisch, sein Widerstand war für Augenblicke gebrochen.

Er fraß. Lukas hielt ihn am Halsband fest.

Einer der Gäste stand auf und brachte einen zweiten Schaschlikspieß.

Das Tier spuckte den ersten Spieß aus. Wieder fraß es, fast eine Minute verging.

Das Fleisch war verzehrt. Lukas wollte den Puma am Halsband mit Vorsicht wieder in Richtung der Tür ziehen. Das missfiel dem Tier allerdings, vor allem, dass es sich noch immer fest im Griff von Lukas befand. Es wollte sich jetzt losreißen, ein regelrechter Kampf setzte ein. Der Puma fauchte zunehmend aggressiv, er versuchte nach Lukas zu schnappen. Doch der blieb völlig kühl, auch wenn es ihn äußerste Anstrengung kostete, er hielt das Tier auf Distanz.

Ein Mann und eine Frau, beide schon etwas betagt, offenbar ein Ehepaar, stürmte durch die Tür. Immer abwechselnd riefen sie: „Geriot! Geriot!“

Die beiden Besitzer des Pumas.

Jetzt hatten sie Lukas und den Puma erreicht, der Mann griff das Halsband und tätschelte sein Tier, auch die Frau war zur Stelle und tätschelte es, der Puma wedelte erfreut mit dem Schwanz, ein friedliches sanftes Geschöpf.

Die Frau wandte sich an die Gäste im Saal, ein bisschen so wie man ein Theaterpublikum begrüßt. „Entschuldigung an Sie alle! Tausendmal Entschuldigung! Ein kurzer unbewachter Augenblick...

Ist jemand zu Schaden gekommen?“

Die Gäste murmelten. Es war ein Gemisch von noch immer rumorendem Schrecken und Erleichterung.

Die Frau machte nochmals Eintracht beschwörende Gesten in Richtung ihres Publikums, dann wandten sie und der Mann sich wieder der Tür zu, den Puma zwischen sich, der jetzt brav an der Leine trottete.

Die Cellospielerin griff wieder ihr Cello und begann es nach zu stimmen.

Lukas flog ein freundliches offenes Lachen entgegen. „Danke,“ sagte sie, als er sich wieder näherte. „Das hätte gefährlich ausgehen können.“

Lukas war wie ausgetauscht. Was eben geschehen war, hatte ihn an den Mann erinnert, der er einmal gewesen war.

„Sie spielen famos,“ sagte er. „Der Tango ist ihre Spezialität?“

„Das würde ich so nicht sagen. An diesem Nachmittag habe ich bei einer Hochzeitsgesellschaft das Largo aus Xerxes von Händel gespielt - falls Sie es kennen.“

„Das Largo von Händel -?“ Lukas begann die Anfangstakte zu singen. Seine Stimme war nicht exzellent, doch es genügte, um die junge Frau zu beeindrucken. Er war ein Kenner.

„Also auch Klassik -?“ fragte Lukas.

„Von Spezialisierungen auf E- oder U-Musik halte ich nichts. Für mich gibt es nur gute und schlechte Musik.

Sie selbst sind Dompteur?“

„Dompteur?“

„Wegen Ihrer eindrucksvollen Raubtiernummer soeben.“ Doch ihre Stimme hatte schon verraten, dass es nicht ernst gemeint war.

„Noch einmal bedanke ich mich.“

„Keine Ursache. Ich sah Ihre virtuosen Finger.

Da sagte ich mir: Besser ich opfere meine Finger stattdessen.“

„Das haben Sie im Ernst gedacht?“ Wieder das offene einnehmende Lachen.

„Also - einer wäre mir diese Rettungsaktion schon

wert gewesen.“

„Was tun Sie sonst - wenn Sie keine Raubtiere bändigen?“

Lukas wiegte den Kopf. „Sagen Sie, was Sie vermuten!“

„Nachdem ich Sie eben so spontan singen hörte....

Es könnte mit Musik zu tun haben.“

„Musik. Gar nicht schlecht.“

„Musik – tatsächlich? Wenn auch nicht gerade ein

Sänger -?“

„Nein, dazu reicht’s nicht.“

Er wartete weiter auf ihre Antwort.

Die junge Frau zuckte jetzt etwas ratlos die Schultern. „Sie hatten es leicht. Sie sahen mich Cello spielen.“

„Hinreißende Tangorhythmen.“

Die junge Frau musterte ihn wieder. „Sie haben auch etwas von einem Lehrer im Gesicht.“

„Das sieht man -?“

„Ich meine nicht diese alte Schule - diesen erhobenen Zeigefinger. Doch sonst...“

Lukas nickte interessiert.

Die Frau nahm es als Bestätigung. „Lehrer?“

Lukas machte eine wiegende Kopfbewegung.

„Musiklehrer?“

Sie wartete die Reaktion von Lukas nicht mehr ab. „Lehrer also,“ sagte sie lachend. „Deshalb dieses Rate- und Abfragespiel.“

Der Keyboardspieler war kurz nach draußen verschwunden. Jetzt kehrte er zurück. Er beobachtete den kleinen Flirt sichtbar mit Unbehagen.

„Anweisung vom Chef: Die Musik muss weiter laufen.“

„Sie hören es - ich muss zurück auf meinen Posten,“ sagte die junge Frau bedauernd.

„Da Sie dieses Largo von Händel erwähnten - Sie haben auch andere öffentliche Auftritte?“

„Nächsten Sonntag bei einer Taufe.“

„Noch etwas genauer - der Ort?“

„Sankt Pauluskirche.

Sie haben Interesse?“

Der junge Mann wurde ungeduldig. „Patricia – die Leute wollen wieder Musik.“

„Sankt Pauluskirche. Sonntag. 11 Uhr.“

Lukas kehrte an den Tisch zu Gerd zurück, während die Musik wieder einsetzte.

Gerd hielt mit seiner Anerkennung nicht zurück. „Perfekt - diese Nummer als Raubtierbändiger...

Und jetzt noch gleich dieser Flirt...“

„Ein Flirt?“

„Nicht zu übersehen.“ Seine Stimme verfärbte sich ins Geheimnisvolle. „Hast ein Rendezvous mit ihr verabredet?

„Ein Rendezvous -?“

„Würde ich tun. Oder gibt’s da eine andere Frau?“

Lukas reagierte kühl, mit einem Kopfschütteln.

„Du hast sie vor der Bestie gerettet. Sie ließ ihren Charme sprühen...

Genau wie du.“

Wieder glitt der Blick von Lukas zu den Musikern. Die junge Frau lächelte. Lukas lächelte zurück.

Gerd machte es Vergnügen, den alten Schulfreund weiter mit Komplimenten zu belagern. „Die Raubtiernummer – das hat ihr schwer imponiert.

Ich habe einen Blick dafür. Wenn Frauen plötzlich mit leuchtenden Augen sprechen…

Also ich würde zuschlagen.“

Für Lukas glitt die Tonlage jetzt unter Niveau. Gerd spürte es. Er klopfte Lukas gegen die Schulter. „Ist nicht so ernst gemeint. Doch ein Rendezvous – ich würde es an deiner Stelle versuchen.

Hör wie sie spielt. Sie spielt nur noch allein für dich.“

Sein Handy klingelte.

Gerd erhob sich und trat zwei Schritte abseits.

Der Kellner brachte die Aperitifs. Der Kaviarsalat sollte in wenigen Minuten folgen.

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